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16:15 Uhr - 11.08.2022

Die Teflonbörse ist zurück

Der Ausblick für die Aktienmärkte bleibt unklar. Für Unterstützung sorgen die niedrigeren Renditen.

Das grosse Schreckgespenst der Aktienmärkte hat jüngst an Bedrohlichkeit eingebüsst: Die Inflationszahlen haben in den USA und Europa zuletzt konsolidiert. Wer seit dem Tiefpunkt im Juni auf eine Erholung an den Börsen gesetzt hatte, wurde nicht enttäuscht. Die Rally beweist einen längeren Atem, als ihr manch einer zugetraut hatte.

Nach einem Plus von 15% seit Mitte Juni steht der US-Leitindex S&P 500 gegenüber Jahresanfang noch 14% im Minus (vgl. Grafik unten). Der technologielastige Nasdaq Composite hat gar 20% geschafft – und ist damit definitionsgemäss im Bullenmarkt. Die kleinkapitalisierten Werte, gemessen am S&P 600, befinden sich mit einem Plus von 17% fast in einer neuen Hausse.

Vergangene Woche führte nicht einmal der von China mit martialischen Tönen kommentierte Besuch von Nancy Pelosi in Taiwan bei Anlegern zu grösserer Unsicherheit. Auch der Volatilitätsindex Vix, der die erwartete Schwankung des US-Aktienmarktes am Optionsmarkt misst, zeugt von der überraschenden Stabilität: Mit einem Wert von unter 20 ist er auf den niedrigsten Stand seit April gefallen. Die Anlegerstimmung ist aber nicht besonders euphorisch: Ein Stimmungsindikator von Citi notiert auf einem neutralen Niveau, was immerhin für positive Aktienperformance in den nächsten zwölf Monaten spricht.

Europa hinkt hinterher

Für europäische Aktien ist die Erholung weniger ausgeprägt. Der SMI konnte seit seinem Jahrestief nur 7% zulegen. Die europäische Benchmark Euro Stoxx 50 hat zwar ein Plus von 12% geschafft – in Franken liegt die Performance jedoch ähnlich niedrig wie beim SMI (vgl. Grafik unten). Auffallend stabil zeigt sich seit Jahresanfang der britische Aktienmarkt. Der Londoner Index FTSE 100 profitiert von den dort kotierten Energieriesen, die dank hoher Öl- und Gaspreise zugelegt haben.

Die Teflonbörse, an der alle Unsicherheiten abperlen, zeigte sich schon im Juli: Trotz wachsender Rezessionssorgen brachte der US-Aktienmarkt die stärkste Monatsperformance seit November 2020 ein. So sorgte nicht für Panik, dass seit Anfang Monat die US-Zinskurve invertiert ist – die zweijährige Rendite von Staatsanleihen liegt über der zehnjährigen. In der Vergangenheit hat dieser Indikator relativ verlässlich Rezessionen vorhergesagt.

Die Inversion der Zinskurve wurde durch die gesunkenen langjährigen US-Renditen ausgelöst (vgl. Grafik). Dahinter stecken die Markterwartungen, dass der Erhöhungszyklus der Leitzinsen beim Fed früher als gedacht enden wird. Das wirkt sich positiv auf die Aktienkurse aus: Niedrigere Anleihenrenditen erlauben höhere Bewertungen an den Börsen.

Optimisten könnten zudem ein sich andeutendes Ende des negativen Konjunkturtrends erkennen. Der Citi-Überraschungsindex, der die Entwicklung der globalen Wirtschaftsdaten gegenüber den Erwartungen der Analysten abträgt, hat zuletzt nicht mehr unerwartet schlechte Wachstumssignale vermeldet.

Growth profitiert von niedrigeren Renditen

Von niedrigen Renditen profitieren auf globaler Ebene eher die hoch bewerteten Growth-Aktien als die günstigen Value-Titel. Das sieht man auch in der aktuellen Performance (vgl. Grafik unten). Die Wachstumsvaloren – darunter viele Technologiewerte – führen die Erholungsrally an, während die tiefer bewerteten Papiere dem Gesamtaktienmarkt zuletzt hinterherhinken.

Auch in der Sektorperformance innerhalb des weltweiten Aktienmarktes zeigen sich grosse Unterschiede, wer am stärksten von der aktuellen Hausse profitiert. Die Energietitel stechen heraus: Sie haben dank der steigenden Öl- und Gaspreise dieses Jahr über 34% zugelegt (vgl. Grafik unten). Im vergangenen Monat ist ihre Performance aber eher unterdurchschnittlich.

Dagegen konnten die am stärksten abgestraften Sektoren – Technologie und zyklischer Konsum – deutlich aufholen. Auch die Industrieaktien haben stärker als der Gesamtmarkt zugelegt. Die Versorgertitel, von Anlegern gerne als Anleihenersatz genommen, profitieren wohl vom Renditeabschwung: Sie erreichten nur dank des vergangenen Monats eine positive Performance seit Jahresanfang.

Die Bewertungen der Sektoren sprechen weiter für Kurse, die von tiefen Marktzinsen getrieben werden, denn Wachstumsaktien wie IT-Valoren und defensive Branchen wie der Gesundheitssektor sind gegenüber einer fünfzehnjährigen Historie immer noch sehr teuer (vgl. Grafik unten). Die sicheren Versorger sind gar so hoch bewertet wie nie in dieser Zeitspanne. Der globale Gesamtmarkt erscheint mit einem Quantil von 59% – so oft waren die Aktien günstiger bewertet – dagegen nicht sehr übertrieben gepreist.

Im historischen Vergleich billig zu haben sind aktuell die zyklischen Titel: Hier spielt wohl die Sorge um einen Wirtschaftsabschwung hinein, ebenso die Aussicht, dass die Hausse der Öl- und der Rohstoffpreise bald enden könnte. So sind die Valoren in den Sektoren Energie und Rohwaren am günstigsten bewertet. Das gilt auch für die von der Konjunktur stark abhängigen Finanz- und Industrieaktien. Wegen der Übertreibungen am Immobilienmarkt ist der Bereich trotz der niedrigen Bewertung wenig attraktiv.

Die Rezessionangst ist am Markt in den vergangenen Wochen gewachsen, während man der Inflation immer weniger Bedeutung zumisst. Für die Aktienmärkte war das eine gute Nachricht, da man weniger Zinserhöhungen angenommen hat und die Anleihenrenditen gesunken sind.

In solch einem Umfeld kann es wieder zu dem nach der Finanzkrise zu beobachtenden Muster des «Bad news are good news» kommen. Die Aussicht auf eine Lockerung der Geldpolitik stützt besonders die Kurse von defensiven Titeln und Wachstumsaktien – wenn denn die Daten zu Unternehmensgewinnen und Konjunkturdaten nicht gut, aber auch nicht allzu schlecht sind. Die Teflonbörse wäre dann zurück.

Doch Risiken bleiben. Ein abrupter Wirtschaftsabschwung ist nicht eingepreist. Die Analysten erwarten gar weiter steigende Unternehmensgewinne, was immer unwahrscheinlicher erscheint. Und nur weil sich die Inflation vorerst nicht mehr beschleunigt, ist die Gefahr noch nicht gebannt. Auf jeden Fall ist eine Wette auf Zykliker aktuell am riskantesten – trotz günstiger Bewertungen.

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