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15:40 Uhr - 29.05.2015

«Ein Grexit würde keine Probleme lösen»

Moritz Kraemer, Chefanalyst bei S&P, glaubt an den Verbleib Athens im Euro, wie er im Interview mit FuW sagt. Der Ausfall gegenüber öffentlichen Gläubigern würde ihren Vorrang in Frage stellen.

Griechenland hat bis Ende Juni Zeit, um eine Finanzierung mit seinen multilateralen Geldgebern – Internationaler Währungsfonds (IWF), Europäische Zentralbank (EZB) und EU – auszuhandeln. Im Sommer muss es ihnen Milliarden zurückzahlen. Mit der Überbrückung der Sommermonate wäre es aber nicht getan, erklärt Moritz Kraemer, der das Rating von Staaten der Agentur Standard & Poor’s (S&P) leitet. Eine weiterer Aufschub der Verhandlungsfrist wäre daher nicht zielführend. Um die nächsten Jahre zu überstehen, sei ein weiteres Hilfsprogramm nötig. Verpasste Zahlungen an öffentliche Schuldner begründen für S&P zwar noch keinen Default, dazu brauche es den Ausfall gegenüber Privaten. Dass Athen deswegen nur diese bediene, sei aber politisch kaum denkbar. Auf dem Spiel stehe sonst das internationale Ratingsystem.

Herr Kraemer, was passiert, falls sich Athen bis Ende Juni nicht mit seinen Geldgebern einigt?
Das laufende Hilfsprogramm wäre Ende 2014 ausgelaufen. Die alte Regierung hatte mit Blick auf die vorgezogenen Neuwahlen eine Verlängerung bis Februar erwirkt, dann wurde es bis Ende Juni ausgedehnt. Das Programm könnte theoretisch ein drittes Mal verlängert werden, etwa bis September. Das würde aber keine Probleme mehr lösen. Anders als im Februar reicht die Liquidität Athens nicht mehr bis zum neuen Termin. Allerspätestens mit den Zahlungen an die EZB im Juli und August über fast 7 Mrd. € wäre Hellas zahlungsunfähig.

Was wäre die Alternative
Entweder eine provisorische Lösung, die wenigstens diese Zahlungen deckt. Doch man wird auch über ein weiteres Programm verhandeln müssen, das die Finanzierung der nächsten zwei Jahre sicherstellt. Statt das bestehende weiterzuziehen, könnte man daher direkt ein neues Hilfspaket aushandeln.

Könnte Hellas damit die Auflagen, denen es sich derzeit verweigert, umgehen?
Kaum. Griechenland verhandelt aus einer Position der Schwäche. Die Hauptkonfliktbereiche sind Pensions- und Arbeitsmarktreform. Hier wird Griechenland einlenken müssen. Verhandlungsspielraum besteht aber beim Primärüberschuss, also bei der Forderung, dass der Staat ohne Berücksichtigung der Zinszahlungen weniger ausgeben als einnehmen soll.

Warum?
So, wie sich Wirtschaft und Budget derzeit entwickeln, kann für das laufende Jahr kaum mehr von einem Primärüberschuss ausgegangen werden. Für 2014 konnte nur deshalb ein Primärüberschuss ausgewiesen werden, weil die Gewinne der EZB auf griechischen Bonds, die sie an die nationalen Zentralbanken ausgezahlt hatte, von diesen an ihre Finanzministerien und von dort an Griechenland weitertransferiert wurden. Das ist ungewöhnlich und hat zu erheblichen ausserordentlichen Einnahmen geführt. Die Zahlen für 2015 wird man erst im März oder April 2016 kennen, weshalb ein Kompromiss leichter fällt.

Was geschieht, wenn Athen am 5. Juni die rund 1,5 Mrd. € dem IWF nicht überweist?
Zunächst nicht viel. Der IWF hat ein eigenes Prozedere für säumige Schuldner. Irgendwann würde er den Verzug vermelden, obwohl das eher im Fall von Kap Verde interessant wäre – bei Griechenland ist das ohnehin jedem bekannt. Danach würde die Zahlung mit mehr Nachdruck verlangt. Sanktionen gibt es aber keine.

Griechenland könnte also nicht zahlen, ohne Konsequenzen zu befürchten?
Griechenland ist ein souveräner Staat und muss zunächst einmal gar nichts. Die Kooperationsbereitschaft der Kreditgeber würde aber deutlich abnehmen. Die EZB etwa hätte Schwierigkeiten, die Liquiditätsversorgung der griechischen Banken aufrechtzuerhalten. Sie könnten griechische Staatsschulden nicht mehr als Sicherheit hinterlegen, um sich bei der Notenbank zu refinanzieren. Aber es wäre schon sehr ungewöhnlich, wenn ein Land wie Griechenland gegenüber dem IWF nachhaltig ausfallen würde.

Es wäre das erste Mal, dass ein Industriestaat dem IWF Schulden nicht zurückzahlt.
Ja. Es gab allerdings auch nicht viele Industriestaaten mit einem IWF-Programm. Doch selbst bei Schwellenländern ist ein solcher Ausfall selten. Beispiele sind der Sudan, Somalia oder Simbabwe.

Reicht ein Zahlungsausfall gegenüber öffentlichen Schuldnern, um Hellas für bankrott zu erklären?
Wir würden nicht von einem Default sprechen. Es müssten die Schulden kommerzieller Gläubiger ausfallen. Es gab ja schon viele De-facto-Umschuldungen von Krediten des Rettungsfonds EFSF, etwa durch Verlängerung der Laufzeiten und Streckung der Coupons. Das wäre sonst jedes Mal ein Default gewesen. Das haben wir bewusst nicht so gehandhabt.

