«Honest Abe» ist der beliebteste Präsident Amerikas. Was würde er über die Wahlen von 2016 denken?
Sein Lächeln wirkt heute fast etwas verschmitzt. Normalerweise sieht er viel ernster aus, wenn man seinem Denkmal in Washington begegnet. Den Potomac River im Rücken, das Weisse Haus zur Linken und das Kapitol vor ihm in der Ferne hat er von seinem steinernen Sitz aus schon manchen dramatischen Moment in Amerikas Geschichte erlebt. Er selbst gehört ja seit 150 Jahren zu ihrem Standardinventar. Fast acht Millionen Menschen besuchen ihn jährlich in der Hauptstadt. Kein anderer Präsident geniesst mehr Respekt als er, der den Bürgerkrieg gewonnen, die Union gerettet und die Sklaverei abgeschafft hat. Was geht Abraham Lincoln wohl jetzt durch den Kopf, wenn er an den Wahlzirkus von 2016 und das nächste US-Staatsoberhaupt denkt?
Abraham LincolnViele Wähler haben den Glauben an den amerikanischen Traum aufgegeben. «Honest Abe» hingegen hat ihn damals gelebt. Er ist sogar der einzige Präsident, der ein Patent angemeldet hat. Als er am Vorabend des Bruderkriegs als erster Vertreter der republikanischen Partei das oberste Staatsamt antritt, kommt er wie aus dem Nichts. Nach der Wende zum 19. Jahrhundert geboren, wuchs er in mausarmen Verhältnissen in den Frontier-Kolonien des heutigen Midwest auf. Der Vater konnte weder lesen noch schreiben. Seine Bildung eignete er sich selbst an, wobei er eine tiefe Leidenschaft für Literatur und besonders für die Dramen Shakespeares entwickelte. Er stieg vom einfachen Bauernjungen zum Anwalt auf, diente im Militär und begann eine politische Karriere, die ihn bis nach Washington brachte. Dort trat er als Outsider gegen hochrangige Gegner aus dem Establishment an und wurde am 6. November 1860 überraschend zum 16. Präsidenten gewählt.
Auch Donald Trump stellt sich gern als Aussenseiter dar. Tatsächlich hat der Reality-TV-Star aber kaum etwas mit Lincoln gemein. Das gilt speziell, wenn es um den Charakter geht. Lincoln war kein Blender, der ständig die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit braucht und wie ein Raudi auf dem Schulhof auf Schwächere eindrischt. Die Historikerin Doris Goodwin beschreibt den fast zwei Meter grossen Hünen als sensibel und mitfühlend. Dabei hatte er auch dunkle Seiten: Als er um die dreissig war, mussten seine Freunde während einer schweren Depressionsphase alle scharfen Gegenstände vor ihm verstecken, aus Angst, er könnte sich das Leben nehmen. Lincoln lernte aus Fehlern und war in einer Zeit, in der das geschriebene Wort zählte, ein ausgezeichneter Kommunikator. Nicht zufällig gilt seine Rede nach der Schlacht von Gettysburg als eine der besten überhaupt.
Seine grösste Stärke als Leader war, dass er sich in die Lage anderer versetzen konnte. Gerade im Amerika von heute, in dem es grosse Spannungen zwischen Rassen, Religionen und Kulturen gibt, wären solche Eigenschaften gefragt. Lincoln zeigte Verständnis für die wachsende Zahl an Immigranten aus Irland und Deutschland, die wegen ihres katholischen Glaubens auf Misstrauen stiessen. Er machte Gegner zu Verbündeten. So besetzte er sein Kabinett mit Rivalen aus den Vorwahlen und vergab die übrigen Regierungsposten an Abgeordnete der Demokraten. Er fühlte mit seinen Landsleuten im Norden wie auch im Süden mit, hegte keine Rachegelüste. Als der Bürgerkrieg am 12. April 1865 zu Ende geht, lässt er nach einem kurzen Auftritt den Dixie-Song spielen – die inoffizielle Hymne der Konföderierten.
In diesem Moment läuft seine Zeit bereits ab. Nur fünf Tage später besucht er am Karfreitag mit seiner Frau ein letztes Mal das Theater, wo er von einem Fanatiker aus dem Süden erschossen wird. Erst hundert Jahre später wird mit dem Civil Rights Act die Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht oder Religion in den USA endgültig verboten und die Segregation beendet. Vor acht Jahren hat mit Barack Obama zum ersten Mal ein Schwarzer das Amt des Präsidenten angetreten. In den Wahlen von 2016 haben Minderheiten erstmals mehr als 30% der Stimmen ausgemacht. Gleichgültig, wer in Zukunft ins Weisse Haus einzieht: Lincolns Erbe ist heute lebendiger denn je.
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