Philipp Bärtschi, CIO von J. Safra Sarasin, beunruhigt die Lage in Italien nicht. Die Weltwirtschaft wachse weiter. Besonders angetan haben es ihm die Schwellenländer.
Herr Bärtschi, die Finanzmärkte reagieren nervös auf das Scheitern der Regierungsbildung in Italien. Übertreiben die Börsen?
Die Anleger sind besorgt, da eine eurokritische Regierung die Beziehung zwischen der Europäischen Union, der Europäischen Zentralbank und Italien belasten würde. Im schlimmsten Fall könnte eine erneute Eurokrise entstehen. Das Einschreiten von Präsident Sergio Mattarella zeigt aber, dass es auch Gegensteuer von europafreundlichen Kräften gibt und es deshalb nicht so weit kommen dürfte. Die Euroschwäche scheint daher übertrieben.
Nun drohen Neuwahlen. Kommt es da nicht zu einem ähnlichen Ergebnis?
Nicht unbedingt. Italien ist ja bekannt für regelmässige Regierungswechsel. Deshalb kann sich durchaus ein anderes Resultat ergeben. Es kann auch sein, dass sich ein neuer Kandidat ins Spiel bringt – wie letztes Jahr in Frankreich. Dort rechnete ein paar Monate vor der Wahl niemand mit Emmanuel Macron.
Das politische Risiko beunruhigt Sie nicht?
Die Märkte werden beeinflusst, wenn sich wegen der politischen Entwicklung die Fundamentaldaten, also Wirtschaft und Unternehmensgewinne, ändern. Wichtig sind vor allem die Fiskal- und die Geldpolitik. Letztere befindet sich auf einem klaren Pfad der Normalisierung. Die US-Notenbank hebt die Zinsen graduell an. Wir rechnen nicht mit einem geldpolitischen Fehler der Zentralbanken. Das wäre der Fall, wenn sie die Zinsen zu schnell heraufsetzen.
Und fiskalpolitisch?
In den USA wirken Steuerreform und Stimulusprogramm unterstützend. Europa beurteilen wir neutral. Die Fiskalpolitik war in den letzten Jahren eher strikt. Eine Lockerung wäre deshalb positiv.
Droht in den USA wegen der Stimuli nicht eine Überhitzung und damit ein schneller Zinsanstieg?
In den USA besteht tatsächlich Überhitzungsgefahr, es herrscht beinahe Vollbeschäftigung. Bislang steigen die Löhne nicht. Doch bei der Präsentation der Quartalszahlen haben mehrere Unternehmen gemeldet, es sei schwieriger geworden, qualifizierte Arbeitnehmer zu finden. Ein gewisser Lohndruck ist deshalb zu erwarten.
Ab wann machen die höheren Zinsen den Aktien Konkurrenz?
Die Zinsen werden zum Problem, wenn sie höher sind als das Nominalwachstum – also die Summe aus Realwachstum und Inflation. Dann lohnt es sich nicht mehr, Geld aufzunehmen und zu investieren. Die kritische Schwelle dürfte in den USA bei 3,5 bis 4% für zehnjährige Treasuries liegen. Da die langen Zinsen in der Regel 50 bis 100 Basispunkte über den kurzfristigen Sätzen liegen, würde es kritisch, wenn der Leitzins in den USA über 3% steigt. Derzeit liegt die Spanne bei 1,5 bis 1,75%.
Das ist tiefer als in vergangenen Zyklen.
Früher lag das kritische Niveau eher bei 5%. Doch das Wachstum wird künftig geringer ausfallen, nicht zuletzt wegen der Demografie. Die Inflation dürfte ebenfalls tiefer liegen, als wir es gewohnt sind. In Erinnerung haben wir vor allem die Siebziger- und Achtzigerjahre, als Inflation und Zinsen unüblich hoch waren. In den Sechzigerjahren war das anders.
Nach Jahren der lockeren Geldpolitik droht die Fehlallokation von Kapital. Wie gross ist die Gefahr, dass sie zutage tritt, wenn die Zinsen steigen?
Besonders problematisch ist der Leverage – wenn Investoren Geld aufnehmen, um Finanzanlagen zu kaufen. Die langjährige Nullzinspolitik hat solche Carry Trades befeuert. Diese Strategien werden unattraktiver, wenn die Finanzierungskosten steigen und der Ertrag sinkt. Zahlen Anleger die Kredite zurück, kommen die Vermögenspreise zusätzlich unter Druck. Wir rechnen deshalb in vielen Anlageklassen mit geringeren Renditen und höheren Schwankungen.
Was bedeutet das für den Anleger?
Gerade im Kreditbereich wurden viele Hochrisikoanlagen mit Fremdkapital eingegangen – sei es bei Hochzins-, nachrangigen Bank- oder Pflichtwandelanleihen, den Coco Bonds. Hier sind wir eher vorsichtig. Da das wirtschaftliche Umfeld bis Ende 2019 positiv bleiben dürfte, kommen Risikoanlagen indes durchaus in Frage. Weil die Renditechancen bei Aktien deutlich besser sind, haben wir ihre Quote in Schwächephasen erhöht.
