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13:22 Uhr - 28.12.2015

Schweizer Industrie auf Expansionskurs in den USA

Der Industriestandort Amerika erlebt eine Renaissance. Der Umbruch spornt auch immer mehr Schweizer Unternehmen an, das Wachstum in Übersee zu forcieren und neue Produktionskapazitäten aufzubauen.

Hochkonzentriert beugt sich Jalil Kizy über seine Werkbank. Mit der Pinzette in der Hand, der weissen Haarhaube und dem blauen Plastikkittel sieht er aus wie ein Feinchirurg, der mit viel Fingerspitzengefühl einen heiklen Eingriff vornimmt. Was er und seine Kollegen hier in der Werkstatt von Shinola machen, ist in der Tat ein mutiges Experiment: Ausgerechnet in der krisengeschüttelten Industriemetropole Detroit fertigen sie Uhren an – ein Gewerbe, das in den Vereinigten Staaten jahrzehntelang ausgestorben war. Umso grösser ist die Aufbruchstimmung in der Uhrenmanufaktur nahe dem Cadillac Place. Mehr als fünfhundert Arbeitsplätze hat die erst 2011 gegründete Firma Shinola bereits geschaffen. Das Sortiment hat sie inzwischen auf trendige Velos und Lederwaren ausgeweitet. Die Marke ist in den USA so populär, dass Shinola von L.A. über Miami bis New York mit eigenen Läden präsent ist.

Detroit schüttelt Rost abNach dem historischen Bankrott ist die Autometropole auf dem Weg zu einem überraschenden Comeback. Der Schrotthaufen ihrer Vergangenheit erweist sich dabei als ideales Experimentierfeld.
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Weniger bekannt ist, dass ein Schweizer Unternehmen erheblich zum Erfolg beiträgt. Die Uhren aus Detroit laufen mit Antriebskomponenten aus dem Baselbiet, wo die Ronda-Gruppe ansässig ist. Das Traditionsunternehmen zählt mit 20 Mio. verkauften Uhrwerken pro Jahr zu den weltgrössten Herstellern. Es hat beim Start des Projekts eine Schlüsselrolle gespielt und hält eine Minderheitsbeteiligung an Shinolas Muttergesellschaft Bedrock Manufacturing, hinter der Tom Kartsotis, der Gründer der Uhrenmarke Fossil, steht. «Wir wollten ein Zeichen setzen, dass man nicht alles nach Asien auslagern muss», sagt Ronda-Chef Erich Mosset. «Shinola ist für die Kunden eine spannende und sehr emotionale Story, denn Detroit steht für die Industrie in Amerika. Wir sind stolz, dass wir beim Comeback der Stadt mithelfen und neue Arbeitsplätze schaffen können», fügt er hinzu.

Was in Detroit passiert, lässt sich im ganzen Land beobachten. Überall in den Vereinigten Staaten gibt es Anzeichen, dass die Industrie den Rost der Vergangenheit abschüttelt und wieder in die Gänge kommt. Mit der Auslagerung von Produktion in Niedriglohnländer gingen in Amerika seit den Achtzigerjahren Millionen von Jobs im verarbeitenden Gewerbe verloren. Besonders schmerzhaft war der radikale Stellenabbau während der letzten Rezession. Der Kahlschlag markierte jedoch einen Wendepunkt. In China und anderen aufstrebenden Volkswirtschaften steigen die Löhne rasch, was die US-Industrie wettbewerbsfähiger macht. Hinzu kommen niedrige Energiepreise, ein verlässliches Rechtssystem und Offenheit für neue Technologien. Um rasch auf Kundenbedürfnisse reagieren zu können und Zulieferketten kurz zu halten, setzen deshalb immer mehr Konzerne wieder auf die Fertigung im Megamarkt Amerika.

Schweizer Branchenleader wie ABB (ABBN 18.06 0.84%) erkennen diese Vorteile. Seit 2010 hat der Energie- und Automationstechnikkonzern für rund 10 Mrd. $ drei grosse Akquisitionen in den USA vollzogen. Mit 7,5 Mrd. $ Jahresumsatz und 26  300 Mitarbeitenden sind die USA zum grössten Absatzmarkt für ABB avanciert. Ein weiteres Bekenntnis zum Standort Amerika hat der Konzern im Mai mit der Eröffnung eines Roboterwerks an einem bestehenden Standort unweit von Detroit gemacht. Unter den vier grossen Herstellern von Industrierobotern ist ABB damit der erste, der in den USA vor Ort produziert.

