Charles Wyplosz, Wirtschaftsprofessor an der Universität Genf, fürchtet, dass im Notfall weder der Eurorettungsschirm noch die EZB Italien helfen könnten.
Mit Italiens Regierungswechsel steht die Eurozone vor einer ganz neuen Herausforderung. Die neue Regierung aus der rechtspopulistischen Lega und der Protestbewegung Cinque Stelle ist erklärt eurokritisch. Bis vor kurzem kursierten sogar Forderungen, Italien solle den Euro aufgeben und zu einer nationalen Währung zurückkehren. Die erhöhte Risikoprämie und der erstarkte Franken zeigen, wie nervös internationale Investoren sind. Charles Wyplosz, Professor am Graduate Institute in Genf, warnt: Italien sei zu gross für die bestehenden Krisenmechanismen der Währungsunion. Weder der Eurorettungsschirm ESM noch die Europäische Zentralbank (EZB) könnten im Ernstfall rasch und reibungslos einschreiten, um Schlimmeres zu verhindern.
Herr Wyplosz, überreagieren die Märkte auf den Regierungswechsel in Italien?
Nein. Italien hat enorme Schulden, und die beiden Parteien, die nun Regierungsverantwortung übernehmen, wollen die Steuern senken und die Ausgaben erhöhen, sodass sich das Haushaltsdefizit kräftig ausweitet. Da ist es verständlich, dass die Finanzmärkte besorgt reagieren.
Besteht ein Risiko, dass diese Angst auf andere Länder übergreift?
Ich gehe nicht davon aus, dass sich andere Länder anstecken werden. In Portugal, Spanien und Frankreich haben wir es mit völlig anderen Voraussetzungen zu tun. Dort droht keine vergleichbar ruinöse Politik wie in Italien. Das gilt aber nur unter einem Vorbehalt: Es darf nicht plötzlich bekannt werden, dass die Banken eines Landes stark in italienischen Schulden exponiert sind.
Welches Risiko genau geht von der italienischen Regierungskrise aus?
Die Unsicherheit über das, was kommt, ist ungewöhnlich gross. Mit einer Regierung aus Movimento Cinque Stelle und Lega wird alles möglich. Italien könnte rasch den Zutritt zum Anleihenmarkt verlieren. Die Regierung könnte daraufhin ihre Pläne ändern. Aber sie könnte auch den Wunsch realisieren, eine eigene Währung einzuführen. Dann müsste sie den Euro aufgeben. Sie könnte auch beschliessen, die Schuldenzahlung einzustellen. Oder sie könnte Schutz bei der EU oder dem IWF suchen, ein Hilfsprogramm unterzeichnen, was wie im Falle Griechenlands mit harten Auflagen verbunden wäre. Es gibt also eine Fülle von Varianten, was in den kommenden Jahren passieren kann.
Paolo Savona, Italiens neuer Europaminister, zeigte vor einigen Jahren auf, wie Italien den Euro verlassen könnte: Es müsse im Geheimen vorbereitet werden, der Währungs-Changeover über ein Wochenende stattfinden. Ist das ein realistischer Plan?
Der Euroaustritt wäre ein dramatischer Schritt. Ich stimme zu, dass bis zur letzten Sekunde alles im Geheimen ablaufen müsste. Wenn im Vorfeld etwas an die Öffentlichkeit dringt, wird sofort das Kapital von den Banken abgezogen, und eine nach der anderen geht in Konkurs. Aber das logistische Problem darf nicht unterschätzt werden. Druck und Ausgabe des neuen Bargelds nehmen Monate in Anspruch. Das wird kaum durchzuführen sein, ohne dass Informationen an die Öffentlichkeit dringen.
Würde der Euro den Italexit überleben?
Es gäbe schwere Turbulenzen, aber die anderen Eurostaaten würden den Austritt Italiens ohne weiteres verkraften. Es geht ihnen wirtschaftlich gut. Die Lage ist stabil. Ich sehe kein Risiko für den Euro, es sei denn, im einen oder anderen Land sind die Banken stark in Italien exponiert. Der Bankenkanal ist gefährlich. Wir wissen nicht genau, wie hoch die internationalen Positionen der einzelnen Institute sind. Vielleicht verfügen die Aufsichtsbehörden über diese Information.
Wie stabil ist die Europäische Bankenunion?
Es fehlen noch wesentliche Teile, beispielsweise eine einheitliche europäische Einlagensicherung. Einzelne Staaten sind nicht in der Lage, allein die Summen zu bezahlen, die notwendig werden, wenn Banken in Konkurs gehen. Ausserdem fehlt ein europäischer Abwicklungsfonds für Banken. Er ist zwar im Aufbau, aber das dauert lange. Sobald Banken restrukturiert werden müssen, braucht es vorab viel Geld. Hoch verschuldete Länder wie Italien können die Mittel nicht aufbringen. Einlagen und Abwicklung sind die Schwachstellen. Über sie kann sich eine Bankenkrise rasch zu einer Staatenkrise ausweiten. Wir haben das in Irland erlebt.
Aber es gibt doch den Rettungsschirm ESM.
