Olivier Blanchard, Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, sieht noch keine Gefahr für die Weltwirtschaft aus den geopolitischen Krisenherden, wie er im Interview erläutert.
Für die Weltwirtschaft erwartet der Internationale Währungsfonds im Jahr 2014 nur noch ein Wachstum von 3,4% – 0,3% weniger als noch im April erwartet wurden. Die globale Konjunktur sei wegen den geopolitischen Risiken aber nicht in Gefahr, meint Chefökonom Olivier Blanchard im Interview.
Zur Person Olivier Blanchard wurde 1948 in Amiens in Nordfrankreich geboren. Promoviert hat er 1977 am Massachusetts Institute of Technology (MIT), an dem er seit 1982 lehrt und forscht. Zurzeit ist er dort beurlaubt und als Chefökonom und Direktor der Forschungsabteilung des Internationalen Währungsfonds (IWF) tätig.
Blanchard zählt zu den herausragendsten Vertretern der neukeynesianischen Theorie. Zu seinen Forschungsgebieten zählen die Geldpolitik, die Natur von Spekulationsblasen und die Determinanten von Arbeitslosigkeit. Blanchard ist unter anderem Autor von zwei Lehrbüchern in Makroökonomik. Eines davon verfasste er mit Stanley Fisher, der 2005 Gouverneur der israelischen Notenbank und im Mai diesen Jahres in den Gouverneursrat des Fed ernannt wurde.
Blanchard schreibt regelmässig auf dem Blog des Währungsfonds (http://blog-imfdirect.imf.org) über aktuelle wirtschaftspolitische Themen. Dort erklärte er im April, dass der makroökonomische Effekt der wachsenden Einkommensungleichheit eines der wichtigsten Themen der ökonomischen Forschungsagenda ist.
Herr Blanchard, das jüngste Update des Weltwirtschaftsausblicks (WEO) zeichnet ungeachtet des extrem schwachen ersten Quartals in den USA für die Weltwirtschaft ein recht optimistisches Szenario. Werden darin nicht die sich zuspitzenden geopolitischen Risiken und deren potenzielle Folgen ein wenig unterschätzt?
Die geopolitischen Risiken sind derzeit genau das: geopolitische und nicht systemrelevante, globale Konjunkturrisiken. Anders sieht es natürlich in den unmittelbar betroffenen Regionen aus. Die Folgen für die Ukraine liegen auf der Hand, und was Russland angeht, haben wir unsere Wachstumsprognose bereits nach unten korrigiert. Ich schliesse auch keineswegs aus, dass wir eine weitere Korrektur werden vornehmen müssen. Investitionen sind zum Stillstand gekommen und die Kapitalabflüsse sind enorm. Auch werden die Sanktionen auf die Konjunktur durchschlagen.
Und wie sieht es mit dem Nahen Osten aus?
Die entscheidende Frage ist natürlich, wie sich der Konflikt auf den Ölpreis auswirkt. Wie die Dinge derzeit stehen, gehe ich davon aus, dass Lieferengpässe durch vermehrte Produktion in Saudi Arabien ausgeglichen werden können. Diese Annahme findet auch in den Futures-Märkten ihren Niederschlag, die ja nicht sonderlich beunruhigt zu sein scheinen. Für beide Regionen, sowohl Russland als auch den Nahen Osten, ist aber keineswegs auszuschließen, dass die Konflikte weiter eskalieren und vor allem ein steiler Anstieg des Rohölpreises auch weltwirtschaftliche Konsequenzen entfaltet.
Wie steht es um die übrigen im WEO angesprochenen Risiken, etwa dem unebenen Wachstum in den Industrieländern?
In der Eurozone ist die Lage in der Tat ein wenig unausgeglichen, wobei konkret das Wachstum in Frankreich enttäuscht. Deutschland auf der anderen Seite hat angenehm überrascht. Mehr Ausgewogenheit ist aber in den USA zu beobachten. Die Wahrscheinlichkeit, dass die US-Wachstumsrate unsere jetzige Prognose übertrifft, ist dort sogar grösser als umgekehrt.
Woran liegt das?
Faktoren, die bisher Wachstum hemmten, fallen nicht mehr so stark ins Gewicht. Zum einen spielen die staatlichen Zwangseinsparungen, die als Bestandteil des Haushaltskompromisses vorgeschrieben wurden, kaum noch eine Rolle. Auch haben sich sowohl der Arbeitsmarkt als auch der Häusermarkt kräftig erholt.
Wie sieht es denn mit dem sich abzeichnenden Ende der ultralockeren Geldpolitik in den USA aus?
Auf dem Wege zur Normalisierung der Geldpolitik wird es unweigerlich den einen oder anderen Rückschritt geben. Ich glaube allerdings nicht, dass diese ausreichen werden, um die Erholung aus der Bahn zu werfen. Selbstverständlich kann es zu Korrekturen an den Märkten kommen. Das Finanzsystem wird diese Anpassungen aber verkraften können, ohne dass eine neue Krise ausgelöst wird.
