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11:10 Uhr - 28.07.2014

Das Say’sche Theorem

Die Erinnerung an den Ursprung der Angebotstheorie ist verblasst. Die Debatte über angebots- oder nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik aber lebt weiter.

Hätte der vor 200 Jahren lebende Unternehmer, Journalist und Ökonom Jean-Baptiste Say den legendären Spruch des früheren US-Präsidenten Bill Clinton gekannt («It’s the economy, stupid», es geht um die Wirtschaft, Dummkopf), hätte er ihn wohl für seine wirtschaftstheoretische Botschaft verwendet: «Es geht ums Angebot, Leute!»

Berühmte TheoremeDies ist die zehnte und letzte Folge einer neuen FuW-Serie: «Finanz und Wirtschaft» stellt populäre ökonomische Gesetze und Formeln vor – in welchem Kontext sie entstanden sind, welche Bedeutung ihnen heute noch zukommt und welche Köpfe dahinterstecken. Letzte Woche stand die Cobb-Douglas-Produktionsfunktion im Mittelpunkt. Im Herbst wird dann eine weitere Serie folgen. Bisher erschienen sind:

Teil 1: Das Okunsche Gesetz

Teil 2: Die Taylor-Regel

Teil 3: Die Kaufkraftparität

Teil 4: Die Quantitätstheorie des Geldes

Teil 5: Die Phillips-Kurve

Teil 6: Die Laffer-Kurve

Teil 7: Das Modigliani-Miller-Theorem

Teil 8: Die Random-Walk-Hypothese

Teil 9: Die Cobb-Douglas-Produktionsfunktion.
Der umtriebige Franzose vertrat die These, wonach, vereinfacht ausgedrückt, jedes Angebot seine Nachfrage schafft. Wer etwas herstellt, tut es letztlich nur deshalb, weil er sein Produkt gegen andere Produkte eintauschen möchte, will heissen, er investiert den Verkaufserlös oder gibt ihn aus, oder wenn er ihn spart, kaufen andere etwas damit. Der Anbieter, direkt und indirekt, bestimmt damit nicht nur über die Nachfrage, sondern es kommt – elastische Preise vorausgesetzt – auch nie zu Überproduktion, jedenfalls nicht zu einer strukturellen. Say trat damit Befürchtungen entgegen, wie sie im Sog der industriellen Revolution halb Europa beschäftigten.

Jean-Baptiste Say stammte aus einer mittelständischen Unternehmerfamilie und war zeitweise selbst Unternehmer. In jungen Jahren sah er während eines Englandaufenthalts mit eigenen Augen, was die Technisierung bedeutete, die durch die Erfindung der Dampfmaschine ausgelöst wurde: neue, raschere und günstigere Produktion und damit Marktchancen, aber auch soziale Härten und eine überforderte Politik. Der Franzose hatte ein ambivalentes Verhältnis zum Staat, hat ihn verteufelt, aber auch von ihm profitiert. Zur Person Jean-Baptiste SaySeinem Credo jedoch blieb er zeitlebens treu: Lieber keine als eine falsche Politik, weil diese den Markt behindert und damit das Elend noch grösser macht, statt den Wohlstand zu fördern, sprich den schnellen Warenaustausch, wie Say es formulierte.

