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12:09 Uhr - 26.04.2016

«China steuert auf ein grosses Problem zu»

Joerg Wuttke, Präsident der EU Chamber of Commerce in Peking, erklärt im Interview mit FuW, warum er sich um die Überkapazitäten und die faulen Kredite in Chinas Wirtschaft sorgt.

China hat während Jahren über seine Verhältnisse gelebt. Das Land hat sich einem kreditfinanzierten Exzess hingegeben und sitzt nun in diversen Industrien auf horrenden Überkapazitäten. Diese Einschätzung stammt nicht von irgendeinem amerikanischen Hedge-Fund-Manager, sondern von Joerg Wuttke, dem einflussreichen Präsidenten der EU Chamber of Commerce in China. «Finanz und Wirtschaft» hat sich am Rand des Stars Symposium in Chengdu mit Wuttke unterhalten.

Herr Wuttke, die EU Chamber of Commerce in China hat in scharfen Worten das Problem der Überkapazitäten in der chinesischen Wirtschaft angeprangert. Tut sich nun endlich etwas?
Wir haben den Report erstmals 2009 herausgebracht, als die Überkapazitäten in der Wirtschaft bereits ein grosses Thema in Peking waren. Seither ist alles noch viel schlimmer geworden. Im letzten Herbst haben die Reformer in der Partei uns kontaktiert und gefragt, ob wir den Report aktualisieren könnten. Sie brauchen den Anstoss von aussen, um im Inneren etwas bewegen zu können. Präsident Xi Jinping hat gute Berater um sich, doch daneben besteht das alte System, das sich vor allem in den Provinzen zeigt, in dem jeder seine eigene Industrie schützt. Die Lokalregierungen lassen keine Marktbereinigung zu. Heute sind die Überkapazitäten in China so gigantisch, dass das Land auf ein grosses Problem zusteuert.

Bislang basierte Chinas Strategie darauf, die eigene Überproduktion zu exportieren. Funktioniert das nicht mehr?
Nein. China kann die Welt nicht mit Überkapazitäten beglücken. Erstens wollen die anderen Länder das nicht, und zweitens ist die Nachfrage schlichtweg zu klein im Verhältnis zur Überkapazität in China. Das Land sitzt gegenwärtig auf 350 Mio. Tonnen Überkapazität im Stahlbereich: Das ist mehr, als Europa, Japan und die USA zusammen produzieren.

Ihr Bericht macht die klare Aussage, dass das Problem zwar erkannt ist, aber dass keine Taten folgen.
Ja, das ist frustrierend. Um China rankt sich der Mythos, Peking könne alles kontrollieren. Viele Chinabeobachter haben die Erwartung, dass ein Problem, wenn es von Peking erkannt ist, auch gelöst werden kann. Doch die Überkapazitäten zeigen, dass das nicht immer stimmt.

Ist das, weil sich die Zentralregierung tiefgreifende Reformen der Wirtschaftsstruktur gar nicht leisten kann?
Das Problem sind vor allem die Lokalregierungen. Peking projiziert Wachstumsziele, was die Lokalregierungen veranlasst, Industrien bei sich anzusiedeln und auf Teufel komm raus zu verteidigen. Überall dort, wo die Regierung nicht beteiligt ist, sind keine Überkapazitäten zu sehen. Wieso? Weil diese Unternehmen in Konkurs gehen können. Wer nicht überlebensfähig ist, stirbt. Doch China zählt 150’000 staatseigene Betriebe in Sektoren wie Stahl, Chemie, Zement, Glas oder Schiffbau. Da geht niemand bankrott, sondern es wird immer mal wieder eine lokale Bank bemüht, neue Kredite zu sprechen und die Firma am Leben zu halten.

