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10:13 Uhr - 10.09.2018

«Das Fed hat beim Lehman-Crash versagt»

Laurence Ball, Ökonom an der Johns Hopkins University, kritisiert die offizielle Version zum fatalen Konkurs der US-Investmentbank; sie entspreche nicht der Realität.

Am 15. September 2008 stand das Finanzsystem vor dem Kollaps. Auslöser der Krise war der Konkurs der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers, der sich diese Woche zum zehnten Mal jährt. Damalige Protagonisten wie Finanzminister Hank Paulson und Notenbankchef Ben Bernanke lassen sich heute als Helden feiern, die im Nachgang des Lehman-Crashs eine Wirtschaftsdepression verhindert haben. Laurence Ball ist anderer Meinung. Der Professor an der Johns Hopkins University in Baltimore hat sich intensiv mit den Ereignissen um den Konkurs befasst und kommt zu einem überraschenden Schluss. Anders als von offiziellen Stellen behauptet wäre es problemlos möglich gewesen, Lehman zu retten und so die Auswirkungen der Finanzkrise erheblich zu mildern.

Professor Ball, der Konkurs von Lehman Brothers erschütterte die Welt. Wie lässt sich die Katastrophe aus der Distanz eines Jahrzehnts interpretieren?
Ob Lehman Brothers, Merrill Lynch, Morgan Stanley (MS 48.22 0.6%) oder Goldman Sachs (GS 233.91 -0.26%): Alle grossen US-Investmentbanken kämpften damals ums Überleben. Sie hatten in grossem Stil in den Häusermarkt investiert und deshalb gravierende Verluste erlitten, als die Immobilienblase platzte. Da sie schwer verschuldet waren, hatten sie zu wenig Eigenkapital, um diese Verluste zu absorbieren. Das löste Konkursängste aus und verschärfte die Lage. Als verheerend erwies sich dabei die Abhängigkeit der Banken von kurzfristigen Finanzierungen. Weil sie sich gegenseitig nicht mehr trauten, wurden sie von den Finanzmärkten abgeschnitten, sodass es zur modernen Auflage eines Bank Run kam.

Und weshalb traf es gerade Lehman?
Lehman und Konzernchef Dick Fuld werden oft als Bösewichte der Krise dargestellt. Tatsächlich hatte Lehman aber nicht viel mehr falsch gemacht als all die anderen Investmentbanken. Ein Jahr zuvor wurde der Konzern sogar vom Wirtschaftsmagazin «Fortune» zum renommiertesten Wertschriftenhaus Wallstreets gekürt. Es gibt keinen Grund, weshalb Lehman ein so viel schlimmeres Schicksal erleiden musste als die übrigen Institute.

Trotzdem kam es zur Pleite.
Die offizielle Version des Konkurses entspricht aber nicht der Wahrheit. Bis heute behaupten die Verantwortlichen der amerikanischen Notenbank, dass sie Lehman Brothers gemäss Gesetz nicht mit einem Notkredit helfen konnten, weil Lehman dafür zu wenig Sicherheiten aufwies. Im Gegensatz dazu hätten andere Wackelkandidaten über genügend sichere Wertanlagen verfügt. Manche Konzerne, denen das Federal Reserve dann nach dem Lehman-Crash zu Hilfe eilte, standen bilanzmässig aber noch schwächer da.

Wie kommen Sie zu diesem Schluss?
Darüber muss man nicht viel rätseln. Es gibt reichlich Beweismaterial, wobei vor allem die Unterlagen des Konkursgerichts sowie der parlamentarischen Untersuchungskommission Aufschluss geben. Daraus geht hervor, worüber die Entscheidungsträger im Fall Lehman tatsächlich diskutierten. Im Vordergrund standen Abwägungen zwischen den politischen Folgen einer Rettungsaktion einerseits und dem Schaden für die Wirtschaft bei einem Bankrott andererseits. Die Kernfrage, ob die Sicherheiten für einen Notkredit ausgereicht hätten, kam hingegen gar nie zur Sprache. Dieser Vorwand wurde erst im Nachhinein als Entschuldigung für die Eskalation der Finanzkrise erfunden.

Die Situation war damals aber ziemlich unübersichtlich.
Hätten sich die Behörden ernsthaft mit der Bilanz von Lehman befasst, wäre rasch deutlich geworden, dass es genug Wertanlagen zur Hinterlegung eines Notkredits gab. Auf der Bilanz waren zwar illiquide Assets. Lehman besass aber auch leicht verkäufliche Wertschriften wie Aktien, Anleihen und weitere Anlagen, die bei anderen Instituten für eine Notfinanzierung ausreichten. Wie meine Untersuchung zeigt, wäre das selbst unter grossem Zeitdruck rasch ersichtlich gewesen. Natürlich gibt es viele Details. Das Fazit ist aber klar: Lehman hatte genug Sicherheiten.