Die Sache mit den Fenstern

Ein Erlebnis prägte seine wirtschaftspolitische Haltung wie kaum ein anderes: Bei seinem ersten Englandaufenthalt war er Gast in einer kleinen Pension. Plötzlich tauchten eines Morgens Handwerker auf und mauerten eines der beiden Fenster im Zimmer zu. Nach dem Grund für das unübliche Handeln gefragt, gab der Hausherr zur Antwort, er wolle die Fenster- und Türsteuer sparen, die das Parlament eben verabschiedet hatte. Say war nicht grundsätzlich gegen Steuern. Das Theorem des 1767 geborenen Franzosen Jean-Baptiste Say wirkt bis heute nach, wenn auch mehrfach modifiziert und neu benannt. Vor ihm hatte die Auffassung geherrscht, der Wert eines Gutes bemesse sich nach der Arbeit, die für seine Herstellung nötig sei. Dagegen lautet die Kernbotschaft des Say’schen Theorems, dass sich bei flexiblen Preisen jedes Angebot seine Nachfrage selbst schafft. Was angeboten und verkauft wird, schafft seinerseits wiederum Nachfrage, weil jeder seine Produkte gegen andere eintauschen will. Selbst wer den Erlös spart, sorgt indirekt für Nachfrage, weil andere dieses Geld ausgeben. Das Theorem hält sich an den klassischen liberalen Ansatz und fand in John Maynard Keynes seinen grössten Kritiker. Von Say wird kaum mehr gesprochen. Von seinem Vermächtnis, aus dem die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik wurde, hingegen schon. Stellvertretend dafür steht die US-Regierung unter Präsident Ronald Reagan, der sie – Stichwort Reaganomics – in den Achtzigerjahren praktizierte. Das Theorem im WortlautzoomDas konnte er bei seinem polyvalenten Verhältnis zum Staat auch nicht. Doch mit Fug und Recht – und vielen späteren Beispielen – konnte er so belegen, dass exzessive Abgaben nicht nur der Wirtschaft und damit der Allgemeinheit, sondern auch dem Verursacher, dem Fiskus, schaden.

In seinem Werk «Traité d’Economie politique» warnte Jean-Baptiste Say nicht nur vor einem engen Fiskalkorsett, sondern tat generell sein Verständnis der Nationalökonomie kund. Die Kernbotschaft: Ein erhöhtes Güterangebot zieht automatisch eine höhere Güternachfrage nach sich und belebt so die Wirtschaft.

Say hat seine «Gleichung» nie mathematisch ausformuliert und verfeinert, was Kritiker möglicherweise besänftigt hätte. Dies haben andere Neoklassiker in einer späteren Generation übernommen, so der britische Nationalökonom Alfred Marshall, zu dessen Schülern John Maynard Keynes gehörte. Jean-Baptiste Say erlebte nicht mehr, wie Keynes zu einem seiner grössten ideologischen Widersacher und der Neoklassiker überhaupt wurde. Keynes setzte dem vom Franzosen ausgehenden angebotsorientierten Modell das nachfrageorientierte gegenüber. Das Say’sche Theorem verteufelte er zwar nicht grundsätzlich, hielt es aber für viel zu starr und damit für unbrauchbar. Es klammere die Ungewissheit aus, kritisierte Keynes. Nehme die Ungewissheit überhand, verflüchtige sich jede Berechenbarkeit. Es werde gespart und gehortet, welches Angebot man auch immer unterbreite. In einer solchen Situation müsse der Staat fehlende Nachfrage kompensieren.

Anders als Keynes sagt der Name Say jüngeren Ökonomen kaum etwas. Sein Theorem kann selbst in Konturen kaum noch jemand wiedergeben. Stammbaum der VolkswirtschaftslehrezoomSay wird nicht mehr gelehrt, jedenfalls nicht im deutschsprachigen Raum. Das Theorem sei nur noch für eine enge Auslegung zu reservieren, heisst es. Tatsächlich ist die Ökonomie heute weit entfernt von der Tauschwirtschaft, das hat die Finanzkrise der Jahre 2007 und 2008 – keineswegs vergnüglich  – deutlich aufgezeigt. Der deutsche Wirtschafts- und Medienprofessor Thomas Dreiskämpfer nimmt Say dagegen in Schutz. In der Reihe «Medienökonomie 2010» schrieb er: «Ungeachtet der Auflösung, ob Ungleichgewichte auf (kurzfristigen) Nachfrageausfall zurückzuführen sind oder ob sie auf der Angebotsseite ausgelöst werden, bleibt das Say’sche Theorem bei langfristiger Betrachtung gültig.»

Wo Say recht hat

Gültig als Grundidee und adaptiert an die jeweiligen Umstände, wie zwei Beispiele aus jüngerer Vergangenheit zeigen. Die auf Jean-Baptiste Says Vermächtnis zurückgehende angebotsorientierte Wirtschaftspolitik zeigte ihre positive Wirkung im Amerika der Achtzigerjahre. Mit Steuersenkungen war es der US-Regierung unter Präsident Ronald Reagan gelungen, die Wirtschaft zu reanimieren und das Staatsdefizit zu reduzieren. Trotz respektive wegen Steuersenkungen – ganz im Say’schen Sinn – kam der Staat zu Mehreinnahmen. Arthur B. Laffer hatte den Effekt der Reaganomics, die als wirtschaftspolitischer Durchbruch gefeiert wurde, in seiner berühmten Kurve dargestellt (Die Laffer-Kurve).

