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10:46 Uhr - 16.06.2015

«Das Ziel ist volle Mitbestimmung»

Professor Andreas Kellerhals, Direktor des EuropaInstituts der Universität Zürich, im Interview mit «Finanz und Wirtschaft» zur Position der Schweiz in Europa und zu Alternativen zum bilateralen Weg.

Die schwierige Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative zeigt, dass der bilaterale Weg der Schweiz in den Beziehungen zur EU Grenzen hat. Andreas Kellerhals hat eine Alternative entwickelt. Er stellt sie im Gespräch mit «Finanz und Wirtschaft» vor.

Zur PersonDer gebürtige Solothurner Andreas Kellerhals (Jahrgang 1958) hat an der Uni Bern Rechtswissenschaften studiert. Nach einem Praktikum und dem Erwerb des solothurnischen Fürsprech- und Notariatspatents 1988 absolvierte er ab 1990 ein LL.M.-Studium an der Tulane University in New Orleans. Dort erlangte er 1992 auch den Doktortitel in Jurisprudenz. Im selben Jahr avancierte er zum Direktor des EuropaInstituts an der Uni Zürich. Die Habilitierung an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Zürich (Thema: «Wirtschaftsrecht und europäische Integration») folgte 2004, seit 2006 ist er Titularprofessor für Wirtschaftsrecht, Europarecht und Privatrecht. Er leitet zudem den LL.M.-Lehrgang Internationales Wirtschaftsrecht der Uni Zürich und ist seit 2008 Mitglied der Wettbewerbskommission.Herr Kellerhals, wo steht die Schweiz nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative durch das Volk gegenüber der EU?
Vor der Abstimmung hatte die Schweiz ein Problem bezüglich des Ausbaus der bilateralen Verträge, vor allem wegen der institutionellen Frage. Die Existenz der Verträge war nicht in Frage gestellt. Nach der Annahme der Initiative haben wir nun ein Problem mit den bilateralen Verträgen überhaupt. Wenn die Initiative buchstabengetreu umgesetzt wird, ist sie mit der Personenfreizügigkeit und damit den bilateralen Verträgen nicht kompatibel.

Hilft das immer wieder geforderte bessere Verhandeln?
Nein, das Problem kann nicht über vermeintlich besseres Verhandeln gelöst werden. Im Fall der Kontingente sind diese nur dann kompatibel, wenn man sie so hoch ansetzt, dass sie nicht wehtun. Das würde aber nicht dem Geist der Initiative entsprechen. Der Inländervorrang ist auf keinen Fall kompatibel.

Und die Idee einer Schutzklausel?
Die EU wird für die Schweiz keine Sonderlösungen treffen, sie wird ihr keine Bedingungen gewähren, die sie ihren Mitgliedstaaten nicht gewährt. Die einzige Möglichkeit besteht darin, dass versucht wird, die bestehenden Ausnahmeregelungen innerhalb der EU grosszügiger zu interpretieren. Sie könnten dann auch der Schweiz gewährt werden. Darum sollten wir in allen Hauptstädten der Mitgliedstaaten das Gespräch suchen betreffend eine flexiblere Ausgestaltung der Personenfreizügigkeit.

Das wäre eine längerfristige Zielsetzung?
Ja, das ist so. Wir haben die dreijährige Übergangsfrist für die Umsetzung der Initiative. In dieser Zeit eine entsprechende Gesetzgebung zu erarbeiten und umzusetzen, ist praktisch unmöglich. Darum sollte man sich weniger auf das Gesetz konzentrieren als auf die Verordnung, die der Bundesrat zur provisorischen Umsetzung dann zu erlassen hat. Sie müsste halbwegs kompatibel mit der Personenfreizügigkeit sein. Man müsste der EU klarmachen, dass eine Umsetzung unterwegs ist. Wenn eine definitive Lösung in Aussicht gestellt wird, könnte die EU dem zustimmen. So können wir Zeit zur Umsetzung gewinnen.