Was ist also der wahre Grund für den Konkurs von Lehman Brothers?
Ausschlaggebend war der politische Hintergrund. Bear Stearns war die erste Investmentbank, die im März 2008 in Schieflage geriet. Die Behörden erkannten, dass ein Kollaps die Konjunktur schwer beschädigen würde, und entschieden sich für eine Rettungsaktion, indem sie die Übernahme von Bear Stearns durch JPMorgan Chase (JPM 114.32 0.19%) mitfinanzierten. Im Zug der Präsidentschaftswahlen löste das scharfe Kritik aus. Der linke Flügel der Demokraten stellte die Aktion als Geschenk von Steuergeldern an Wallstreet dar. Am rechten Rand der Republikaner wurde sie mit Sozialismus gleichgestellt, weil der Staat in den Markt eingriff. Barack Obama wie auch John McCain pochten deshalb als Präsidentschaftskandidaten darauf, dass es keine staatliche Hilfe mehr geben soll.

Wer ist demnach schuld am Crash?
Die Liste der Verantwortlichen für die Finanzkrise ist lang. Lehman und andere Investmenthäuser gingen Wetten ein, die sich als katastrophal herausstellten; Hauseigentümer bezogen Hypotheken, die sie sich nicht leisten konnten; Banken stellten Darlehen an Schuldner aus, die nicht zahlungsfähig waren; Regulatoren vernachlässigten ihre Aufsichtspflicht.

Und wie sieht es konkret bei Lehman aus?
Lehman hatte das Pech, als zweite Bank in Not zu geraten. Nachdem die Rettung von Bear Stearns in Washington für derart viel Unmut gesorgt hatte, zögerten die Behörden, als auch Lehman ein halbes Jahr später der Konkurs drohte. Involviert waren drei Hauptfiguren, die unterschiedliche Schuld trifft: Finanzminister Hank Paulson, Notenbankpräsident Ben Bernanke und Tim Geithner, der Chef der Fed-Distriktnotenbank New York.

Wie meinen Sie das?
Die rechtliche Autorität, Notkredite für Banken zu sprechen, oblag allein dem Federal Reserve. Paulson hatte als Finanzminister genauso wenig zu sagen wie der Vorsteher des Verteidigungsdepartements oder der Bürgermeister von Chicago. Sein Charakter war jedoch so dominant, dass er am Wochenende vom 13. und 14. September die Verhandlungen am Sitz der New York Fed führte. Geithner folgte Paulsons Anweisungen, während Bernanke in Washington blieb. Man kann also argumentieren, dass Paulson schuld ist, weil er Lehman aus politischem Kalkül untergehen liess. Versagt hat aber ebenso das Fed, zumal Bernanke und Geithner ihre Verantwortung nicht wahrgenommen haben. Sie hätten Paulson widersprechen können, dass sie sich nicht für seine politischen Probleme interessieren und Lehman retten, um die Wirtschaft zu schützen. Das war aber nicht der Fall.

Es heisst auch, dass sich Paulson und Lehman-Chef Fuld nicht gut verstanden. Inwiefern spielte das eine Rolle?
Die beiden waren früher Rivalen, als Paulson als CEO von Goldman Sachs an Wallstreet arbeitete. Dass er Fuld mit der Pleite von Lehman schaden wollte, halte ich jedoch für übertrieben. Paulson engagierte sich enorm. Nach seinen Aussagen arbeitete er Tag und Nacht, um den Konkurs von Lehman durch einen Übernahmedeal wie im Fall von Bear Stearns zu verhindern. Das mag stimmen. Tatsache ist aber auch, dass er es dem Fed nicht gestatten wollte, einen Notkredit zu sprechen, als sein Plan fehlschlug.

Wie nahmen andere Banken die Situation an diesem Wochenende wahr?
Sie waren sehr besorgt. Am Samstag, dem 13. September, schien ein Deal erreicht. Die britische Bank Barclays (BARC 175.8 1.06%) wollte Lehman unter der Bedingung übernehmen, dass toxische Assets von rund 30 bis 40 Mrd. $ ausgegliedert werden. Ein ähnliches Konstrukt wurde bereits beim Kauf von Bear Stearns durch JPMorgan angewendet, wobei das Fed das Finanzierungsvehikel Maiden Lane aufsetzte, um die problematischen Anlagen auf seine Bilanz zu nehmen. Im Fall von Lehman sollte dafür aber nicht mehr das Fed, sondern ein Konsortium aus Grossbanken einspringen. Doch dann brach am Sonntag alles zusammen, weil die britische Finanzaufsicht den Deal mit Barclays untersagte.

