James Quarles, CEO der amerikanischen Sportdatenplattform Strava, sagt, weshalb das Unternehmen trotz IPO-Boom vorerst keinen Börsengang plant.
Tausende von Schweizer Sportlerinnen und Sportlern benutzen die Plattform Strava, auf der sie ihre Aktivitäten und Trainingsdaten offenlegen. Unter ihnen befinden sich auch hochrangige Manager wie Credit-Suisse-Rechtschef Romeo Cerutti, Amag-CEO Morten Hannesbo oder Benedikt Goldkamp, der frühere CEO und heutige VR-Präsident von Phoenix Mecano (PM 479 -1.74%).
James Quarles ist seit 2017 Kopf des weltweit wohl grössten digitalen Sportvereins. Im ersten Interview überhaupt mit einer Schweizer Zeitung traf «Finanz und Wirtschaft» den ehemaligen Facebook- und Instagram-Manager, um ihn zu den Plänen des Unternehmens und seinen Absichten in der Schweiz zu befragen.
Herr Quarles, wohl kein anderes soziales Netzwerk schafft es, dass nicht nur Profisportler, sondern sogar hochrangige Vertreter aus der Wirtschaft die Öffentlichkeit tief in ihr Privatleben – in diesem Fall ihre Sportaktivitäten – blicken lassen. Was macht Strava anders als der Rest?
Zunächst mal: Wir definieren uns nicht als soziales Netzwerk. Das wäre ein falscher Vergleich. Sport war schon lange ein soziales Bindeglied, bevor Facebook-Gründer und CEO Mark Zuckerberg geboren wurde. Wir wollen auch kein Ort sein, wo politische Streitigkeiten ausgetragen oder Katzenvideos publiziert werden.
Als was sieht sich Strava?
Wir sind ein digitaler Sportverein. Bei uns sollen sich Sportlerinnen und Sportler treffen, wir wollen Kameradschaft und die Zusammenarbeit in der Gruppe fördern. Bei uns treffen aktive Menschen auf Gleichgesinnte, die ein ähnliches Leistungsniveau aufweisen.
Aber weshalb öffnen sich Personen, die aufgrund ihrer Position sonst weitgehend verschlossen sind?
Wie auf jeder Plattform entscheidet jeder Benutzer, wie viele Daten er öffentlich zugänglich machen will. Viele Benutzer wollen ihre Freude an Outdoor-Aktivitäten mit anderen teilen und für ihre guten Leistungen ein digitales Schulterklopfen erhalten. Oder sie wollen mit ihren Routen, die sich exakt nachfahren lassen, andere inspirieren.
Sie bringen Erfahrungen von Facebook und Instagram mit. Welche Erkenntnisse sieht man bei Strava?
Was ganz wichtig ist: Auch bei einer globalen Plattform zählt zuallererst der lokale Bezug. Mit Facebook waren wir vor Jahren auf Geschäftsreise in Japan. Niemand dort interessierte sich dafür, was die Kardashians in den USA so treiben. Sie waren auf ihre japanischen Promis fixiert. Das gilt auch für den Sport. In der Schweiz wollen Radsportinteressierte vor allem sehen, wie früher Fabian Cancellara und heute der mehrfache Mountainbike-Weltmeister Nino Schurter trainieren und welche ihre bevorzugten Trainingsrouten sind.
Strava ist vor zehn Jahren gegründet worden. Sie bezeichnen sich noch immer als Start-up?
Ja. Wir sind immer noch dabei, unsere Benutzerbasis zu verbreitern. Deshalb investieren wir noch immer stark in unser Wachstum. Derzeit haben wir 40 Mio. Benutzer auf unserer Plattform. Unser Markt umfasst aber rund 700 Mio. aktive Sportlerinnen und Sportler. Wir sind also auch heute noch erst am Anfang einer grossen Story.
Wie andere Tech-Start-ups ist Strava im Silicon Valley zu Hause. Im Gegensatz zu einigen anderen aufstrebenden Jungunternehmen ist Strava kein «Unicorn» und hat bislang erst 70 Mio. $ an Investorengeldern erhalten.