Roboter von ABB packen an

«Als einer der wichtigsten Märkte kommt Wachstum in Nordamerika eine grosse Bedeutung in unserer Konzernstrategie zu. Ein gutes Beispiel dafür ist die neue Anlage im Grossraum Detroit. Wir können unsere Lieferzeiten damit halbieren», sagt Greg Scheu, der bei ABB für die Region Americas verantwortlich ist. In der blitzsauberen Montagehalle, wo General Motors (GM 34.51 -0.26%) einst den Northstar-Motor entwickelte, stehen die ersten Roboter zur Auslieferung bereit. Zu den Hauptkunden zählen die Autobauer Ford (F 14.11 -0.42%), BMW (BMW 97.88 0.54%) und Honda. Wichtige Abnehmer sind ebenso der Luftfahrtkonzern Boeing (BA 144.54 0.7%) sowie die Nahrungsmittelhersteller Procter & Gamble (PG 79.92 0.16%) und Unilever (UNA 40.31 1.43%). Um die Kapazität zu steigern, baut ABB die Belegschaft von 500 auf 1000 Mitarbeitende aus. «In vielen Regionen der USA gewinnt die Industrie an Schwung. Grosse Dynamik spielt sich dabei genau hier in der Umgebung von Detroit ab», sagt Scheu.

Wie ABB sprechen auch andere wichtige Schweizer Exponenten bedeutende Investitionen in den USA. Roche (ROG 275.9 0.66%) (RO 277.5 0.82%) hat sich mit der Vollübernahme der Biotech-Tochter Genentech und dem Kauf von InterMune noch stärker in Kalifornien engagiert. Bei Novartis (NOVN 86.45 0.76%) kommt die 2010 akquirierte US-Augenheilsparte Alcon für ein Fünftel der Einnahmen auf. Nestlé (NESN 74.25 0.88%), der Alcon zuvor gehörte, hat mit dem 12 Mrd. $ teuren Babynahrungsgeschäft von Pfizer (PFE 32.42 -0.61%) 2012 die gewichtigste Akquisition seit Jahren vollzogen. Für helvetische Finanzriesen wie UBS (UBSG 19.51 0.52%), Credit Suisse (CSGN 21.87 0.88%), Zurich und Swiss Re (SREN 98.9 0.46%) bleibt Amerika trotz aller Querelen ein zentraler Markt.

zoom«Besonders im Industriesektor stellen wir fest, dass immer mehr Schweizer Unternehmen in den USA investieren oder Investitionen planen. Das, um ihre Präsenz im amerikanischen Markt auszubauen oder sich neu zu engagieren», sagt Derek Baraldi, der bei UBS das Geschäft mit Unternehmenskunden für die Region Americas leitet. Für Exporte aus der Schweiz sind die USA nach Deutschland die zweitwichtigste Destination. In den vergangenen fünf Jahren hat das Volumen der Ausfuhren annähernd 40% auf knapp 30 Mrd. Fr. zugenommen. Gemäss Daten des U.S. Department of Commerce umfassen die Direktinvestitionen aus der Schweiz über 220 Mrd. $, womit das kleine Land der siebtgrösste Investor in den USA ist. Schweizer Arbeitgeber kommen in den USA für mehr als 460 000 Stellen auf, die meist überdurchschnittlich bezahlt sind.

KMU sehen neue Chancen

Ein neuer Trend ist, dass mittelständische und kleinere Unternehmen vermehrt Chancen im Westen sehen. «Das Interesse ist immens. Die Anfragen von Schweizer Firmen haben sich bei uns in den letzten zwei Jahren mehr als verdoppelt», sagt Fabian Stiefvater, Chef der US-Repräsentanz von Switzerland Global Enterprise. Der Exportförderer des Bundes ist Teil der Schweizer Botschaften und Konsulate und hilft KMU sowie Start-ups beim Eintritt in neue Märkte. Den meisten Unternehmen gehe es dabei nicht darum, Arbeitsplätze aus Kostengründen in die USA zu verlagern, hält Stiefvater fest. «Um im US-Markt zu bestehen, ist es in immer mehr Branchen aber entscheidend, lokal zu produzieren. Für Unternehmen, die bereits einen nennenswerten Teil der Einnahmen in den USA erwirtschaften, ist ein amerikanischer Standort damit ein logischer und wichtiger Schritt, um sich hier weiter zu etablieren.»