Das andere Beispiel, das Say vor Freude im Grab hochspringen liesse, liefert der amerikanische Technologiekonzern Apple.  Spektakulärer noch als andere Unternehmen zeigt er auf, wie ein Angebot die Nachfrage diktiert, ja die iPods, iPhones und iPads haben geradezu ein neues Kommunikationszeitalter heraufbeschworen, die Konkurrenz angestachelt und einschliesslich der Zulieferer hunderttausendfach neue Stellen geschaffen. Aus Apple ist eine Geldmaschine geworden, die so heiss läuft, dass der Konzern trotz hoher Investitionen in Forschung und Entwicklung, der angestrengten Suche nach neuen Produkten und trotz Aktienrückkäufen nicht mehr weiss, wohin mit dem Kapital. Auf über 160 Mrd. $ hat sich die Liquidität in Apples Bilanz per Ende Juni 2014 angehäuft.

«Es ist das Angebot, Dummkopf», würde Jean-Baptiste Say den Kritikern und Neidern des Apple-Erfolgs zurufen. Und das Gleiche würde er der Politik empfehlen, damit sie aus der Zwickmühle von hohen Staatsschulden und mässiger Konjunktur entkommt.

Jean-Baptiste Say (* 5. Januar 1767 in Lyon, † 15. November 1832 in Paris)Jean-Baptiste Say wuchs als Kind einer Kaufmannsfamilie in Lyon auf. Die Familie gehörte zur protestantischen bürgerlichen Mittelschicht und war im Tuchhandel aktiv. Der junge Say betätigte sich zuerst im elterlichen Geschäft und machte, wie es damals in der Branche üblich war, ein Praktikum in England, wo ihn die industrielle Revolution nachhaltig beeindruckte.

Zurück in Frankreich, begann er eine schillernde Karriere, die ihn erst über viele Umwege mit über fünfzig zur Volkswirtschaftslehre brachte. In Paris wirkte er als Professor für politische Ökonomie, wobei ihn Politik und Wirtschaft zeitlebens beschäftigten. Mit seinem liberalen Credo hielt er nie zurück, zunächst als Journalist und Herausgeber einer Regionalzeitung in Südfrankreich und dann als eifriger Anhänger der Französischen Revolution. Say leistete freiwillig Armeedienst und wurde 1799 als Finanz- und Steuerexperte ins Tribunat der Finanzen unter Napoleon Bonaparte berufen.

In dieser Zeit verfasste Say seine erste Schrift («Traité d’Economie politique»), aus der das nach ihm benannte Theorem stammt. Say stützte sich auf die Thesen der klassischen Nationalökonomie, und offenbar hat ihn der Staatsdienst nur noch kritischer gestimmt. In seinem auf der Gleichgewichtstheorie fussenden Werk hat er für Steuern wenig übrig. Sie waren für ihn «nur künstliche Hindernisse, die den effizienten Einsatz des Einkommens verhinderten», schreibt der deutsche Finanzwissenschaftler Horst Claus Recktenwald. Das blieb nicht ohne Widerspruch. Auch Napoleon riss der Geduldsfaden, und er schmiss das streitbare Tribunatsmitglied hinaus.

Say baute daraufhin eine Baumwollfabrik auf und verkaufte sie offenbar mit Gewinn, denn wenig später wurde er Börsenspekulant. Der Wendungen nicht genug, hatte er nach Napoleons Niedergang keine Hemmungen, im Sold der französischen Regierung in England das dortige Wirtschaftssystem zu studieren, bevor es ihn zum Lehrberuf ans Collège de France verschlug.

Auch wenn Say als Begründer der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik gilt, wird seine Leistung weniger im Beitrag zur klassischen ökonomischen Theorie gesehen. Sein Vermächtnis ist, wie es die Wissenschaftliche Fakultät der Universität Münster formuliert, «deren Systematisierung und Verbreitung vor allem in Frankreich».

 

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