Und wenn Griechenland private Lieferanten und Löhne nicht mehr auszahlt?
Auch dann wäre es aus Ratingsicht kein Default, es muss sich um finanzielle Schulden wie Bankkredite oder Obligationen handeln. Sonst würde weltweit ständig irgendein Staat ausfallen.

Ein Default scheint damit aber so gut wie ausgeschlossen.
Überhaupt nicht. Die meisten Schulden werden zwar von öffentlichen Institutionen gehalten, aber ein substanzieller Teil gehört noch immer Privaten. Dazu zählen auch Anleihen, die nicht umgeschuldet wurden, weil unter schweizerischem oder britischem Recht emittiert.

Könnte Athen aber nicht gegenüber öffentlichen Gläubigern ausfallen und Private bedienen, um den Default zu vermeiden?
Wir glauben nicht an diese These. Öffentliche Gläubiger geniessen als Preferred Creditors, also bevorzugte Kreditoren, Vorrang – im Gegenzug dafür, dass sie noch Kredite sprechen, wenn das sonst niemand mehr tut. Diese multilateralen Kreditgeber werden in der Regel bis zuletzt bedient, das lässt sich auch empirisch beobachten. Bilaterale Kreditgeber werden meist vorher an Verlusten beteiligt.

Obwohl sie Griechenland nicht zwingen können, profitieren IWF, EZB und die anderen Euroländer also von dieser Konvention.
Es ist aus unserer Sicht politisch kaum denkbar, dass eine linksgerichtete Regierung zuerst Hedge Funds auszahlt, die die Anleihen billig kaufen konnten, nicht aber die europäischen Partner und den IWF.

Was, wenn das diesmal anders ist?
Wir registrieren bereits jetzt Zahlungsverzüge bei Lieferanten und gehen davon aus, dass die Vorrangigkeit offizieller Gläubiger weiter Bestand hat. Sollten wir merken, dass diese Konventionen gebrochen werden, wäre das einschneidend. Wir müssten uns dann überlegen, ob das Rating internationaler Kreditgeber wie der Weltbank noch gerechtfertigt wäre. Ich glaube, dass das in der ganzen Diskussion noch zu wenig verstanden wurde.

Würde ein Default den Grexit bedeuten?
Ich gehe davon aus, dass Hellas selbst im Fall eines Default im Euro bleibt. Ein Austritt würde die Probleme nur verschärfen. Die Schulden wären in einer neu eingeführten, schwächeren Lokalwährung noch schwerer zurückzuzahlen. Wir machen regelmässig Umfragen unter Investoren. Im Mai gaben nur 18% an, dem Euroaustritt eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% zu geben. Im März waren es 12%. Die Skepsis steigt also zwar, aber immer noch halten den Austritt nur wenige für wahrscheinlich.

Aber wäre denn eine schwache Landeswährung nicht die Chance für einen Neustart und mehr Exporte?
Mir scheint das eine sehr akademische Sichtweise. Ich sehe keine Exporte, die dadurch plötzlich boomen könnten.

Wie kann die EZB mit dem politischen Balanceakt umgehen, falls keine Einigung gelingt und es zu einem Default kommt? Sie ist schliesslich auch die Notenbank Griechenlands.
Es wäre eine sehr schwierige Situation für die EZB, dazu im ersten Jahr ihrer neuen Funktion als Bankenoberaufsicht. Die von den Banken gehaltenen Staatsanleihen müssten neu bewertet werden. Die Banken wären dann wohl nicht mehr nur einfach illiquide, sondern insolvent. Die Funktion des letzten Kreditgebers im Notfall, also des Lender of Last Resort, gilt nur für solvente Banken.

Die nach August zurückzuzahlenden Schulden sind sehr langfristig und teilweise zinslos. Ist dann der Spuk um die Akropolis vorbei bzw. Griechenland aus dem Schneider?
2015 ist zwar besonders herausfordernd. Aber auch danach werden ständig Zahlungen fällig. Die Darlehen des EFSF sind zwar für eine gewisse Zeit zinslos. Solange kein stabiler Primärüberschuss in Sicht ist, können aber nicht einmal die laufenden Zahlungen aufrechterhalten, geschweige denn künftige Zahlungen bewältigt werden. Griechenland ist also auch danach nicht aus dem Schneider.

Was für Veränderungen im Rating könnten bevorstehen?
Die nächste reguläre Überprüfung führen wir am 11. September durch. Das Rating könnte sich aber schon vorher ändern, sollten neue Ereignisse es erfordern. Wir könnten Griechenland auf Selective Default setzen. Das jetzige Rating von CCC zeigt diese Gefahr eines Teilausfalls bereits an. Tiefer, mit CC, ist derzeit etwa die Ukraine eingestuft. Sollte es aber zu einer Einigung kommen, könnte sich die Bewertung auch verbessern.

Wie gross ist die Ansteckungsgefahr?
Wesentlich geringer als 2012. Wir haben  eine Entkoppelung anderer Peripherieländer beobachten können, nicht nur in den Renditen, sondern auch in den Bewegungen der Einlagen bei Geschäftsbanken, bei der Kapitalflucht. Zudem steht heute eine Brandmauer aus dem Programm zum Kauf von Anleihen kriselnder Staaten OMT sowie dem Rettungsmechanismus ESM bereit. Und natürlich schützt auch das diesen Januar lancierte Anleihenkaufprogramm. Aber wie gesagt: 18% glauben an den Grexit. Sollte er doch kommen, wären 82% überrascht. Trotzdem erwarten wir, dass die Probleme temporär wären und nicht zu weiteren Defaults in der Eurozone führen würden.

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