Seit der Brexit-Abstimmung haussieren risikobehaftete Anlagen, die Investoren sind zunehmend euphorisch. Die Gefahr von Kursrückschlägen nimmt zu.
Es ist seltsam ruhig geworden an den Börsen. Chinas Wachstumsflaute? Die enttäuschenden Unternehmensgewinne? Der Rohölpreisverfall? Alles kein Thema mehr. Was noch vor wenigen Monaten bei vielen Anlegern für einen beschleunigten Puls sorgte, scheint wie vergessen. Auch ist es noch keine zwei Monate her, als die Brexit-Abstimmung Schockwellen an den Finanzmärkten auslöste. Doch die Aufregung währte nur kurz, die Investoren sind bereits wieder zur Tagesordnung übergegangen.
Seit dem überraschenden Votum der Briten am 23. Juni, in dem sie sich für den Austritt aus der Europäischen Union aussprachen, notieren praktisch alle wichtigen Anlageklassen im Plus. Der Goldpreis und britische Aktien notieren rund 7% höher als vor dem Referendum, gefolgt von Schwellenländeranlagen. Schweizer Dividendentitel haben sich seither um rund 1,5% verteuert. Die Rückschläge wurden also bereits mehr als wettgemacht. Einzig Valoren aus der Eurozone und der Rohölpreis haben den Brexit-Schock noch nicht verdaut.
Freude herrscht
Wie so oft in steigenden Märkten macht sich auch jetzt eine zunehmende Selbstgefälligkeit unter den Anlegern bemerkbar. Gemäss dem auf markttechnisches Research spezialisierten Unternehmen Investors Intelligence erwartet nur noch jeder vierte befragte US-Anlageberater eine baldige Börsenkorrektur – vor zwei Monaten lag der Anteil bei über 40%.
Die von «Finanz und Wirtschaft» beobachteten Stimmungsindikatoren bestätigen das Bild zunehmend risikofreudiger Anleger. Diese Barometer werden gewöhnlich als Kontraindikatoren verwendet. Sind die Anleger unbekümmert, ist das ein Warnsignal (und mit roter Farbe hervorgehoben), sind sie hingegen vorsichtig, wird das als positiv gewertet (blau markiert). Von den elf Komponenten zeigen deren neun eine hohe bis sehr hohe Risikoneigung an – in der Heatmap dominiert deshalb auch die Farbe Rot wie noch nie in den vergangenen 52 Wochen.
Drei Indikatoren stechen hervor: Die Positionierungsdaten von Hedge Funds und der Volatilitätsindex Vix. So zeigen die aus den Futures abgeleiteten Positionen von Hedge Funds für das Technologieaktienbarometer Nasdaq und den US-Leitindex S&P 500, dass die Profis auf weiter steigende Notierungen setzen: In den vergangenen Wochen haben sie nämlich kräftig Aktien aufgestockt. Setzten sie im April noch auf fallende Kurse, sind sie nun so optimistisch wie seit Jahren nicht mehr.
Eine ähnlich positive Erwartung spiegelt der Vix-Index, der die von den Marktteilnehmern erwarteten Schwankungen des S&P 500 abbildet. Aktuell notiert er auf einem äusserst niedrigen Wert und signalisiert damit, dass die Börsianer kaum mit grösseren Turbulenzen rechnen. Interessanterweise sendet der Volatilitätsindex für die Schweiz, der VSMI, lediglich ein neutrales Signal. Hierzulande rechnen die Anleger offenbar mit ausgeprägteren Kursbewegungen.
Auch in den Umfragen unter Privatanlegern und unter Investmentprofis ist nichts mehr vom Pessimismus wie zum Jahresanfang oder im Mai zu spüren. Herrschte noch vor wenigen Monaten in beiden Lagern Katzenjammer, haben die Bullen gegenüber den Bären jüngst wieder die Oberhand gewonnen.
Nicht nur bei Aktien, auch bei Hochzinsanleihen, deren Aufschläge gegenüber US-Staatsanleihen zuletzt wieder massiv gefallen sind, lässt sich der wiederaufkeimende Optimismus beobachten. Dasselbe Bild präsentiert sich bei den Währungen der wichtigsten Industrieländer oder beim Move-Index, der die erwarteten Schwankungen für US-Staatsanleihen wiedergibt.
Stolpersteine in Sicht
Für die Börsen haben damit die Risiken von Kursrückschlägen zugenommen. Ist der Grundtenor unter den Investoren unisono positiv (oder negativ), droht oftmals eine Gegenbewegung.
Und an möglichen Auslösern für einen Stimmungsumschwung mangelt es nicht. So tendiert der Rohölpreis seit rund zwei Monaten wieder klar nach unten. Von seinem Jahreshöchst Anfang Juni hat er zwischenzeitlich mehr als 20% eingebüsst. Hält die Schwäche an, könnte dies – wie schon Ende 2015 – zu erhöhter Nervosität führen. In China wird das Wachstum derweil durch einen massiven Anstieg der Verschuldung und somit potenziell steigenden Kreditrisiken erkauft. Gleichzeitig vermag die Gewinndynamik vieler Unternehmen nicht zu überzeugen. Als wäre dies nicht genug, haben die politischen Unwägbarkeiten zugenommen: im Vereinigten Königreich mit dem Brexit, in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch und – je näher die Präsidentschaftswahlen rücken – in den USA. Was die Märkte momentan kalt lässt, könnte schnell wieder in den Fokus rücken.
Da der S&P 500 nahe seines Allzeithochs notiert und die meisten Anlageklassen in den vergangenen Wochen ebenfalls satte Kursavancen verzeichnet haben, dürfte heute kein schlechter Zeitpunkt sein, Risiken im Portfolio zu reduzieren. Denn den Regenschirm kauft man bekanntlich besser, bevor es regnet.