Wir wollen nicht so schnell wie möglich wachsen, um dann festzustellen, dass wir womöglich viele Zombie-Benutzerkonten haben – also Konten, die nicht mehr verwendet werden. Unser Ziel ist ein nachhaltiges Wachstum mit Nutzern, die regelmässig auf uns zugreifen.
Venture-Capital-Investoren haben in der Regel nicht unendlich viel Geduld.
Wir haben das Privileg, dass wir auf Investoren zählen können, die unsere Strategie stützen. Wir hätten deutlich mehr Gelder hereinholen können. Aber es ist aus unserer Sicht nicht sinnvoll, Investorenkapital zu sammeln, wenn man dafür nicht direkt einen Verwendungszweck hat. Wir wollen wachsen, aber nicht um jeden Preis. Es gibt genug andere Start-ups, wo trotz Misserfolgen von Investoren weiter Geld hinterhergeworfen wird. Das ist ein gefährliches Spiel, das wir nicht mitmachen wollen.
In den vergangenen Wochen und Monaten haben einige Tech-Gesellschaften das freundliche Börsenumfeld für den Börsengang genutzt. Was ist mit Strava?
Derzeit sehen wir viele Börsengänge. Die Bewertung von zahlreichen Unternehmen wird neu definiert, der Markt ist empfänglich für gute Storys. Strava weist in der Tat das Potenzial auf, eine wunderbare Aktie zu sein. Wir könnten aber genauso gut von einer anderen Gesellschaft aufgekauft werden, um unsere Zukunftsvision zu beschleunigen.
Sie schliessen einen Börsengang aus?
Nicht grundsätzlich, aber im aktuellen Börsenhype auf jeden Fall. Ich selbst bin in meinen früheren Positionen bei Facebook und Instagram schon durch solche IPO-Vorbereitungen gegangen. Ich weiss, was es heisst, den Wert des Unternehmens kurzfristig zu maximieren. Das Management und der Verwaltungsrat verschwenden derzeit weder Zeit noch Gedanken bezüglich eines Börsengangs. Uns ist es derzeit wohler, unabhängig zu sein und unsere Richtung weiter zu beschreiten, die wir – und nicht potenzielle zukünftige Aktionäre – für richtig befinden.
Man liest verschiedene Versionen zur Profitabilität – vom erreichten Break-even bis zu anhaltenden Verlusten. Welche stimmt?
Wir sind noch nicht profitabel. Die Finanzierung ist sichergestellt, unsere Investoren vertrauen unserem langfristigen Ziel.
Welchem?
Wir wollen die nächste grosse Sportmarke des 21. Jahrhunderts werden.
Ein etwas gar hohes Ziel.
Vielleicht. Man kann sich aber auch vor Augen halten, wie viele Leute Strava täglich benutzen. Ein Produkt, das man so regelmässig nutzt, ist doch um einiges bedeutungsvoller als bloss ein bekanntes Logo auf einem Sportschuh. Vielleicht sind wir eines Tages nicht nur online, sondern auch physisch als Marke präsent. Alles hängt davon ab, wie wichtig wir für unsere Benutzer bleiben.
Wie will Strava profitabel werden?
Sicher nicht mit herkömmlicher Onlinewerbung. Wir setzen heute auf drei Säulen: Abonnements für zusätzliche Dienstleistungen, Kooperationsmöglichkeiten für Unternehmen sowie die Zusammenarbeit mit Stadtplanern. Hier sehen wir noch grosses Potenzial, auch in der Schweiz.
Was heisst das konkret?
Wir verkaufen keine Daten. Aber wir benutzen aggregierte und anonymisierte Daten, um damit mit Städten zu kooperieren. Dank der grossen Datenmenge ist es uns möglich, bessere Aussagen zu den bevorzugten Pendlerwegen von Radfahrern und Läufern zu machen. Das hilft Städteplanern, den Verkehr besser zu entflechten und sicherere Velowege zu bauen.
Ihr Vorzeigemodell ist London.
Es ist ein Paradebeispiel eines verflochtenen Verkehrs mit Privatautos, Bussen, Taxis, Velofahrern und Fussgängern, die alle ähnliche Wege beanspruchen. Mithilfe unserer Daten sind bereits deutliche Verbesserungen erzielt worden.