Was hätte es gekostet, Lehman zu retten?
Mit dem Konkurs von Lehman Brothers gerieten weitere Finanzkolosse ins Wanken. In diesem Moment erkannten Paulson, Bernanke und Geithner rasch, dass sie einen Fehler gemacht hatten, und änderten ihr Vorgehen. Das Fed sprach dem Versicherer AIG ein Notdarlehen von über 100 Mrd. $ zu und stellte Morgan Stanley eine ähnliche Summe zur Verfügung. Wie viel die Rettung von Lehman gekostet hätte, lässt sich im Nachhinein nicht exakt bestimmen. Gemäss konservativen Berechnungen hätten aber knapp 85 Mrd. $ gereicht. Ein solcher Kredit wäre zudem nicht allzu riskant gewesen, da es ja genügend Sicherheiten gab.

Stattdessen kam es zur grössten Unternehmenspleite der Geschichte. Was spielte sich am 15. September genau ab?
Lehman Brothers ist der wohl komplizierteste Konkursfall, den es je gegeben hat. Die Abwicklung eines Grosskonzerns benötigt viel Vorbereitung, um den Prozess Schritt für Schritt zu strukturieren. Gewisse Verfahren zum Lehman-Konkurs halten sogar bis heute an. Umso verheerender war, dass es für die Bankrotterklärung fast keine Planung gab. Sie wurde in wenigen Stunden zusammengestellt, deshalb gab es erhebliche Mängel. Niemand wusste, wer wofür verantwortlich war und wo sich welche Assets befanden. Es herrschte pures Chaos.

Was wäre wohl passiert, wenn das Fed Lehman Brothers gerettet hätte?
Das werden wir nie erfahren. Denkbar ist etwa, dass Lehman wie AIG als unabhängiger Finanzkonzern überlebt hätte. Ebenso gut möglich ist, dass Lehman im Lauf der Zeit in einem geordneten Prozess abgewickelt worden wäre. Ich bin aber überzeugt, dass die Finanzkrise bedeutend weniger Schaden angerichtet hätte, wenn es nicht zu diesem chaotischen Konkurs gekommen wäre.

Lehman war allerdings nicht der einzige Problemfall. Das gesamte Bankensystem war mit Schulden überladen.
Die amerikanische Wirtschaft tat sich bereits vor dem 15. September schwer. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 6%, die Häuserpreise sanken, und allen war klar, dass die Banken zu grosse Risiken eingegangen waren. Einen derartigen Schock, wie ihn der Konkurs von Lehman Brothers auslöste, erwartete aber niemand. Hätte das Fed rechtzeitig eingegriffen, würden wir heute wohl auf ähnliche Turbulenzen zurückblicken wie während der US-Sparkassenkrise in den Achtzigerjahren oder beim Platzen der Internetblase im Jahr 2000. Auch damals entstanden bedeutende Verluste. Das Ausmass der Finanzkrise und der Rezession der Jahre 2008/09 war jedoch von einem anderen Kaliber.

Was hatte das für Konsequenzen?
Ein zentraler Punkt ist in diesem Zusammenhang, wie sich die Politik in den USA unter anderen Umständen entwickelt hätte. In den Präsidentschaftswahlen von 2016 hatte sich in der Bevölkerung so viel Wut über die wirtschaftliche Misere aufgestaut, dass jetzt ein Präsident das Land regiert, dessen Wahl ich niemals für möglich gehalten hätte. Damit fragt sich, ob die Situation in Washington heute anders aussehen würde, wenn die Konjunktur einen weniger schweren Schlag erlitten hätte.

Was für Lehren lassen sich im Rückblick aus dem Lehman-Crash ziehen?
Eine der wichtigsten Lektionen ist, dass die US-Notenbank in Zukunft bereit sein muss, ihre Verantwortung als Kreditgeber in letzter Instanz zu tragen. Wer weiss schon, wann die nächste Krise kommt und was sie auslösen wird. Sicher ist aber, dass es irgendwann eine ähnliche Situation geben wird, in der das Vertrauen in ein Finanzinstitut verloren geht und das Federal Reserve Liquidität einschiessen muss. Ich fürchte, dass die Notenbank dann erneut unter politischen Druck geraten und zu spät reagieren wird. Besonders problematisch sind daher gewisse Auflagen im 2010 erlassenen Finanzmarktgesetz Dodd-Frank. Im Grundsatz untersagen sie es dem Fed heute, eine Bank wie Lehman Brothers im Notfall zu stützen.

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