Hongkong, Shenzhen und andere Städte werden enger aneinander angebunden. Das soll die Produktivität erhöhen.
«Lasst den Westwind rein, Reichtum ist ruhmvoll.» Unter diesem Slogan stiess Chinas damaliger Machthaber Deng Xiaoping vor vier Jahrzehnten den wirtschaftlichen Reformprozess an, der in kürzester Zeit aus einem armen Drittweltstaat eine globale Wirtschaftsmacht machen sollte. Kernstück des Programms war das an der Grenze zur damaligen britischen Kronkolonie Hongkong liegende Fischerdorf Shenzhen.
In der dort geschaffenen Sonderwirtschaftszone wurde die Grundlage für den von Exporten und Investitionen angetriebenen Wachstumsboom der folgenden Jahrzehnte gelegt. Allerdings zeigen die rapide steigenden Löhne, die alternde Bevölkerung und jüngst der sich verschärfende Handelsstreit zwischen den USA und China, dass das alte Entwicklungsmodell überholungsbedürftig geworden ist.
Pionier Shenzhen
Wenn es nach dem Willen der heutigen Machthaber geht, soll dieselbe südchinesische Region ein weiteres Mal eine Pionierrolle in der Modernisierung der mittlerweile zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt spielen. Das soll massgeblich dazu beitragen, dass der Privatkonsum zum zukünftigen Wachstumsmotor Chinas wird. Die Voraussetzungen dafür sind in Shenzhen nicht schlecht, ist die Sonderverwaltungszone dank so namhaften IT-Konzernen wie Tencent (Tencent 35.01 -3.98%), Huawei oder DJI doch zum Silicon Valley Chinas geworden. 60% aller internationalen Patenanträge Chinas stammen aus dieser Stadt.
Kernpunkt des Entwicklungsprojekts ist ein massives Urbanisierungsprogramm, das weit über die engeren Grenzen Shenzhens hinausreicht und unter Anlehnung an die Grossräume Tokio oder San Francisco auch Greater Bay Area (GBA) genannt wird. «Die Greater Bay Area ist ein gutes Beispiel dafür, wie das Zusammenbringen von Talent, Kapital und Industrie die Produktivität antreibt und Wettbewerbsvorteile schafft, was wiederum für nachhaltiges Wachstum sorgt», heisst es in einer Studie der HSBC (HSBA 621.7 0.63%).
Ein Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) geht davon aus, dass dank der besseren regionalen Integration die Produktivität jährlich 2 bis 5% gesteigert werden kann. Doch anders als vor vier Jahrzehnten wird im südchinesischen Perlflussdelta jetzt nicht auf der grünen Wiese eine völlig neue Grossstadt gebaut. Vielmehr sollen bestehende Städte schrittweise zu einer 70 Mio. Einwohner zählenden, 56 000 km2 grossen Megametropole zusammengeschlossen werden.
Dazu zählen neben neun zur südchinesischen Provinz Guangdong gehörenden Städten auch die bis heute wirtschaftlich autonomen chinesischen Sonderverwaltungsregionen Hongkong und Macao. Dabei soll aber nicht einfach die Landschaft mit Beton zugepflastert werden. Vielmehr sollen die bestehenden städtischen Ballungsräume verkehrstechnisch besser verbunden werden.
Von 90 auf 14 Minuten
Was das heisst, zeigt der Ende September in Betrieb genommene Hauptbahnhof von Hongkong, von wo aus mit dem neuen Hochgeschwindigkeitszug die chinesische High-Tech-Metropole Shenzhen in nur gerade vierzehn Minuten erreicht werden kann. Bisher dauerte dieselbe Reise inklusive mehrmaligen Umsteigens neunzig Minuten. Es ist vorgesehen, dass bis 2030 das Eisenbahnnetz der Region um mehr als 1800 km verlängert wird.
Damit sollen die Nachteile einer Grossstadt wie verstopfte Strassen und unerschwingliche Immobilienpreise vermieden werden, während Vorteile wie ein besser integrierter Arbeitsmarkt und eine effizientere Lieferkette für ein beschleunigtes Produktivitätswachstum sorgen sollen, heisst es in der OECD-Studie.
Dank der voranschreitenden wirtschaftlichen Integration der Region wird sich nach Schätzung der HSBC der Privatkonsum bis 2025 im Vergleich zu 2017 auf 900 Mrd. $ verdoppeln. Dieses Projekt ist Teil eines grösseren Programms, will Peking doch über ganz China verteilt neunzehn neue Grossstadträume schaffen. Neben der Greater Bay Area wird Schanghai und Peking die grösste Bedeutung zugemessen.
Ob diese Megaprojekte schlussendlich zum Tragen kommen, muss sich indes erst weisen. «Die grosse Herausforderung ist, nicht einfach Wachstum zu schaffen, sondern strukturelle Schwächen wie grosse soziale Ungleichheit, Überkapazitäten und die verbreitete Umweltverschmutzung zu überwinden», heisst es denn auch in einer Wef-Studie.
Die Voraussetzungen für ein Gelingen sind im Perlflussdelta wohl besser als anderswo in China. Immerhin erwirtschaftet die Region mit ihren 70 Mio. Einwohnern mit 1,5 Bio. $ bereits heute ein grösseres Bruttoinlandprodukt (BIP) als Spanien. Schätzungen von Morgan Stanley (MS 46.03 -2.46%) gehen davon aus, dass sich das BIP der Region bis 2030 verdoppeln und damit grösser sein wird als das von Grossbritannien.
Shenzhen und die gesamte Greater Bay Area verfügen dank ihrer wirtschaftlichen Diversität über erhebliche Standortvorteile. So ist Hongkong der wichtigste internationale Finanzplatz in Asien. In Foshan sind weltweit führende Unternehmen der verarbeitenden Industrie angesiedelt. Und nicht zuletzt sorgt Macao mit seinen Casinos für Unterhaltung und Nervenkitzel.
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