Was ist von einer erneuten Abstimmung zu halten?
In irgendeiner Form wird es eine neue Abstimmung geben. Wenn der Bundesrat ein Gesetz vorlegt, ist mit einem Referendum zu rechnen. Es kann weiter eine Durchsetzungsinitiative der SVP geben, oder der Bundesrat bringt tatsächlich ein Umsetzungspaket zustande und unterstellt es dem obligatorischen Referendum. Und da ist schliesslich noch die Volksinitiative Rasa, die den entsprechenden Artikel aus der Verfassung streichen will.

Die Schweiz muss als Bittstellerin nach Brüssel, sie will etwas von der EU. Das ist eine schlechte Verhandlungsposition.
Grundsätzlich haben beide Seiten ein Interesse, dass die bilateralen Verträge erhalten bleiben. Allerdings trifft es schon zu, dass die Schweiz das Problem geschaffen hat. Dafür müssen wir eine Lösung finden. Aber es ist natürlich klar, dass die bilateralen Beziehungen zu Ende sind, wenn wir die Verfassungsbestimmung getreu umsetzen und sich die EU nicht bewegt.

Die Bilateralen IDas Schweizer Volk hat 1992 den Beitritt zum EWR knapp abgelehnt. Das war der Startschuss zum bilateralen Weg im Verhältnis zur EU. Die Verhandlungen zum ersten Paket bilateraler Abkommen dauerten bis 1999. Es umfasst die Personenfreizügigkeit, die technischen Handelshemmnisse, das öffentliche Beschaffungswesen, die Landwirtschaft, den Landverkehr, den Luftverkehr und die Forschung. Mit Ausnahme des letztgenannten handelt es sich dabei um für die Schweiz vitale Marktöffnungsabkommen. Das erste Paket hat die Besonderheit, dass die Personenfreizügigkeit über die sogenannte – vom Volk akzeptierte – Guillotine-Klausel rechtlich mit den übrigen Abkommen verknüpft ist. Wird die Personenfreizügigkeit aufgehoben, fallen die übrigen sechs Abkommen des ersten Pakets automatisch dahin.Das Interesse der Schweiz an den Bilateralen ist dennoch grösser als dasjenige der EU.
Ja, so gesehen sind wir in der schwächeren Position. Viele Leute glauben, dass in bilateralen Verhandlungen mit der EU die Ergebnisse jeweils offen sind. Dem ist jedoch nicht so, sie stehen von Beginn an fest. Die Schweiz übernimmt das EU-Recht. Möglich sind noch Diskussionen über Übergangsfristen oder Ausnahmen. Die EU ändert ihr Recht nicht wegen der Schweiz.

Wie sehen Sie die Bedeutung der Bilateralen für die Schweiz?
Die Verträge sind klar ein Vorteil für das Land. Es ist allerdings schwierig, das quantitativ exakt zu erfassen. Für die Schweiz ist der Zugang zum europäischen Binnenmarkt absolut zentral, das ist offensichtlich. Die Schweizer Wirtschaft ist international überall präsent, und sie ist eigentlich zu gross für das Land. Unser effektiver Heimmarkt ist nicht die Schweiz, sondern eben der Binnenmarkt. Wenn wir uns den Zugang zum Binnenmarkt erschweren, schiessen wir uns in den eigenen Fuss.

Haben sie auch Schwächen?
Sie haben uns gut gedient, doch sie haben eine grosse Schwäche. Dieser Weg, auf dem rund zwei Drittel unseres Aussenhandels beruhen, kann jederzeit plötzlich zu Ende sein, die Abkommen können jedes Jahr wieder in Frage gestellt werden. Es gibt keine langfristige Rechtssicherheit, wie die Masseneinwanderungsinitiative belegt. Das ist äusserst unklug. Wir müssen nach Alternativen suchen. Zudem sind sie nicht justiziabel, jede Partei legt sie nach eigenem Gusto aus.

Und sie sind sehr statisch, Weiterentwicklungen müssen neu verhandelt werden.
Und am Ende übernehmen wir das Recht dann doch. Nicht weil wir dazu verpflichtet wären, aber wenn wir es nicht tun, schaffen wir Handelshemmnisse, womit wir uns selbst schaden.

