Zurück zur Übersicht
15:30 Uhr - 08.06.2015

Die bengalische Blase von 1769

Ende des 18. Jahrhunderts erobert das erste multinationale Unternehmen die Welt. Missmanagement, Gewalt und Profitgier führen jedoch zum Niedergang.

FuW-Serie«Finanz und Wirtschaft» stellt die grössten Spekulationsblasen der Geschichte vor – in welchem Kontext sie entstanden sind, was die unmittelbaren Konsequenzen waren und welche Bedeutung ihnen heute noch zukommt.

Lesen Sie hier weitere Beiträge der Serie:

Einleitung: Den Letzten beissen die Hunde
1. Folge: Die niederländische Tulpenmanie
2. Folge: Die Londoner Technologieblase von 1694
3. Folge: Die Mississippi-Blase von 1720
4. Folge: Die South Sea Bubble von 1720
Unweit der Londoner U-Bahn-Station Liverpool Street, wo sich heute die «Old Bengal Bar» befindet, errichtet die mächtige Britische Ostindienkompanie vor fast 250 Jahren ihr «bengalisches Warenlager». Die East India Company benötigt dringend Platz, um all die Handelsschätze aus dem Osten Indiens zu lagern. Stoffe, Gewürze, Salpeter, Indigo, Tee und vieles mehr fluten in die britische Kapitale. Geschichten über die aufbewahrten Reichtümer machen alsbald die Runde und lösen ein Spekulationsfieber aus, das für viele Londoner in Tränen enden wird.

1. Grossartige Gesellschaft

Die 1600 durch einen Freibrief von Königin Elizabeth I. entstandene Governors and Company of Merchants of London Trading to the East-Indies verfügt über Jahrzehnte hinweg über das Monopol im Handel mit Asien.

In mancher Hinsicht ist die Gesellschaft äusserst modern: Sie ist eine der ersten, deren Teilhaber nicht mehr mit ihrem gesamten Vermögen, sondern nur mit ihrem Aktienkapital haften. Sie wird von Managern geführt. Gleichzeitig ist die Kompanie das erste staatlich unterstützte Unternehmen, wie sie heute in Schwellenländern beliebt sind.

Eine normale Gesellschaft ist die Company allerdings nicht. Ausgestattet mit dem Handelsmonopol der britischen Krone, darf sie in ihren Überseegebieten Münzen prägen, Recht sprechen und Krieg führen. Zeitweise verfügt sie über eine Privatarmee von mehr als 200 000 Mann. Lange jedoch kann die Company kaum Erfolge vorweisen und steht im Schatten der grossen Konkurrentin, der niederländischen Ostindien-Kompanie.

Das Anlegerinteresse am Unternehmen ist entsprechend gering. In den rund vierzig Jahren nach dem Bersten der Südseeblase, von 1722 bis 1762, bewegt sich der Aktienkurs der Ostindienkompanie in einer recht engen Handelsspanne zwischen 100 und 150 £ (vgl. Grafik), die Anzahl gehandelter Aktien ist überschaubar. Neuigkeiten aus Indien vermögen den Aktienkurs kaum zu bewegen, die Entwicklungen an den grossen europäischen Börsenplätzen sind wichtiger.

Person der StundeRobert Clive (1725–1774)

General Robert Clive, auch bekannt unter dem Namen «Clive von Indien», spielt in der Kolonialisierung Indiens durch Grossbritannien eine entscheidende Rolle. Am 29. September 1725 in einfachen Verhältnissen im britischen Styche geboren, gilt er als schwieriger Schüler und ist bekannt für seine Vorliebe für Raufereien. Im Alter von 19 Jahren reist er 1744 erstmals nach Indien. In der für die East India Company entscheidenden Schlacht von Plassey besiegt Robert Clive die einheimische Armee und sichert der Company damit den Zugang zu den Reichtümern Ostindiens.

