Alexander Ineichen, Gründer von Ineichen Research & Management, beurteilt das Börsenumfeld positiv. Sorgen bereiten ihm die massiven Eingriffe der Notenbanken.
Herr Ineichen, Sie messen aktuelle Trends, statt zu prognostizieren. Warum?
Mein Konzept des Nowcasting ist das Gegenteil von Forecasting. Statt die Zukunft subjektiv zu prognostizieren, versuche ich, die Gegenwart objektiv zu messen. Dazu bestimme ich die aktuellen Trends bei den Konjunkturindikatoren, den Gewinnrevisionen und den Börsenkursen. Ich mache aber keine Prognose, wann diese Trends enden. Nowcasting ist frei von Emotionen und ermöglicht deshalb bessere Investitionsentscheide.
Was spricht gegen Prognosen?
Mit Prognosen liegt man manchmal richtig und manchmal falsch. Die Folge ist ein wenig robuster Investmentansatz – stattdessen herrscht das Prinzip Zufall. Nowcasting funktioniert, weil Trends oft viel länger dauern, als allgemein erwartet wird. Schwieriger wird es, wenn Trends drehen. Beim Energiesektor zum Beispiel, der seit einiger Zeit schwach ist, hat das Nowcasting gut funktioniert. Da haben sich sowohl das Gewinn- als auch das Preismomentum mehr oder weniger zeitgleich abgeschwächt. Man konnte die Trendwende also objektiv messen und musste sie nicht voraussagen.
Wie gross ist die Gefahr, dass man mit Nowcasting dem Trend hinterherhinkt?
Der Hauptvorteil des Nowcasting ist, dass die beständigsten Trends in beide Richtungen richtig erfasst werden. Am Anleihenmarkt zum Beispiel sinken die Zinsen seit über drei Jahrzehnten. Seit Jahren prognostizieren gewisse Experten die Zinswende – bisher lagen sie immer falsch. 2016 sagten 72 von 72 Prognostikern steigende Zinsen voraus, doch die Zinsen fielen. Irgendwann hat irgendwer dann schon recht. Nur ist das eine wenig robuste Art, Investmententscheide zu fällen.
Die Zinsen tendieren immer noch abwärts?
Letztes Jahr ist die Inflation gestiegen, weshalb einige Momentumindikatoren vor der Zinswende warnten. Das war verfrüht, weil sich die Teuerung wieder zurückgebildet hat. Auch das Nowcasting gibt Fehlsignale, die eierlegende Wollmilchsau ist es nicht. Doch bei den grossen Trends ist man richtig positioniert.
Was ist die wichtigste Voraussetzung für die Zinswende?
Ich denke, es ist der Anstieg der Konsumentenpreise. In den Vermögenspreisen besteht schon lange Inflation. Was fehlt, sind steigende Löhne, die zu einer Anhebung der Konsumentenpreise führen.
Auch am Aktienmarkt ging es in den vergangenen Jahren oft hin und her. Kam es da ebenfalls zu Fehlsignalen?
An der US- und der Schweizer Börse zeigt der Trend seit 2009 nach oben. Es gab Unterbrüche, bei denen einige Indikatoren Fragezeichen aufgeworfen hatten – zum Beispiel im Februar 2016, als es eine kleinere Korrektur an den Aktienmärkten gab. Doch schon im April 2016 war alles wieder im grünen Bereich. Seither blieb es dabei.
Welche Märkte sind besonders robust?
In den USA zeigen Konjunktur, Gewinnrevisionen und Kurse nach oben, und dies seit Jahren. Das stärkt meine Überzeugung, dass das Umfeld positiv ist. Im Grossen und Ganzen gilt für Europa, die Schweiz und Japan das Gleiche, nicht aber für England. Schwieriger war die Lage in China, wo das wirtschaftliche Momentum über Jahre fiel, aber sowohl das Gewinnwachstum wie auch das Preismomentum positiv waren. Das heisst, die drei Pfeiler meines Ansatzes – Konjunktur, Unternehmensgewinne und Börsenkurse – zeigten nicht alle in dieselbe Richtung.
Verbessert sich die Lage auch in Italien und Spanien?
Auch dort sind die drei Pfeiler meiner Konjunkturmodelle seit längerem positiv. Interessant ist die Entwicklung bei den europäischen Banken. Oft hört man, sie hätten ihre Probleme nicht gelöst. Nur tendieren die Bankaktien seit über einem Jahr nach oben – auch die der italienischen Institute. Die Trendumkehr ins Negative wird man objektiv messen können – unabhängig davon, wann sie eintritt.