Und es ändert sich nichts?
Vielleicht schon. Im Dezember sagte der damalige Sasac-Minister, der Herr über die staatseigenen Betriebe, dass bei den Reformen niemand seinen Arbeitsplatz verliere. Nach dieser Aussage hat offenbar Xi Jinping den Mann entlassen. Der neue Sasac-Minister ist ein Reformer, er kennt das Thema der Überkapazitäten. Der Personalminister hat kürzlich gesagt, allein in den Bereichen Stahl und Kohle (Kohle 52.85 -0.19%) müssten 1,8 Mio. Arbeitskräfte abgebaut werden. Das ist im Gesamtkontext nicht viel, doch es ist vom Signal her eine signifikante Wende. Diese Wende kommt daher, dass Xi Jinping befohlen hat, das Problem jetzt endlich anzugehen.

Wieso handelt Xi erst jetzt?
Er war in den vergangenen Jahren extrem beschäftigt mit der Armeereform, er hat den Geheimdienst umstrukturiert und hat versucht, die Partei zu säubern. Xi hat in Wirtschaftsfragen extrem gute Berater, doch ihr Chef war lange anderweitig beschäftigt. Die Reformer um Xi kamen nie zum Zug, weil die Parteiführer in den Provinzen ihre Besitztümer verteidigt haben.

In einer echten Reform der staatseigenen Betriebe würden weit mehr als 1,8 Mio. Arbeitnehmer ihre Stelle verlieren. Kann sich Peking das überhaupt leisten?
Vor zwanzig Jahren war China deutlich ärmer als heute, in Asien tobte die Finanzkrise, und doch schaffte es Premier Zhu Rongji, harte Reformen durchzuführen und über 20 Mio. Arbeitnehmer freizusetzen. Zhu hatte den Mut zu einer Entscheidung, die wahnsinnig schwer war, die China aber auf einen Pfad gesetzt hat, der dem Land viele Jahre lang zweistelliges Wachstum beschert hat. Zhu zeigte: Wenn man will, kann man. Nun geht es darum, soziale Netze aufzuspannen, um die Arbeitslosen aufzufangen, umzuschulen und wieder zu beschäftigen.

Aber wir sprechen hier von der Schliessung von Stahlwerken oder Schiffswerften. Können diese Arbeiter umgeschult werden?
Das sind kapitalintensive Industrien, die ohnehin kaum neue Jobs schaffen. Die Philosophie müsste sein, kein gutes Geld dem schlechten hinterherzuwerfen. China muss Wettbewerb schaffen und sich von der Schlacke der Staatsbetriebe befreien. Das ist natürlich politisch schwierig. Wir haben damals in Deutschland erlebt, wie schwierig es war, die Kohlegruben und die Stahlwerke zu schliessen. Der Nordosten Chinas ist jetzt schon arm, dort wird das richtig schmerzen.

Nochmals: Kann sich Peking den Abbau von Millionen von Arbeitsplätzen leisten?
Die Alternative ist, dass man ökonomisch unproduktive Industrien am Leben erhält, den Bankensektor belastet, den Sauerstoff aus anderen Wachstumsgebieten herauszieht und am Ende eine Stagnation der Wirtschaft provoziert. China darf nicht den Fehler begehen, die Stagnation von Japan zu kopieren. Doch Peking ist bereits auf dem Weg dazu: Man investiert noch mehr in unnötige Infrastrukturprojekte, Kredite werden gestreckt, Zombie-Unternehmen gestützt. Das ist für China und die Welt sehr schlecht.

Weitere Infrastrukturprojekte zur Ankurbelung der Wirtschaft sind also sinnlos?
Ja. Leider greifen Chinas Politiker immer noch auf das alte Mittel zurück: bauen, bauen, bauen. China hat innerhalb von zwei Jahren mehr Zement produziert als die USA im ganzen letzten Jahrhundert. Wo führt das hin? 10 bis 20% aller chinesischen Unternehmen sind Zombies, da besteht keine Hoffnung mehr. Diese Zombies werden am Leben erhalten, weil keiner den politischen Mut hat, aufzuräumen. Es muss eine Klärung geben, das wissen Xis Berater genau. Aber es ist leider so: Der Reformeifer der Anfangsjahre scheint verebbt, man hält sich an Wachstumsziele, die völlig irrelevant sind. Ein Wachstum zwischen 6,5 und 7% ist Schautanzen. Das wird nicht stattfinden.