Nach der bengalischen Hungersnot eröffnet das britische Parlament 1772 eine Untersuchung zum Geschäftsgebaren der Company in Indien. Obwohl Clive sich massiv bereichert hat und dadurch zwischenzeitlich zu einem der reichsten Männer Europas aufsteigt, können ihm keine Verfehlungen nachgewiesen werden.

Am 22. November 1774 stirbt Clive 49-jährig in seinem Haus in Berkeley Square in London. Die Legende besagt, er habe sich selbst erstochen, sich die Kehle mit einem Brieföffner durchgeschnitten oder sei an einer Überdosis Opium gestorben.
Bild: ZVG
2. Entscheidende Eroberung

Das ändert sich in den 1760er-Jahren, als die Company die Kontrolle über das wohlhabende Bengalen erlangt, das das heutige Bangladesch und die indischen Bundesstaaten Westbengalen, Bihar, Jharkhand, Tripura und Orissa umfasst. Während Jahrzehnten hatte die  Gesellschaft in der Region Fuss zu fassen versucht, doch erst unter Robert Clive gelingt ihr der entscheidende Coup.

Die Schlacht bei Plassey («Palashi»), einem kleinen Dorf rund 140 Kilometer von Kalkutta entfernt, geht in die Geschichte ein. Obwohl zahlenmässig weit unter­legen, gewinnen die Streitkräfte der Ost­indienkompanie am 23. Juni 1757 dank List, gezielter Schmiergeldzahlungen und Unterstützung von Überläufern mit ihren rund 3000 Soldaten gegen die 50 000 Mann starke gegnerische Armee.

Mit dem Sieg über Siraj-ud-Daula, den Nawab (Stellvertreter des Moguls) von Bengalen, legen die Briten den Grundstein für die Eroberung des gesamten Subkontinents. Mit diesem Sieg erlangt die Ostindien-Kompanie den lange gesuchten Zugang zu den Schätzen Bengalens. Um das Ausmass der eroberten Reichtümer zur Schau zu stellen, belädt die Company über hundert Boote, welche Gold und Silber nach Kalkutta verfrachten. Auf einen Schlag macht Robert Clive seine Arbeitgeberin um 2,5 Mio. £ (heute: 232 Mio. £) und sich selber um 234 000 £ (heute: 22 Mio. £) reicher. In den folgenden Jahren verdrängen die Briten alle asiatischen, niederländischen und französischen Händler und errichteten ein Handelsmonopol.

3. Bengalische Beute

Als die Nachricht des Siegs die britische Hauptstadt erreicht, nimmt das Interesse an der Company markant zu. Ihre Aktien werden zu einem begehrten Spekulationsobjekt. Die Company erobert immer grössere Gebiete auf dem Subkontinent, die Gewinne fliessen nach London, und breite Kreise investieren in die Aktien.

Ein weiterer Meilenstein wird im August 1765 erreicht: Mogul Shah Alam II anerkennt die Dominanz der Company, indem er den Briten das «Diwani» über das bengalische Territorium gewährt – damit erhält die East India Company die Steuerhoheit über mehr als 10 Mio. Einwohner. Auf einen Schlag gewinnt das Privatunternehmen die Macht über die öffentlichen Finanzen eines Staats. Die Aktionäre jubeln, die Gewinnaussichten scheinen immens. Die Dividendenzahlungen werden laufend erhöht. Zusätzlich genährt wird das Interesse an den Aktien durch Clive, der seinen Freunden in Grossbritannien mit Nachdruck empfiehlt, in die Wert­papiere der Company zu investieren – nicht ohne zuvor selber Aktien im Wert von über 50 000 £ (heute rund 4,5 Mio. £) erworben zu haben.

Mittlerweile ist das Unternehmen ein den Welthandel dominierender Koloss geworden. Rund ein Sechstel aller britischen Importe wird über die Company abgewickelt, der Handel auf dem indischen Subkontinent ist fest in ihrer Hand.

