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01:18 Uhr - 18.01.2016

«Es ist wie vor dem Ausbruch einer Krise.»

Wallstreet-Veteran Art Cashin warnt im Interview, dass eine Welle von Zahlungsausfällen in der amerikanischen Ölindustrie das gesamte Finanzsystem erschüttern könnte. Er denkt, dass die US-Notenbank mit der Zinserhöhung einen schweren Fehler gemacht hat.

Über die Finanzmärkte fegt ein heftiger Sturm. Alarmierende Nachrichten aus China und der Crash am Ölmarkt sorgen rund um den Globus für Anspannung. In den Vereinigten Staaten hat der Leitindex S&P 500 seit Anfang Jahr bereits über 8% eingebüsst. Art Cashin erlebt die Turbulenzen hautnah auf dem Trading Floor der New York Stock Exchange, wo er in Diensten von UBS den Handel überwacht. Der hochrespektierte Börsenveteran sieht in der Zinserhöhung der US-Notenbank einen zentralen Grund für den Panikschub. Er fürchtet, dass Amerika in eine Rezession rutscht, wenn das Federal Reserve keine Kehrtwende macht und die Zinsen zurück auf null Prozent senkt. Zur PersonKaum jemand geniesst an Wallstreet so grossen Respekt wie Art Cashin. Als er 1959 seine Karriere an der New York Stock Exchange (NYSE) begann, notierte der Dow Jones noch unter 700. Um seine Familie zu unterstützen, verzichtete er damals auf ein Studium und heuerte beim Broker Thomson McKinnon an. Nur fünf Jahre später wurde er zum vollwertigen Partner von P. R. Herzig & Co. ernannt und erhielt mit 23 als einer der jüngsten Trader einen Sitz an der Börse. 1980 stiess er zum Investmenthaus PaineWebber, das 2000 von UBS übernommen wurde. Als Director of Floor Operations leitet er heute den Parketthandel für die Schweizer Bank und zählt zu den sechs Executive Floor Governors, der höchste Rang an der NYSE. Cashin hat irische Wurzeln, ist in New Jersey aufgewachsen und engagiert sich in diversen Wohltätigkeitsorganisationen. Dazu zählt der Fallen Heroes Fund, der Familien von Polizei- und Feuerwehrleuten unterstützt, die im Dienst gestorben sind. Er ist Ritter des Malteserordens und tritt mehrmals pro Woche auf dem Börsensender CNBC als Experte auf. Sein täglicher Marktbericht zählt für viele Investoren zur Pflichtlektüre und liegt auch am Eingang der NYSE auf.

Herr Cashin, an den Weltbörsen kommt es zu schweren Erschütterungen. Wie ist die Stimmung auf dem Parkett der New York Stock Exchange?

Es herrschen Besorgnis und Frustration. Am Freitag fiel der US-Leitindex S&P 500 vorübergehend unter das Tief, das er während der Korrektur von Ende August markiert hatte. Das ist nie ein gutes Zeichen. Am Montag bleiben die amerikanischen Börsen zudem geschlossen, während in Asien und Europa gehandelt wird. Vor dem langen Wochenende waren deshalb viele Investoren darüber besorgt, was während dieser Zeit mit ihren Positionen passieren könnte.

Sie arbeiten seit bald sechs Jahrzehnten im Börsenhandel und haben schon viele heikle Momente erlebt. Wie schlimm ist aktuelle Situation?

Die Märkte verhalten sich sehr ähnlich wie vor dem Ausbruch einer Krise. Hinzu kommt, dass wir uns in der Saison der Unternehmensabschlüsse befinden. In dieser Phase müssen viele US-Konzerne ihr Programm zum Rückkauf eigener Aktien vorübergehend stoppen. Der Börse fehlt damit eine wichtige Stütze, denn über die vergangenen Jahre haben die Unternehmen mehr Geld über Aktienrückkäufe in die Börse investiert als das Publikum. Der Kursrutsch hat daher wohl auch damit zu tun, dass die Unternehmen derzeit an der Seitenlinie stehen.

Für Anspannung sorgt vor allem der Ölpreis. Zu Wochenschluss ist er unter 30 $ gefallen und bewegt sich damit auf dem  tiefsten Stand seit November 2003. Warum macht das Wallstreet so nervös?

Investoren sorgen sich um die vielen kleinen Unternehmen, die in den USA Öl aus Schiefergestein fördern und sich dafür am Markt für Hochzinsanleihen verschuldet haben. Es wird befürchtet, dass bis zu einem Drittel dieser Gesellschaften in Konkurs gehen könnte, wenn der Ölpreis weiter sinkt. Diese Zahlungsausfälle könnten sich dann über das gesamte Finanzsystem ausbreiten und so auch in anderen Bereichen gravierende Probleme verursachen.

 Gibt es bereits erste Anzeichen für solche Entwicklungen?

Verschiedene Marktakteure wurden dazu aufgefordert, mehr Sicherheiten für schlechte Kredite zu hinterlegen. Während dem Kursrutsch vom Mittwoch gab es zudem Gerüchte wie auch Hinweise auf Zwangsverkäufe. Das ist immer eine Belastung für die Börse. Die Rede ist von Hedge Funds und Staatsfonds. Möglicherweise waren Investoren betroffen, die vom Ölpreis abhängig sind wie Saudi Arabien oder Norwegen.

Für Nervosität sorgen auch irritierende Nachrichten aus China. Wo liegt hier das Problem?

