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13:53 Uhr - 07.09.2021

Ungleichheit drückt die Zinsen im neoliberalen Zeitalter

Eine neue Studie zeigt, dass weniger die Alterung der Babyboomer sondern vielmehr die wachsende Einkommensungleichheit seit Anfang der Achtzigerjahre den Zinsrückgang erklärt.

Für viele Anleger sind die niedrigen oder sogar negativen Zinsen ein grosses Ärgernis. Sie erschweren die private Altersvorsorge. Und es scheint immer noch nicht absehbar, dass sich in den nächsten Jahren an diesem Zinsumfeld bald etwas ändern wird – solange keine nennenswerte Inflation weltweit aufkommt.

Die Furcht wächst, dass das Wirtschaftswachstum dauerhaft erlahmt und sich Vermögenspreisblasen verstärken. Zudem wird es für die Notenbanken enorm schwierig, mit ihren niedrigen oder sogar negativen Leitzinsen die Wirtschaft zu beeinflussen – im Aufschwung wie auch im Abschwung.

Um so hitziger streiten Investoren, Ökonomen, Manager, Währungshüter und Politiker über die Gründe für den sinkenden Zinstrend. Und so langsam bringen Volkswirte etwas Licht ins Dunkel. Denn die Achtzigerjahre gelten nicht nur als Beginn dessen, was gemeinhin als neoliberales Zeitalter bezeichnet wird. Das Jahrzehnt markiert vielleicht nicht ganz zufällig auch den Anfang des globalen Zinsverfalls.

Ohnehin stellen seit der Finanzkrise selbst die Ökonomen des Internationalen Währungsfonds (IWF) die früher so beliebten Politikrezepte in Frage: Deregulierung und Privatisierung sowie Entfesselung der globalen Finanzmärkte.

Nebenwirkung neoliberaler Wirtschaftspolitik

Nun stellt sich heraus, dass diese Wirtschaftspolitik gravierende Nebenwirkungen hatte. Sie dürfte entscheidend zum Absinken des Zinsniveaus beigetragen haben, indem sie die Ungleichheit verstärkt hat. Das belegt eine neue Studie, die an der Notenbankkonferenz in Jackson Hole im August vorgestellt wurde.

Als naheliegende Ursache des Zinsverfalls fällt manchen allerdings zuerst die Geldpolitik der Notenbanken ein, die längst auf die Renditen am Anleihenmarkt abzielt. Doch so einfach ist es nicht. «Diese Sichtweise vernachlässigt, dass die Notenbanken im Rahmen ihrer Geldpolitik nur einer von zahlreichen Einflussfaktoren auf langfristige Renditen sind», schrieb die Deutsche Bundesbank dazu 2019.

Vor wenigen Wochen versuchte der bekannte Rechtsprofessor Paul Kirchhof sogar negative Nominalzinsen der Notenbanken als verfassungswidrig zu erklären. Es finde eine «Enteignung der Sparer» statt, schrieb er in einem Buch. Er übersah dabei aber, dass negative Sparzinsen nach Abzug der Inflation auch schon früher häufiger auftraten: Sie sind vor allem Ergebnisse von Marktprozessen, von Geldangebot und Kapitalnachfrage auf den Finanzmärkten.

Kirchhof ignoriert zudem einfach, dass deutsche Unternehmen unter dem Strich seit der Finanzkrise keine Zinsen mehr zahlen. Sie verdienen wie Banken so viel mit Finanzanlagen, dass das Zinseinkommen des Sektors die Zinsausgaben übersteigt. Das wiederum übt Druck auf die Zinsen an den Finanzmärkten aus, gegen den die Notenbanken nicht viel ausrichten können, selbst wenn sie kurzfristig immer wieder an den Märkten eingreifen.

Wachsende Finanzanlagen suchen Rendite

Dieser Druck ist schon lange weltweit zu spüren, wie Daten des Financial Stability Board in Basel zeigen. In diesem Rat versuchen vor allem Notenbanken, die globale Finanzstabilität zu überwachen. In den einundzwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländern sowie in der Eurozone ist das Finanzvermögen der privaten Anlagegesellschaften ausserhalb der Banken von 155% des Bruttoinlandprodukts (BIP) im Jahr 2002 auf 268% im Jahr 2019 gestiegen.

Ein Beispiel illustriert, was das bedeutet: Ein jährlicher Ertrag von 5% auf diese Aktien, Obligationen, Einlagen des Privatsektors (Haushalte und Unternehmen) hätte zur Jahrtausendwende noch fast 8% des BIP ausgemacht, heute sind es fast 14%. Der Verteilungsdruck auf die reguläre Wirtschaftsleistung stieg damit vor allem in den Jahren bis zur Finanzkrise stark, was seitdem auch das Potenzial für höhere Marktzinsen erheblich geschmälert haben sollte.

Martin Hellwig, einer der renommiertesten Ökonomen Deutschlands, nahm jetzt in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» die Thesen des Rechtsprofessors Kirchhof auseinander. Dabei führte er weitere Ursachen an, die für den Zinsverfall verantwortlich sein könnten: die hohe Ersparnisbildung nach dem Babyboom der Nachkriegszeit, die grossen Devisenreserven der Schwellenländer wie China, die Ersparnisbildung der «Superreichen» in den USA oder der sinkende Aufwand bei modernen IT- Investitionen.

Einkommensungleichheit erklärt Zinsrückgang

Die in Jackson Hole vorgestellte neue Studie der Ökonomen Atif Mian (Princeton), Ludwig Straub (Harvard) und Amir Sufi (Chicago) beschäftigt sich mit zwei der Faktoren, die Hellwig erwähnt. Die Forscher fanden dabei heraus, dass die Alterung der Babyboomgeneration in den USA den Zinsrückgang nicht erklären kann. Viel mehr habe die steigende Einkommensungleichheit dazu beigetragen.

Die Ökonomen schreiben: «Die Sparquoten sind bei Haushalten mit hohem Einkommen innerhalb einer bestimmten Geburtskohorte deutlich höher als bei Haushalten mit mittlerem und niedrigem Einkommen in derselben Geburtskohorte, und die Einkommensanteile der Haushalte mit hohem Einkommen sind seit den Achtzigerjahren stark gestiegen.» Die Unterschiede zwischen bestimmten Altersgruppen waren dagegen deutlich geringer.

Wie auch immer die Wirtschaftspolitik die Ungleichheit seit Anfang der Achtzigerjahre verstärkt haben mag – eine frühere Studie derselben Autoren zeigt ebenfalls deutlich: Das krasse Auseinanderdriften der Ersparnisse in den USA begann nicht in einer Niedrigzinsphase, sondern genau dann, als die US-Notenbank Fed unter Paul Volcker ihren Schlüsselsatz auf 17% und mehr angehoben hatte, um die Inflation zu bekämpfen.

Auf diese Weise waren es dann doch vielleicht die Notenbanken, die den globalen Zinsverfall schlussendlich losgetreten haben. Nur eben anders, als viele heute denken.

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