zoomGas geben vor allem Zulieferer, die von der raschen Erholung der US-Autoindustrie profitieren. Entsprechend betriebsam geht es im Werk von Autoneum (AUTN 202.3 0.1%) eine Fahrstunde südlich von Detroit zu. Die frühere Sparte von Rieter (RIEN 186 0%) fertigt hier unter anderem Teppichsysteme für den Ford F-150, das meistverkaufte Auto Amerikas. «Wir fahren momentan drei Schichten an fünf bis sechs Tagen pro Woche», sagt Qualitätsleiter Don Belkofer bei einem Rundgang. 2014 hat Autoneum erstmals mehr Umsatz in Nordamerika erwirtschaftet als in Europa. «Das zeigt, wie wichtig dieser Markt für uns geworden ist», erklärt CEO Martin Hirzel. Die Gruppe hat dieses Jahr zwei weitere Werke in Indiana und Ohio eröffnet und baut gegenwärtig einen dritten Standort in Mexiko auf. «Nordamerika ist für Autoneum sehr spannend, weil die ökonomischen Grundbedingungen stimmen. Auch hilft die traditionell liberale Wirtschaftspolitik», merkt Hirzel an.

Bedeutende Investitionen spricht ebenso Feintool (FTON 85.7 -0.35%). Der Feinschneidespezialist hat den Umsatz in den USA verglichen mit dem Stand von vor der Krise mehr als verdoppelt und die Produktionskapazität der Werke in Nashville sowie in Cincinnati erheblich ausgebaut. «Wir profitieren vom robusten Wachstum des Gesamtmarktes. Viel Potenzial eröffnet uns zudem, dass Hersteller wie GM und Chrysler auf effizientere Getriebe setzen», sagt CEO Heinz Loosli. «Derzeit prüfen wir die Expansion in weitere Anwendungen und Segmente, was einen zusätzlichen Standort in den USA bedingen würde», fügt er hinzu.

Georg Fischer (FI-N 678 0.44%) setzt für den Einstieg «in den vielversprechenden Automarkt Nordamerika» derweil auf die Kooperation mit dem kanadischen Zulieferer Linamar. Dazu haben die beiden Konzerne im Sommer ein Joint Venture gegründet, das im Südosten der USA eine Druckgussfabrik bauen wird. Auch Dätwyler (DAE 140.9 -0.7%) hat mit der Akquisition von Columbia Engineered Rubber die lokale Präsenz gestärkt.

Ausbildung auf Schweizer Art

Expansionspläne gibt es über alle Branchen hinweg. Der Schweizer Helikopterpionier Marenco etwa ist auf der Suche nach einem US-Standort, der Serviceleistungen und Produktion umfassen soll. Bereits fest in Amerika etabliert hat sich die Bühler Group. Der Ausrüster für die Nahrungsmittelindustrie engagiert sich mit ABB, Burckhardt Compression (BCHN 306.75 0.25%), Givaudan (GIVN 1829 0.77%), Feintool, LafargeHolcim (LHN 49.78 -0.1%), Nestlé, Schindler (SCHN 168.5 0.9%), Kudelski (KUD 13.95 1.09%) und weiteren Schweizer Industriekonzernen für ein Programm, das die Lehrlingsausbildung in den USA nach dem Schweizer Modell fördert. Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann hat dazu mit seiner US-Kollegin Penny Pritzker im Juli feierlich eine Deklaration in Washington unterzeichnet.

Ein wichtiger Faktor für Schweizer Investitionen in Übersee ist der Buy American Act. Er verpflichtet Unternehmen, die an öffentliche Institutionen in den Vereinigten Staaten verkaufen, einen Teil der Wertschöpfung vor Ort zu erbringen. Das Gesetz kommt zum Beispiel beim 100 Mio. $ grossen Auftrag von Stadler Rail in Texas zur Anwendung. Der Zughersteller hat sich in diesem Zusammenhang vor wenigen Tagen entschieden, ein Montagewerk in Utah zu eröffnen.

Amerika wird zum gefragten WerkstandortAmerika ist immer für eine Überraschung gut. Noch vor wenigen Jahren galt die US-Industrie als hoffnungslos veraltet und im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr wettbewerbsfähig. Lesen Sie hier mehr.

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