Als die Neuigkeiten des «Diwani» die britische Kapitale erreichen, steigt das Handelsvolumen in der Folge auf über 4 000 000 £ an – das Dreifache des Vorjahrs –, und der Kurs springt von 165 £ im Januar auf 214 £ im Juli 1766, was einer Steigerung von 30% innerhalb von nur fünf Monaten entspricht. Im Mai 1767 verkauft Clive einen substanziellen Anteil seiner Aktien mit grossem Gewinn.

4. Höhepunkt und Hiob

Im Dezember 1768, als die Ostindien-Kompanie das Land für ihr Warenlager in London kauft, klettert die Aktiennotierung auf 276 £. Damit ist der Höhepunkt erreicht. Für einige Zeit tendiert der Aktienkurs ohne nennenswerte Ausschläge seitwärts. Am 23. Mai 1769 jedoch läuft die «Valentine» mit kostbaren Waren beladen in der britischen Kapitale ein und überbringt die Hiobsbotschaft: Haidar Ali, der Sultan von Mysore, hat ­Madras erobert. Innerhalb eines Monats bricht der Aktienkurs ein. Viele Londoner haben sich verspekuliert und stehen am Rand des Ruins. Der Abwärtstrend soll über die folgenden 15 Jahre anhalten. Erst im Sommer 1784 erreicht die Notierung den Tiefpunkt von knapp über 120 £, 55% unter dem Rekordhoch.

Weitere Negativschlagzeilen folgen. Während sich die Spekulanten in Grossbritannien die Wunden lecken, wütet von August 1769 bis Januar 1770 eine verheerende Dürre in Bengalen. Ein Grossteil der Ernte fällt aus. Im Unterschied zu früheren Herrschern unternimmt die Company nichts, um die Not in der Bevölkerung zu lindern. Im Gegenteil: Um ihre Einkünfte besorgt und unter Druck, Dividenden auszuschütten, zieht sie die Steuerschraube an, während Angehörige der Company in Erwartung steigender Preise Reisvorräte horten. Es kommt zur Katastrophe, Millionen von Bengalen verhungern.

5. Kontrollen und Kosten

Die Profitgier, Korruption und die Folgen der Hungersnot lassen die Erträge einbrechen. 1772, nur sieben Jahre, nachdem die Company das «Diwani» erhalten hatte, muss sie die britische Regierung um finanzielle Hilfe ersuchen. Die Firma steht vor einem Schuldenberg von 1,5 Mio. £ (heute rund 140 Mio. £) und ist mit Steuerforderungen der Krone von 1 Mio. £ konfrontiert. London stimmt der Rettung widerwillig zu, nimmt in der Folge aber vermehrt Einfluss. Die Kontrollen werden verschärft und die Kosten für Verwaltung und Armee auf die Kompanie überwälzt.

Aufgeschreckt durch Meldungen von Gewalt und Korruption, wird die Ostindien-Kompanie schrittweise zurückgestutzt. 1813 werden ihr die exklusiven Handelsrechte mit Indien entzogen. Zwanzig Jahre später folgen das Verbot, mit Indien zu handeln, sowie der Entzug des Tee-Handelsmonopols mit China.

Mit dem India Act 1858 wird das Ende der British East India Company eingeläutet: Sie wird verstaatlicht, alle Rechte und Pflichten gehen an Grossbritannien über. 1873 wird der East India Stock Dividends Redemption Act durch das britische Parlament verabschiedet, und im Jahr darauf wird die Company aufgelöst.

Die Anatomie der SpekulationsblaseDas fünfstufige Modell der Ökonomen Hyman Minsky und Charles Kindleberger beschreibt den idealtypischen Verlauf von Spekulationsblasen.
Lesen Sie hier mehr zum Thema.
zoom

Hat Ihnen der Artikel gefallen? Lösen Sie für 4 Wochen ein FuW-Testabo und lesen Sie auf www.fuw.ch Artikel, die nur unseren Abonnenten zugänglich sind.

Seite empfehlen



Kopieren Sie den Link [ctrl + c] und fügen Sie ihn in ein E-Mail ein [ctrl + v]. Aus Sicherheitsgründen ist kein Versand von E-Mails direkt vom VZ Finanzportal möglich.