Sie glauben, es wird weniger sein?
Ja, es muss tiefer sein. Es ist für China gar nicht gut, so schnell zu wachsen.

Hat sich die Regierung in eine Ecke manövriert, indem sie dieses Wachstumsziel derart mit Nachdruck verkündet hat?
Leider ja. 6,5% kann man nur wachsen, wenn man einen soliden Servicesektor hat. Das ist heute noch nicht der Fall.

Wieso nicht?
Die Finanzbranche hat heute einen überdimensionierten Anteil am Dienstleistungssektor. Da ist viel heisse Luft drin, was die Wirtschaft aufbläht, ökonomisch aber keinen Nutzen schafft. Der Finanzsektor war früher 4% des Bruttoinlandprodukts, heute sind es 8,5%. Der Dampf in Chinas Finanzsystem muss aus dem Kessel raus. Da schwappt zu viel Geld herum und führt zu Blasen am Immobilien-, am Aktien- und am Bondmarkt.

Was ist ein realistisches Wachstumsziel?
Die Regierung wäre gut beraten, wenn sie kein Wachstumsziel mehr ausgeben würde, sondern nur Umwelt-, Bildungs- oder Ziele im Gesundheitswesen. Leider ist alles in China immer noch an quantitativen BIP-Zielen aufgehängt. So funktioniert das politische Anreizsystem: Wer als Lokalpolitiker seine Wachstumsziele erreicht, macht Karriere. Also werfen sie mit Geld um sich, bauen noch einen Industriepark, noch ein Opernhaus, noch eine nutzlose Brücke. Das sind kapitalvernichtende Unterfangen. Es führt früher oder später dazu, dass die Leute den Glauben an die heimische Wirtschaft verlieren und es zu Kapitalabflüssen kommt.

Wächst die Wirtschaft heute überhaupt mit den 6,7%, die ausgewiesen werden?
Kaum. Sie wächst nicht im Agrarsektor, sie wächst kaum in der Industrie, aber sie wächst stark im Servicesektor. In Gebieten wie dem Tourismus, dem E-Commerce, dem Gesundheits- und dem Erziehungswesen läuft viel. Aber im herstellenden Gewerbe sehe ich gegenwärtig maximal 1 bis 2% Wachstum. Das sieht man zum Beispiel am Lastwagenabsatz, der mit –25% einen völligen Einbruch erlebt hat.

Welche konkreten Schritte möchten Sie in den nächsten Monaten sehen, um ein besseres Gefühl zu erhalten, dass die richtigen Reformen endlich losgehen?
Ich sähe gerne eine Reform, in der sich die Lokalregierungen aus den 150 000 staatseigenen Betrieben zurückziehen und sie der Privatwirtschaft überlassen. Der Nexus muss gebrochen werden, wonach der lokale Parteisekretär seiner lokalen Bank den Befehl gibt, die lokalen Zombie-Unternehmen zu finanzieren. Zweitens mehr Transparenz im Finanzsektor: Der wahre Anteil an faulen Krediten im System ist viel höher, als offiziell ausgewiesen wird. Die Kapitalmärkte müssen renoviert werden; die Aktienmärkte sollten eigentlich das Geld aus den Privathaushalten in die gut geführten, gesunden Unternehmen leiten. Momentan ist der Aktienmarkt aber nichts anderes als ein Casino. Das schadet der Volkswirtschaft. Jetzt haben sie zwei sehr gute Leute in der Börsenaufsicht eingestellt, aber es wird sicher bis zu fünf Jahre dauern, bis Chinas Aktienmarkt eine gesunde Rolle spielen kann.

Was bedeuten die faulen Kredite für das Bankensystem? Droht eine Krise?
Die faulen Kredite sind ein Problem in den Bilanzen der Regionalbanken. Zahlreiche dieser Banken dürften zusammenbrechen. Das Problem kommt, wie man so schön sagt, von den Dörfern her. Die Gefahr einer systemischen Bankenkrise sehe ich weniger, denn die fünf grossen, nationalen Banken besitzen solide Bilanzen. Die würden eingesetzt, um die kollabierten Regionalbanken aufzufangen.

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