Der Europäische Stabilitätsmechanismus, der Geld von Regierungen an Krisenstaaten ausleiht, verfügt über eine Kapazität von 500 Mrd. €. Italiens Verschuldung beträgt rund 2300 Mrd. €. Im Ernstfall reichen die Ressourcen also nicht. Sie liessen sich zwar aufstocken, aber das ist politisch schwierig und dauert lange. Alle Regierungen müssen zustimmen, ebenso wie der Deutsche Bundestag.
Garantiert die EZB denn nicht die erforderliche Letztsicherung?
Mario Draghi könnte eine neue Whatever-it-takes-Rede halten. Damit Italien aber von den damit verbundenen «unbegrenzten» EZB-Ankäufen von Schuldtiteln – dem sogenannten OMT-Programm – profitieren kann, muss es harten wirtschaftlichen Auflagen zustimmen. Darüber hinaus sind die Summen, die die EZB decken müsste, so enorm, dass das einen Aufruhr in den anderen Eurostaaten auslösen würde. Das Problem besteht darin, dass wir in der Eurozone keine wirklich politisch unabhängige Zentralbank haben, die als Lender of Last Resort handeln kann.
2012 wirkten die OMT, obwohl sie nie durchgeführt wurden. Damals genügte das Wort der Zentralbank. Warum nicht heute?
Portugal, Spanien und Griechenland sind kleine Fische im Vergleich zu Italien. Würde Mario Draghi Italiens Banken heute Unterstützung versprechen, hätte er tags darauf das gesamte deutsche Establishment gegen sich. Es ist hart für jede Zentralbank, gegen die eigene Regierung zu agieren.
Soll die EZB mehr Italienanleihen kaufen?
Ich denke nicht, dass es hilft, in begrenztem Masse Anleihen aufzukaufen. Das hat Draghis Vorgänger Jean-Claude Trichet bereits versucht. Aber es funktionierte nicht. Zentralbanken dominieren die Märkte nur, wenn sie unlimitiert einschreiten. Denn die Märkte können nicht unbegrenzt gegenschlagen.
Was wird die EZB nun tun?
Wie alle anderen Institutionen wird sie Signale an die Regierung in Italien senden, dass diese ein sehr riskantes Spiel betreibt, das kaum aufgehen dürfte. Im Fall Griechenlands spielte die EZB ihrerseits mit harten Bandagen. Im Sommer 2015 stoppte sie als Antwort auf die Politik von Finanzminister Varoufakis die Liquiditätszuteilung an griechische Banken. Varoufakis musste bald darauf die Regierung verlassen. Bevor Italien nicht offiziell um Hilfe anfragt und einem Programm zustimmt, wird die EZB nichts unternehmen.
Ist es realistisch, das von Rom zu erwarten?
Die Aussage des deutschen EU-Kommissars Günther Oettinger, dass die Märkte den italienischen Wählern eine Lektion erteilen, das Richtige zu wählen, zeigt auf, wie in den Top-Etagen der EU gedacht wird. Die Stellungnahme ist dumm und entlarvend zugleich. Die übrigen europäischen Regierungen wären nicht sehr nett mit Italien. Implizit wollen sie den Italienern eine Lektion erteilen.
Eine typisch deutsche Ansicht.
Ja. Sollte Italien den ESM anrufen, dann gehe ich davon aus, dass die Auflagen sehr hart ausfallen würden. Ähnlich wie beim Vorfall mit Varoufakis.
Ist das nun das Ende der politischen Integration?
Momentan werden die Grenzen der europäischen Integration sichtbar. Aber das bedeutet nicht, dass es zwangsläufig zu einer Disintegration kommen wird. Die meisten europäischen Regierungen sind völlig überzeugt von Europa, selbst wenn daheim europaskeptische Töne angestimmt werden. Deutschland, Frankreich, Belgien, die Niederlande würden stärker kooperieren, wenn ein Mitglied wie Italien den Euro verliesse.
Eine Wurzel der Kritik Italiens am Euro ist der Unmut über die von Brüssel orchestrierte Sparpolitik. Sollten die Regeln gelockert werden?
Das System müsste flexibler sein. Es müsste mehr über Anreize funktionieren, aber gleichzeitig Zwänge aufrechterhalten. Die Tendenz, alles regulieren zu wollen, was sich regulieren lässt, muss zurückgefahren werden. Sonst wächst nur der Unmut über Brüssel. Ideal wäre ein System wie in der Schweiz, wo die Kantone über viele Befugnisse verfügen. Die EU sollte eine lockere Föderation sein, die näher am Bürger ist, mit geringer zentraler Einmischung.
Diese Vorstellung hält sich seit sechzig Jahren. Aber es ist nie dazu gekommen.
Regierungen profitieren politisch vom aktuellen System. Sie spannen Brüssel nur zu gerne als Sündenbock ein, um Massnahmen zu beschliessen, die daheim nicht populär sind. Nehmen Sie den Eisenbahnstreik in Frankreich, der bereits seit bald zwei Monaten andauert. Grosse Teile der Reform sind Teil einer europäischen Vereinbarung. Frankreich hat vor Jahren auf EU-Ebene zugestimmt. Heute argumentieren Staatspräsident und Premierminister: Wir müssen das machen, weil es eine europäische Vereinbarung ist. Zurück bleibt die Botschaft, dass die Bürger in Frankreich durch Brüssel zu etwas gezwungen werden, dem sie nicht zustimmen. Auf einen grundlegenden Umbau der EU zu hoffen, grenzt an Utopie.
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