Darum ja auch die Debatte über die institutionelle Frage. Ist die vorgeschlagene Lösung, wonach der Europäische Gerichtshof, der EuGH, in Streitfällen abschliessend Recht sprechen soll, sinnvoll?
Der Bundesrat schlägt vor, dass der EuGH dieses Recht auslegen soll, weil es ja EU-Recht ist. Der Ansatz stimmt, aber das ist politisch nicht durchsetzbar, das Schweizer Volk wird das nicht akzeptieren. Es müsste eine andere Lösung gesucht werden, sie ist aber nirgends sichtbar.

Vorgeschlagen werden etwa ein Andocken an den EWR und den Efta-Gerichtshof oder eine Aufwertung der schon heute existierenden gemischten Ausschüsse.
Die gemischten Ausschüsse sind sektoriell ausgerichtet. Die Idee war eigentlich, gleichsam ein Dach über alle Abkommen zu spannen. Das ginge mit den gemischten Ausschüssen nicht. Das Andocken an den EWR bzw. den Efta-Gerichtshof wäre eine bessere Variante, auch wenn der Efta-Gerichtshof gegenwärtig nicht verbindlich für die EU-Staaten Recht spricht.

Sie haben als Alternative einen Binnenmarktvertrag vorgeschlagen. Was hat man sich darunter vorzustellen?
Unsere bisherige Strategie beruht allein auf den bilateralen Verträgen. Dieser Weg ist mehrheitsfähig, er kann aber stets von neuem in Frage gestellt werden. Mein Alternativvorschlag ist ein Binnenmarktvertrag. Aussenhandels- wie auch Aussenpolitik sind Interessenpolitik. Wir müssen uns klar darüber werden, was unsere Interessen sind und wie wir sie optimal wahrnehmen können. Bis heute gehen wir umgekehrt vor. Wir bestimmen zuerst das Gefäss, mit dem wir unsere Interessen wahrnehmen wollen.

Und welches sind diese Interessen?
Sie basieren auf der Erkenntnis, dass unser Wohlstand zu weit über 50% vom Ausland abhängt. Zuoberst steht die langfristige Sicherung des Verhältnisses zur EU und damit der Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Wir brauchen weiter Rechtssicherheit, eine Lösung der institutionellen Frage, keinen autonomen Nachvollzug mehr der EU-Gesetze und realistischerweise keinen EU-Beitritt. Schliesslich muss auch die Neutralität gewahrt bleiben. Der Binnenmarktvertrag basiert im Wesentlichen auf dem EWR und versucht den negativen Aspekten, die 1992 zur Ablehnung geführt haben, Rechnung zu tragen.

Welche Aspekte meinen Sie?
Kritisiert wurden die automatische Rechtsübernahme, die fremden Richter sowie die Personenfreizügigkeit. Letztere war und ist für die EU zentral, ohne sie wäre der bilaterale Weg undenkbar gewesen, davon wird die EU nicht abrücken. Fremde Richter wären, wenn überhaupt, kein Problem, im EWR wären wir im Gericht vertreten. Die Rechtsübernahme ist der heikle Punkt, der zu verbessern wäre. Ziel ist ein volles Mitspracherecht in der Binnenmarktgesetzgebung. Die heutigen EWR-Länder sind dem nicht abgeneigt. Die Schweiz wollte bereits 1992 eine solche Mitsprache, die EU gewährte sie jedoch nicht. Heute hat sich die Situation verändert. Für die EU ist der EWR mit grossem Aufwand verbunden, er hat sein Ziel nicht erreicht, die EU weiss nicht recht, was sie damit soll. Das eröffnet eine Chance. Wir schaffen aus dem EWR etwas Besseres, Neues und Attraktives. Daran hat die EU Interesse, auch als mögliches attraktives Gefäss für andere Länder wie etwa die Türkei oder Grossbritannien.