Bevor der Handel in New York am Freitag begann, hatten die Börsen in China über Nacht 3,5% verloren – und das trotz grösster Bemühungen der chinesischen Regierung, eine weitere Destabilisierung der Preise zu stoppen.

Die amerikanische Wirtschaft ist aber kaum abhängig von China.

China ist jedoch die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt. US-Konzerne verkaufen zwar kaum nach China. Für viele Wirtschaftspartner der Vereinigten Staaten wie zum Beispiel die Länder in Europa ist der chinesische Markt aber sehr wichtig. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Die chinesische Währung ist relativ eng an den Dollar geknüpft.

Was ist daran so problematisch?

Durch die Zinserhöhung der US-Notenbank begann sich der Dollar aufzuwerten. Damit stieg auch der Yuan, was China im internationalen Wettbewerb benachteiligt. Peking sucht deshalb nach Wegen, die Währung etwas abzuwerten. Das erschüttert die Devisenkurse in den aufstrebenden Märkten und in den kleineren Volkswirtschaften Asiens. Als 1997 der thailändische Baht einbrach, hiess es zunächst auch, dass das kaum grössere Bedeutung für Amerika habe. Es kam jedoch rasch zu grossen Verwerfungen im Finanzsektor und Investoren verloren viel Geld. Jetzt stehen ähnlichen Befürchtungen im Raum.

Hängen die Turbulenzen also mit der Zinswende in den USA zusammen?

Betroffen ist nicht nur der Yuan. Rund um den Globus ist der Stress an den Devisenmärkten enorm hoch. Viele Länder leiden unter der Zinserhöhung. An den Dollar geknüpft ist beispielsweise auch der Saudi-Riyal, die Währung des Königreichs Saudi-Arabien.

Zu schaffen macht der feste Dollar ebenso der amerikanischen Exportwirtschaft. Die US-Industrie hat sich in den letzten Monaten deutlich abgekühlt.

Noch nie zuvor hat das Federal Reserve in seiner hundertjährigen Geschichte die Zinsen erhöht, wenn sich die Industrie in einer Rezession befand, wie das derzeit der ISM-Einkaufsmanagerindex zum verarbeitenden Gewerbe signalisiert. Als die US-Notenbank im September den geplanten Zinsschritt wegen der Turbulenzen an den internationalen Finanzmärkten verschob, gab es dafür heftige Kritik in den USA. Dem Fed wurde vorgeworfen, dass es die Geldpolitik auf die Vereinigten Staaten und nicht auf den Rest der Welt ausrichten müsse. Als dann der Zinsentscheid im Dezember immer näher rückte, manövrierte es sich mit zuversichtlichen Äusserungen zur US-Wirtschaft in eine Zwickmühle.

Auch Ökonomen sprechen jedoch von einem robusten Trend am Arbeitsmarkt. So hat die US-Wirtschaft im Dezember über 290’000 Stellen geschaffen und die Erwartungen damit weit übertroffen.

Ein genauer Blick auf die Statistik zeigt jedoch, dass 280’000 dieser Jobs nur auf saisonalen Glättungen der Daten beruhen und mit echten Menschen nichts zu tun haben. Gemäss der separat erhobenen Statistik zu den Haushalten entfielen zudem nur 3% der neuen Stellen auf die Schlüsselkategorie der 25- bis 55-Jährigen. Die überwiegende Mehrheit der Jobs ging an jüngere oder ältere Arbeitnehmer. Das Wachstum basierte daher wohl primär auf dem Weihnachtsgeschäft. Diese Stellen sind nicht dauerhaft. Die Entwicklung am Arbeitsmarkt wird in den kommenden Monaten kaum nochmals so robust sein.

Hat Notenbankchefin Janet Yellen mit der Zinserhöhung demnach einen Fehler begangen?

Ich befürchte es. Ich glaube, dass der Leitzins in den USA eher auf null Prozent zurückfallen wird, bevor er auf 1% steigt. Wenn das Fed eine Rezession verhindern will, hat es kaum eine andere Wahl, als die Zinsen wieder zu senken. Auch wurde es von verschiedenen Seiten gewarnt, die Zinsen nicht zu erhöhen: Von IWF-Chefin Christine Lagarde über den früheren US-Schatzminister Larry Summers bis zur Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Trotzdem entschied sich das Fed für eine Straffung der Geldpolitik. Was sich nun an den Finanzmärkten abspielt, ist eine indirekte Folge davon.

Als die US-Notenbank die Zinsen Mitte Dezember erhöhte, reagierten die Börsen aber zunächst mit Applaus und die Kurse stiegen. Warum hat die Stimmung gekehrt?

Es hat eine gewisse Zeit gebraucht, bis sich die Zinswende durch das gesamte Finanzsystem arbeitete. Die Märkte mussten erst sehen, was mit der chinesischen Währung passiert und wie die Regierung in Peking darauf reagiert. Nur wenige Investoren haben die weitreichenden Folgen des Zinsschritts auf Anhieb erkannt.

Wie geht es nun an den Börsen weiter?

Die Turbulenzen sind wohl nicht vorbei. Für eine Beruhigung braucht es zuerst einen Effort, um den Ölpreis zu stabilisieren. Es bleibt also Vorsicht angebracht. Investoren sollten ihre Risiken im Portfolio überprüfen und sicherstellen, dass sie gewappnet sind.

 

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