Was zeigt Ihr Modell für andere Sektoren?
Energie ist seit längerem schwach, und jüngst bröckeln auch die Immobilienaktien. Beim Gesundheitssektor gibt es geografische Unterschiede: In den USA und der Schweiz entwickelt er sich positiv, in Europa und England negativ. Besonderes Augenmerk messe ich dem US-Technologiesektor bei, der über 25% des S&P 500 ausmacht. Eine Trendwende bei den IT-Aktien hätte das Potenzial, die Anlegerstimmung ins Negative kippen zu lassen. Bisher sind noch keine Warnsignale aufgetreten – weder beim Gewinn- noch beim Preismomentum.
Die hohe Bewertung beunruhigt Sie nicht?
Nur ein bisschen. Ich würde eine hohe Bewertung mit dem Stolzieren auf einem gefrorenen See vergleichen – je höher die Bewertung, desto dünner das Eis. Zum Prognostizieren von Renditen ist sie allerdings fast nutzlos. Einzig Extremwerte lassen Langzeitaussagen über das künftige Abschneiden zu. Mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 16 oder 20 für die gängigsten Aktienindizes ist dies nicht möglich. Die Dynamik der Gewinne ist wichtiger als die Bewertung, und diese Dynamik lässt sich messen.
Haben zyklische oder defensive Sektoren die Nase vorn?
Zyklische Sektoren schneiden derzeit besser ab als defensive. Besonders zyklisch sind die Konsumgüter, und die sind schon lange positiv – mit der einen oder anderen Ausnahme wie bei den deutschen Autowerten, die seit einiger Zeit zur Schwäche neigen. Stark zyklisch ist auch der Grundstoffsektor, der Chemie- und Minenwerte enthält. In den USA hat dieser Sektor vor 74 Wochen auf positiv gedreht. In der Industrie ist fast alles im grünen Bereich. Die ebenfalls zyklischen Finanzwerte erholen sich seit rund einem Jahr. Dennoch scheint der Zenit überschritten, denn die Veränderungen seit Juli sind eher negativ.
Das beunruhigt Sie aber nicht, solange US-Technologiewerte keine Ermüdungserscheinungen zeigen?
Genau. Die US-Börse, die über 40% der Weltmarktkapitalisierung ausmacht, gibt weltweit den Takt an. Im S&P-500-Index wiederum dominieren die IT-Werte. Wenn dort der Wurm drin ist, kann es zum Dominoeffekt kommen, der alle Sektoren und Regionen erfasst.
Gibt es weitere Warnsignale, die einer Trendwende am Aktienmarkt vorausgehen?
Zwei wichtige Indikatoren sind die Steigung der US-Zinskurve und das relative Abschneiden von Finanzaktien. Beide sind objektiv messbar. Eine invertierte US-Zinskurve – die kurzfristigen Zinsen übersteigen die langen Sätze – deutet oft auf eine sich anbahnende Konjunkturabkühlung der Leitwirtschaft hin. Schwarze Wolken am Finanzaktienhorizont sind Warnsignale für Risikokapital aller Art – seien es Aktien, Unternehmens- oder Wandelanleihen und Immobilien.
Wie beurteilen Sie die lockere Geldpolitik der Notenbanken?
Viele Experten betrachten die Börse als besten vorlaufenden Indikator für die Wirtschaft, weil sie neue Informationen am schnellsten verarbeitet. Nur muss man die Ergebnisse derzeit mit Vorsicht geniessen, weil die Märkte von den Notenbanken dermassen verzerrt werden. Die Schweizerische Nationalbank wird oft als Hedge Fund bezeichnet, weil sie aggressiv und «auf Pump» Aktien kauft. Auch die zentrale Planungsbehörde in Japan – die Bank of Japan – erwirbt schon lange Aktien. Die Europäische Zentralbank kauft europäische Anleihen, die sonst niemand will. Derzeit erscheint zwar alles positiv, Anleger bewegen sich aber auf dünnem Eis.
Der anstehende Abbau der Bilanz der US-Notenbank und das Tapering der Europäischen Zentralbank könnten die Märkte also empfindlicher treffen?
Ich habe grosses Verständnis für die warnenden Stimmen. Es gibt viele Gründe, negativ zu sein. Fakt ist jedoch: Das Wachstum ist positiv, auch wenn es künstlich – oder soll ich sagen «planwirtschaftlich» – erzeugt wird. Bisher funktioniert das geldpolitische Experiment für alle mit Vermögen, doch historisch gesehen haben planwirtschaftlich organisierte Systeme die eine oder andere Tücke.
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