Wird das EU-Recht weiterentwickelt, müsste der Binnenmarktvertrag aber auch stets angepasst werden.
Nein, heute müssen die drei EWR-Staaten die Rechtssetzung der EU übernehmen. Der Binnenmarktvertrag würde dazu führen, dass die EWR-Staaten in den rechtssetzenden Gremien vertreten sind und mitentscheiden, wenn es um den Binnenmarkt geht. Die Schweiz kann das heute schon bei Schengen-Dublin.

Gibt es Anzeichen, dass die EU bereit wäre, da mitzumachen?
Ich habe mit verschiedenen Exponenten der EU darüber gesprochen, sie fanden den Ansatz interessant. Ich schlage vor, dass man parallel zum bilateralen Weg versucht, eine Alternative aufzubauen. Daran haben wir ein Interesse wegen der institutionellen Probleme und die EU, weil sie nicht recht weiss, was sie mit dem EWR soll. Mit Blick auf diese gemeinsame Interessenlage erscheint der Versuch sinnvoll.

Allerdings hat die EU im Moment noch ein paar andere Probleme.
Das Ziel ist eigentlich, die EU zu flexibilisieren, das strebt ja auch Grossbritannien an. Eine EU der verschiedenen Geschwindigkeiten. Der Binnenmarkt wäre für alle verbindlich, andere Bereiche dann nicht mehr. Die alte EU-Kommission hat dies stets doktrinär abgelehnt. Aber schon heute ist es so, dass nur drei EU-Mitgliedländer in allen Bereichen dabei sind, alle anderen haben irgendwo Ausnahmeregelungen. Diese Diskussion wird in der EU auch geführt.

Könnte Grossbritannien für die Schweiz eine Art Wegbereiter sein?
Das ist schwer zu sagen. Wir können nicht darauf hoffen, dass Grossbritannien wegen uns etwas tut. Aber wenn sich die Interessen decken, kann uns das entgegenkommen. Je umfassender die EU wird, desto schwieriger wird es, den Zentralismus aufrechtzuerhalten.

Wie müsste ein konkretes Vorgehen der Schweiz aussehen?
Man müsste den Prozess zunächst informell anstossen. Und zwar nicht nur in Brüssel, sondern auch in den Mitgliedstaaten. Vor allem in denjenigen, die ähnlich gelagerte Interessen haben könnten. Ich denke da am ehesten an westeuropäische Staaten. Das Vorgehen in Brüssel und in den Kapitalen müsste natürlich koordiniert werden. Letztlich sind es immer noch die Mitgliedstaaten, die in der EU das Sagen haben.

Sollte die Schweiz allein vorprellen oder schon von Beginn weg mit Verbündeten?
Man müsste wohl mit den EWR-Staaten sprechen, ob sie dazu überhaupt bereit wären. Gegen ihren Willen kann nichts erreicht werden. Der grosse Vorteil wäre, dass die EWR-Staaten etwas erhalten würden, sie müssten auf nichts verzichten. Ihre Mitwirkungsrechte würden gestärkt.

Nehmen wir das Worst-Case-Szenario an: Was würde es bedeuten, wenn die Bilateralen ohne Ersatz sterben würden?
Das würde der Schweiz erhebliche Probleme bescheren. Betroffen wären wichtige Branchen der Wirtschaft. Zudem würde ein problematisches Klima geschaffen, wir würden uns gleichsam selbst aus dem Binnenmarkt ausschliessen. Und es ist ganz klar, dass die WTO kein Ersatz sein kann. So ermöglichte beispielsweise erst das entsprechende bilaterale Abkommen, dass sich Schweizer Unternehmen im EU-Raum an öffentlichen Ausschreibungen beteiligen konnten.

Ist es denkbar, dass vonseiten der EU im Falle dieses Szenarios Druck auf einen EU-Beitritt der Schweiz entstehen würde?
Die EU würde uns sicher nicht dazu zwingen. Aber wir kämen nicht mehr in den Genuss von Vorzugsbehandlungen. Dadurch könnte indirekt wohl schon Druck auf die Schweiz in Richtung EU-Beitritt entstehen.

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