Auf welche Regionen setzen Sie?
Wir präferieren Schwellenländeraktien, die wegen des starken Dollars und der schlechten Nachrichten aus Ländern wie der Türkei unter Druck stehen. Die Schwäche sehen wir als Kaufgelegenheit. Vorsichtiger sind wir gegenüber defensiven Märkten wie der Schweiz und Grossbritannien.
Und bei den Sektoren?
Wir favorisieren Technologie. Die Branche wächst, die Bewertungen sind nicht übertrieben, und der Sektor profitiert von Megatrends wie Digitalisierung, Robotik und künstlicher Intelligenz. IT wird über ganze Branchen hinweg immer wichtiger – sei es in den Bereichen Gesundheit, Finanz oder Detailhandel. Wir mögen auch zyklische Konsumgüter, die in den USA von den Steuererleichterungen profitieren, weil mehr Geld für den Konsum zur Verfügung steht. In Europa dürften die Konsumausgaben ebenfalls anziehen.
Viele Experten setzen auf Finanzwerte.
Auch wir mögen Bankaktien. US-Institute stehen besser da als europäische. Wegen der politischen Wirren in Italien wurden Letztere stark abgestraft. Doch auch in Europa erholt sich die Wirtschaft. Das sollte den Banken helfen, ihren Gewinn überdurchschnittlich zu steigern.
Defensive Brachen wie Nahrungsmittel und Gesundheit schwächeln schon seit langem. Sehen Sie hier ebenfalls Chancen?
Seit den US-Wahlen zweifeln Anleger am Wachstumspotenzial der Gesundheitsbranche. Es ist für Pharmaunternehmen schwierig, Preiserhöhungen durchzusetzen. Auch Blockbuster kommen wenige an den Markt. Dadurch sinkt die Bewertung. Gegen defensive Wachstumsunternehmen spricht ferner, dass sie von vielen Investoren als Anleihenersatz erworben wurden. Steigen die Zinsen, schichten diese Anleger um.
Sie haben gesagt, Investoren müssten mit geringeren Renditen vorliebnehmen. Was heisst das konkret für Aktien?
Unser Jahresendziel für den SMI (SMI 8578.68 -0.68%) liegt bei 9400 – also gleich hoch wie Ende 2017. Das entspricht einem Plus von rund 8% zum heutigen Stand. Deshalb ist jetzt ein guter Zeitpunkt, Aktien aufzustocken.
Zurück zu den Schwellenländern: Mögen Sie auch ihre Anleihen?
Wir meiden Länder mit hoher Fremdwährungsverschuldung und geringen Devisenreserven wie die Türkei und Argentinien. Chancen bieten sich in Russland und Brasilien. Beide stehen wegen der politischen Lage unter Druck – in Russland sind es die westlichen Sanktionen, in Brasilien die Wahlen, die im Herbst stattfinden. Beide stehen aber fundamental gut da. Wir bauen daher Positionen auf.
Ziehen Sie Hart- oder Lokalwährungen vor?
Bei den Unternehmensschuldnern aus den Emerging Markets präferieren wir Hartwährungen. Die Gewinne ziehen an. Zudem ist die Verschuldung geringer als in den USA, wo die Spreads niedriger sind. Wir sind deshalb in Hochzinsanleihen deutlich untergewichtet und nehmen das Risiko lieber in den Emerging Markets. Die Lokalwährungen beobachten wir genau. Ihre Korrektur hängt eng mit der Stärke des Dollars zusammen, die noch etwas anhalten könnte. Irgendwann im Sommer dürften sich aber attraktive Einstiegsgelegenheiten bieten.
Gerade der Zerfall der türkischen Lira scheint extrem.
Aus Tradingsicht bietet sich vielleicht eine Gelegenheit. Wir spekulieren aber nicht kurzfristig, sondern richten die Portfolios langfristig aus. Deshalb sind uns Situationen lieber, wo trotz stabiler Fundamentaldaten zwischenzeitliche Übertreibungen auftreten – wie in Russland und Brasilien. In der Türkei sind die Fundamentals schwach und dürften sich sogar noch verschlechtern. Deshalb sagen wir: Hände weg von der Türkei.
Gilt das auch für Bonds der Europeripherie?
In Italien und Spanien sind die Risikoaufschläge zu gering, weil die EZB ihre Anleihen kauft. Da sie das Anleihenkaufprogramm auslaufen lässt, dürften sich die Risikoaufschläge ausweiten, denn die prekäre Schuldensituation wird sich – unabhängig von der neuen Regierung – nicht verbessern. Wir halten Abstand.
Wie geht es mit dem Franken weiter?
Die europäische Wirtschaft beschleunigt sich, und die EZB wird im zweiten Halbjahr 2019 die Zinsen anheben. Da sie dies im Vorfeld signalisiert, dürfte der Euro bis Ende Jahr wieder auf 1.20 Fr. steigen.
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