Vix-Index
Ein Mass zur Ermittlung der Anlegerstimmung ist die implizite Volatilität. Implizit deshalb, weil die erwartete Schwankungsbreite aus Optionspreisen abgeleitet wird. Der von der Chicago Board Options Exchange ermittelte Vix-Index ist der wohl bekannteste Volatilitätsindex. Der auch als «Angstbarometer» bekannte Vix spiegelt die erwartete Schwankungsbreite über die nächsten dreissig Tage, die aus Optionen auf die im S&P 500 (SP500 2182.87 0.86%) enthaltenen Aktien ermittelt wird.
Ein hoher Wert drückt aus, dass die Investoren mit erhöhten Schwankungen rechnen, während ein niedriger Wert Sorglosigkeit signalisiert. Augenfällig ist die gegenläufige Bewegung zwischen S&P 500 und Vix: Üblicherweise schiesst der Vix in turbulenten Zeiten in die Höhe, während ein steigender Aktienmarkt in der Regel mit einem niedrigen und/oder fallenden Volatilitätsindex einhergeht.
Seit Beginn der Datenreihe im Januar 1990 betrug der Durchschnittswert für den Vix ziemlich genau 20. Im Höhepunkt der Finanzkrise im Herbst 2008 erreichte das Barometer einen neuen Rekord von über 80. Seither hat es sich normalisiert und schwankte seit 2012 mehrheitlich zwischen 10 und 20. Zuletzt notierte es bei rund 12.
Die Privatanleger
Die von der US-Anlegervereinigung American Association of Individual Investors (AAII) wöchentlich erhobenen Umfragewerte geben Aufschluss darüber, wie Privatanleger die Aktienmärkte einschätzen. Die unter AAII-Mitgliedern durchgeführte Befragung ermittelt den Anteil der Investoren, der über die kommenden sechs Monate steigende, fallende oder stabile Aktienkurse erwartet. Üblicherweise fokussieren die Analysten auf die Differenz zwischen den positiven und den negativen Antworten.
Die Kennzahl verwendet man als Kontraindikator: Fällt die Differenz zwischen Bullen und Bären sehr gross aus – erwartet also eine deutliche Mehrheit der befragten Anleger steigende Kurse –, ist Vorsicht angebracht. Sind die Investoren ungewöhnlich pessimistisch, könnte hingegen eine Einstiegsgelegenheit locken.
Über die vergangenen zehn Jahre betrug die Differenz durchschnittlich knapp 4. Die beiden Parteien halten sich also fast die Waage. Der Grossteil der Beobachtungen lag zwischen –12 und 20. Notierungen ausserhalb dieses Bereichs liefern potenzielle Kauf- oder Verkaufssignale. Der aktuelle Wert von 7 liegt leicht über dem langjährigen Durchschnitt, weshalb er in der Heatmap hellrot eingefärbt ist.
Die Profis
Das US-Forschungsinstitut Investors Intelligence ermittelt seit 1963 die Stimmung unter unabhängigen Anlageberatern. Dafür durchkämmt das Unternehmen jede Woche über hundert Marktberichte, um die Markteinschätzung der jeweiligen Autoren herauszufiltern. Erfahrungsgemäss sind rund 45% der Profis bullish, 35% bearish und die restlichen 20% neutral.
Wie bei den Privatanlegern sind auch hier Extremwerte aufschlussreich: Überwiegen positive Einschätzungen signifikant, sollten Warnlampen aufleuchten. Dominiert eine negative Markterwartung, könnte das eine Trendwende zum Besseren anzeigen.
Die Überlegung dahinter ist simpel: Erwartet eine Mehrheit der Anlageberater einen steigenden Markt, darf davon ausgegangen werden, dass sie und ihre Kunden entsprechend positioniert sind. Je mehr Berater bereits positiv sind, desto schwieriger dürfte es deshalb sein, zusätzliche Käufer zu finden. Sind die Anlageberater jedoch mehrheitlich pessimistisch und haben sie sich vom Markt verabschiedet, nimmt der Verkaufsdruck ab, was den Boden für die nächste Hausse bereitet. Gemäss Investors Intelligence liegt der Anteil der Bullen mit 53% aktuell über dem Durchschnitt.
Smart Money
Die grossen Teilnehmer an den Terminmärkten in den USA müssen ihre Transaktionen für Aktien, Staatsanleihen, Rohstoffe und Währungen der Aufsichtsbehörde Commodity Futures Trading Commission (CFTC) melden. Sie publiziert die aggregierten Resultate im seit 2000 wöchentlich erscheinenden Commitment of Traders (COT) Report jeweils am Freitagabend. Stichtag für die Daten ist der vorherige Dienstag.
Im Bericht werden drei Arten von Marktakteuren unterschieden: kommerzielle (Produzenten, Händler, Endabnehmer), nicht kommerzielle (institutionelle Investoren, Hedge Funds) sowie nicht meldepflichtige Anleger (private Spekulanten mit kleinen Positionen). Die kommerziellen Teilnehmer, die Terminkontrakte in der Regel zu Absicherungszwecken einsetzen, stellen die grösste Gruppe. Investoren, die den COT-Report verfolgen, positionieren sich oftmals wie die nicht kommerziellen Händler, die aktiv investieren und sich nicht «nur» absichern. Sind die spekulativen Anleger aktive Käufer, so die Überlegung, dürfte ein Aufwärtstrend anhalten, wobei Extremwerte auch hier eine Trendwende ankündigen können. In den vergangenen Wochen erhöhten Hedge Funds ihre S&P-500-Long-Positionen.
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