Und in der Schweiz?
Hier befinden wir uns in Sondierungsgesprächen mit Städten und Kantonen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
Im Juni findet in der Schweiz mit der Tour de Suisse eine der weltweit wichtigsten Radrundfahrten statt – mit Strava als Partner. Bei der Tour de France wurden 2018 bereits zwei Etappen auf Basis der von ihnen gesammelten Daten erstellt. Wann sehen wir in der Schweiz die erste Strava-Etappe?
Wir sponsern grundsätzlich weder Athleten noch Anlässe, aber wir beteiligen uns gerne mit unseren Daten. Dass die Tour de France sie benutzt hat, freut uns ausserordentlich. Was die Tour de Suisse plant, wissen wir nicht.
Globaler Sportler-Treffpunkt
Die Finanzkrise war erst gerade zu Ende gegangen, als die beiden Harvard-Abgänger Mark Gainey und Michael Horvath 2009 in San Francisco die Plattform Strava gründeten. Die Idee dahinter ist, Sportlern die Gelegenheit zu geben, ihre Leistungen digital zu verwalten und sie mit Gleichgesinnten zusammenzubringen.
Heute ist Strava die grösste Plattform im Sportbereich und vereinigt rund 40 Mio. Sportler aus 195 Ländern. Dominiert wird der «weltweit wohl grösste digitale Sportverein», wie sich das Unternehmen selbst bezeichnet, von Radfahrerinnen und Radfahrern. Strava ermöglicht es, entweder mit ihrer Smartphone-Applikation oder mit GPS-Geräten absolvierte Touren und verschiedene Leistungsdaten auf die Plattform hochzuladen. Dank der Visualisierung auf der digitalen Landkarte können andere Benutzer die Touren nachfahren oder -laufen.
Wie bei sozialen Netzwerken interagieren die Benutzer auf der Plattform miteinander und folgen sich gegenseitig. Im Gegensatz zu Facebook, Twitter (TWTR 34.4 -0.23%) und Co. forciert Strava die Vernetzung aber nicht. «Qualität kommt vor Quantität», sagt CEO James Quarles. Man wolle Sportler zusammenbringen, die sich leistungsmässig auf Augenhöhe bewegen. Nur dies bringe einen Mehrwert.
Richtig zugelegt hat Strava erst in den vergangenen vier Jahren. Das zeigt sich etwa an der Zahl hochgeladener Daten. Dauerte es acht Jahre, bis 1 Mrd. Aktivitäten auf die Plattform geladen waren, folgte die nächste Milliarde in nur achtzehn Monaten. Derzeit kommen pro Monat 1 Mio. neue Benutzer hinzu. Gross geworden ist Strava im Radsport, inzwischen sind Leistungen in über dreissig Sportarten – darunter auch Skitouren und Wandern – auf der Plattform erfassbar.
Deutliches Wachstumspotenzial sieht Quarles im Laufsport. Im vergangenen Jahr hat diese Sparte rund ein Fünftel zugelegt. Immer beliebter wird Strava für Pendler, die mit dem Fahrrad oder laufend zum Arbeitsplatz kommen. In London sind beispielsweise 70% der hochgeladenen Aktivitäten zurückgelegte Pendlerstrecken. Diese Informationen kann Strava in Geld verwandeln, indem sie sie anonymisiert Städteplanern zur Verfügung stellt, um Pendlerwege sicherer zu machen.
Auf ein Merkmal seiner Plattform ist der CEO besonders stolz: «Pro Minute, die unsere Nutzer auf Strava sind, sind sie 50 Minuten aktiv unterwegs. Dieses Verhältnis gefällt uns.» Im Gegensatz zu anderen sozialen Netzwerken werde es nie das Ziel von Strava sein, möglichst viel Zeit der Nutzer für sich zu gewinnen.
Hat Ihnen der Artikel gefallen? Lösen Sie für 4 Wochen ein FuW-Testabo und lesen Sie auf www.fuw.ch Artikel, die nur unseren Abonnenten zugänglich sind.