Sie sprechen von der robusten Erholung am amerikanischen Häusermarkt. Einige Ökonomen hingegen warnen bereits vor der nächsten Preisblase. Teilen Sie diese Meinung denn gar nicht?
Nein. Im globalen Kontext gibt es natürlich einige Blasen, in London beispielsweise. In den USA hingegen ist die Preisentwicklung angemessen. Natürlich haben sich Immobilien seit dem Höhepunkt der Krise verteuert. Wenn man aber den S&P-Case-Shiller-Index zugrunde legt, dann ist es noch ein weiter Weg bis zu den Rekordpreisen, die damals erreicht wurden. Vor Zerplatzen der Preisblase lag der Index bei 180 Punkten, heute sind es nur 150. Ich bin vielmehr über Faktoren besorgt, die den Aufschwung eher bremsen. Dazu zählen die weiterhin strikten Anforderungen der Banken an Kreditnehmer, wodurch viele potenzielle Hauskäufer von vornherein eliminiert werden.
Die US-Notenbankvorsitzende Janet Yellen gibt Rätsel auf, wenn sie betont, dass das Fed nach dem Ausstieg aus den Anleihenkäufen noch für beträchtliche Zeit am Nullzins festhalten will. Was könnte damit konkret gemeint sein?
Wir stimmen mit dem zu erwartenden Zeitrahmen des Fed voll überein. Konkret: Ich gehe davon aus, dass der Leitzins wieder ab Mitte kommenden Jahres erhöht wird. In genau welchem Monat das geschieht, ist nicht die entscheidende Frage, und die Märkte sollten auch nicht dem spezifischen Zeitpunkt übertriebene Bedeutung beimessen. Meine Sorge gilt der Tatsache, dass einige Investoren Positionen halten, die auf einen exakten Monat setzen und von denen erhebliche Schwankungen ausgehen könnten.
Was halten Sie von den qualitativen Aspekten der Geldpolitik, die Yellen eingeführt hat, beispielsweise der Langzeitarbeitslosigkeit und der Partizipationsrate, also der Erwerbsquote?
Die US-Notenbank hat ein duales Mandat, nämlich Preisstabilität und Vollbeschäftigung. Was genau mit Vollbeschäftigung gemeint ist, ist umstritten. Die Partizipationsrate hat sich aber während der Krise und während der Erholung bedenklich entwickelt. Sie verdient daher auf jeden Fall die Aufmerksamkeit des Fed. Nur unter Berücksichtigung dieser Kriterien kann Yellen kalibrieren, ob die Wirtschaft womöglich vor der Überhitzung oder einer Abkühlung steht. Sie tut das Richtige.
Die IWF-Chefin Christine Lagarde hat den Begriff «low-flation» geprägt. Ist das eine politisch korrekte Bezeichnung, um nicht die Gefahr einer Deflation ansprechen zu müssen – vor allem in Europa?
Derzeit sieht unsere Referenzprognose lediglich eine niedrige Inflation voraus. Gleichwohl bleibt Deflation ein Risiko. Ich würde die Wahrscheinlichkeit, dass wir bis Ende 2015 in Europa eine Deflation sehen werden, auf 25% schätzen. In vielen Ländern der Eurozone sind sowohl die staatlichen als auch die privaten Schulden weiterhin sehr hoch, und diese würden durch das Eintreten einer Deflation noch deutlich schwerer wiegen. Dadurch wiederum würde die Erholung in Europa in Gefahr sein.
Der WEO fordert Deutschland auf, die Einführung des Mindestlohns durch zusätzliche Massnahmen zu flankieren, um eine gerechtere Einkommensverteilung sicherzustellen und die Partizipationsrate zu erhöhen. Welche Massnahmen sind gemeint?
Wenn man sich nur auf einen gesetzlichen Mindestlohn verlässt, um das Wohlstandsgefälle abzubauen, dann treten früher oder später negative Beschäftigungseffekte ein. In Industrieländern wie Deutschland wäre es richtig, den Mindestlohn mit einer negativen Einkommenssteuer zu verbinden. Der gesetzliche Mindestlohn sollte ca. 60% des Durchschnittslohns betragen, ab 70% könnten die Beschäftigungseffekte problematisch werden.
Vor einigen Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, dass langsameres Wachstum in den Schwellenländern prognostiziert wird, während ausgerechnet die Industrieländer wieder kräftiger wachsen. Gehört der Vorsprung, den die Schwellenländer hatten, der Vergangenheit an?
Nein. Die Wachstumsraten in Deutschland und den USA sind noch deutlich hinter denen in den Schwellenländern. In den Jahren vor der Krise zeichneten sich die Emerging Market Länder durch ausserordentlich kräftiges Wachstum aus. Das Wachstum hat sich nun etwas verlangsamt, wobei die Raten noch beträchtlich über den in den gesündesten Industriestaaten liegen.
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