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14:11 Uhr - 15.09.2014

Marina Silva: Ideologisch und kompromisslos

Eine Vergiftung, der Kampf gegen Grossgrundbesitzer, ein Todesfall: Der überraschende Aufstieg von Marina Silva zur Spitzenkandidatin im brasilianischen Wahlkampf ist dramatisch wie eine Telenovela.

Der brasilianische Präsidentschaftswahlkampf wirkt derzeit wie eine Telenovela. Wie in einer TV-Abendserie gehören tragische Momente, grosse Gefühle und irrwitzige Plotwechsel dazu: Vor vier Wochen stirbt der 49-jährige Eduardo Campos, einer der drei aussichtsreichsten Kandidaten für den Wahltermin am 5. Oktober, beim Absturz mit seinem Privatflugzeug. Seine Vizekandidatin Marina Silva übernimmt die Führungsposition. In nur zehn Tagen gelingt es Marina, wie die 56-Jährige in Brasilien genannt wird, in den Umfragen vom bisher abgeschlagenen Platz drei an die Spitze aufzusteigen und Präsidentin Dilma Rousseff einzuholen.

Doch damit ist die Novela noch nicht zu Ende. Denn parallel zu Marinas Aufstieg in den Umfragen erlebt die Börse in São Paulo ebenfalls einen unerwarteten Aufschwung. Nach der ersten TV-Debatte der Kandidaten, in der Marina die Präsidentin sowie den bürgerlichen Gegenkandidaten blass aussehen liess, übersprang der Bovespa-Index die psychologisch wichtige Schwelle von 60’000. Seit Marinas Kandidatur hat er 8% zugelegt.

Das ist erstaunlich: Die zweifache Umweltministerin unter Präsident Luís Inácio Lula da Silva war für die Wirtschaft lange Zeit ein rotes Tuch. Im Amt nervte die ideologisch auftretende und kompromisslose Silva die Wirtschaft und das Agrobusiness. Vor allem mit ihrer jetzigen Gegnerin Dilma Rousseff, damals Energieministerin, lieferte sie sich ständige Gefechte. Rousseff würde am liebsten den ganzen Amazonas mit Wasserkraftwerken zupflastern, Marina setzt auf alternative Energien.

Anders als Rousseff hat sich Marina politisch weiterentwickelt und hat inzwischen auch ökonomisch an Profil gewonnen: Sie will eine konservative, liberale Wirtschaftspolitik mit autonomer Zentralbank, Inflationsbekämpfung und ausgeglichenem Haushalt. Trotz der liberalen Thesen macht sich Marina bisher nicht angreifbar: Sie will die sozial progressive Politik ihres Vorgängers Lula fortsetzen – und sie ist eine glaubwürdige Vertreterin der Linken Brasiliens. Auch für viele vom brasilianischen Polit-Establishment enttäuschte Wähler ist sie attraktiv.

Selbst die Biografie der in keinerlei Korruptionsprozesse verwickelten Marina gleicht einer Novela: Sie wuchs im Amazonas auf, lernte erst mit sechzehn Jahren lesen und schreiben. Wegen der Verseuchung des Flusswassers durch Goldsucher erlitt sie eine Quecksilbervergiftung, die sie nur knapp überlebte. Bis heute ist sie gesundheitlich angeschlagen. Sie agitierte früh gegen die Grossgrundbesitzer auf den Kautschukfarmen des Regenwaldes und gründete die Arbeiterpartei im Westen des Amazonas. Jahrelang war sie eine enge Vertraute Lulas, bis sie die Arbeiterpartei verliess. Für Marina als Kandidatin zählt zudem, dass sie Evangelistin ist. Das macht sie für etwa jeden siebten Brasilianer zur prädestinierten Kandidatin. Ausserdem hat sie afrikanische wie indigene Vorfahren, was die Identifikation vieler Wähler mit ihr erhöht.

In den jüngsten Umfragen liegt Marina gleichauf mit Dilma Rousseff – das hat den Börsen nicht gefallen, sie hoffen auf einen Sieg der Herausforderin. Kein Zweifel: In Brasiliens Wahl-Novela dürften noch weitere spannende Folgen zu erwarten sein.

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