Marktbeobachter debattieren, ob an Wallstreet weiter ein Bärenmarkt herrscht oder ob Mitte Juni ein neuer Bullenmarkt begonnen hat. Die Indikatoren sind widersprüchlich.
Für Aktienanleger ist es die Frage der Stunde: Ist der Bulle zurück? Oder ist der Aufwärtstrend seit Mitte Juni eine Bärenmarktrally? Mit Sicherheit wissen das die Investoren erst im Nachhinein. Doch es gibt Indikatoren, die einen Hinweis geben, ob es sich eher um einen Bären- oder um einen Bullenmarkt handelt.
Zuerst aber ein Blick zurück. (siehe Box unten.) Der Bärenmarkt startete an Wallstreet am 3. Januar. Der marktbreite Aktienindex S&P 500 schloss auf dem Rekordhoch von 4797 Punkten. Bis am 16. Juni verlor er dann 23% und erreichte mit 3667 Punkten das bisherige Tiefst dieses Bärenmarktes. In den zwei Monaten danach legte der Index bis am 16. August 17% zu, bis er in den vergangenen Tagen auf Widerstand stiess. Die Frage ist nun, ob das Tief vom 16. Juni neuerlich unterschritten wird; dann befinden wir uns in einem Bärenmarkt. Falls nicht, übernahm Mitte Juni der Bulle.
Ein Aufwärtstrend steht auf einem soliden Fundament, wenn er von vielen Aktien getragen wird. Je breiter abgestützt, desto besser. Ende vergangener Woche notierten erstmals seit April des vergangenen Jahres mehr als 90% der Aktien aus dem S&P 500 über dem Fünfzigtagesschnitt. Auch der Anteil der Aktien über dem Zweihunderttagesschnitt stieg zuletzt markant.
Die Marktbreite hat das Researchhaus Ned Davis Research (NDR) vergangene Woche dazu bewogen, Aktien wieder zu übergewichten. «Diese Entwicklung ist typisch für einen frühen Bullenmarkt», schreiben sie. Es gibt allerdings auch Indikatoren zur Breite, die weniger Euphorie auslösen. So schlossen am 15. August im S&P 500 nur 34 Aktien auf ihrem Jahreshöchst. Zwar mehr als an den Wochen zuvor, 2021 lag die Zahl aber immer wieder im dreistelligen Bereich.
Der aktuelle Ausbruchsversuch des S&P 500 aus dem Abwärtstrend unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von den vorherigen Versuchen. Der Index überwand den Widerstand bei 4200 Punkten und erreichte damit ein höheres Hoch. Aus dem Widerstand wurde nun eine Unterstützung im Abwärtstrend. Gleichwohl scheiterte der S&P 500 vergangene Woche am Widerstand beim Zweihunderttagesschnitt.
Ein wichtiger Treiber der jüngsten Avance war zudem das Decken von ausserordentlich hohen Short-Positionen im Markt. In Kombination mit dem niedrigen Volumen über die Sommermonate hat dies für eine ausserordentlich deutliche Gegenbewegung zum Abwärtstrend gesorgt. Eine Rally bei niedrigem Volumen ist zwar nicht aussergewöhnlich, aber auch kein Zeichen der Stärke.
Im Sommer waren die Fondsmanager gemäss der monatlichen Umfrage der Bank of America (BAC 34.52 +0.32%) «apokalyptisch bearish». Nun sind sie gemäss der jüngsten Umfrage von vergangener Woche nur noch «bearish». Diese Einschätzung wird von der wöchentlichen Umfrage von Investor Intelligence bestätigt. Das Verhältnis von Bullen zu Bären – laut Marktbeobachter Ed Yardeni ein Kontraindikator – erreichte mit 0,6 ein Verhältnis wie zuletzt während der Finanzkrise 2009. «Extremer Pessimismus ist in der Regel ein gutes Zeichen – es sei denn, die Welt geht wirklich unter, aber wer interessiert sich dann für Aktien?», urteilt Yardeni.
Zuletzt ist der Anteil der Bullen wieder gestiegen. Für die Anleger ist das positiv. Einerseits sind die Investoren alles andere als euphorisch. Gleichwohl war das Tief im Juni mit einer aussergewöhnlich starken pessimistischen Stimmung verbunden. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob dies bereits die Kapitulation war, mit dem bisher fast jeder Bärenmarkt geendet hat. Denn auch wenn die Investoren sagen, pessimistisch zu sein, zeigt sich das in der Allokation bisher nicht. Weder kam es zu signifikanten Abflüssen aus Aktien, noch wurde die Aktienquote deutlich reduziert.
Im zweiten Quartal haben Unternehmen positiv überrascht. Laut Yardeni ist dies auch ein Grund, warum der US-Aktienmarkt seit Mitte Juni avanciert hat. Die anderen sind das mögliche Erreichen von «Peak Inflation» und eine Neuinterpretation der Geldpolitik (siehe «Rule of 20») sowie die ausserordentlich pessimistische Stimmung der Anleger.
Im zweiten Quartal wuchsen die Unternehmensgewinne gegenüber dem Vorjahresquartal laut Yardeni 11%. Das ist doppelt so viel wie von den Analysten erwartet. Das ist zwar erfreulich, doch für die nächsten Quartale sind die Aussichten weniger rosig. Der Anteil der Unternehmen, die eine positive Revision der erwarteten Gewinne der nächsten drei Monate verzeichnen, ist jüngst deutlich gesunken. Gemäss den Analysten von NDR werden die Unternehmensgewinne bis ins zweite Quartal 2023 «deutlich sinken». In einem solchen Umfeld habe der Aktienmarkt normalerweise Schwierigkeiten zu avancieren.
Die Bank of America führt eine Checkliste, um das Ende eines Bärenmarktes zu bestimmen. Zu den Kriterien gehören etwa ein lockerndes Federal Reserve, eine steigende US-Arbeitslosenrate sowie eine steiler werdende Zinskurve – derzeit alles nicht der Fall. Von den zehn Kriterien werden momentan nur drei erfüllt. Am Ende der Bärenmärkte der vergangenen fünfzig Jahre waren es immer mindestens 80%.
Nicht erfüllt wird auch die «Rule of 20». Diese summiert das rückblickende Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) des S&P 500 mit der jährlichen Inflationsrate in Prozent gemessen anhand des Konsumentenpreisindexes (KPI). Vor jedem Markttief betrug die Summe weniger als 20. Heute notiert der Wert nahe 30. Das liegt einerseits an der hohen Inflationsrate von 8,5%, aber auch an der Bewertung. Zwar sank das vorausschauende KGV auf 16. Am Ende eines Bärenmarktes resultierte laut DataTrek Research im historischen Mittel aber ein Wert von 12.
Zu früh für eine Entwarnung ist auch die Entwicklung der Inflation. Zwar ist das Preisniveau gemessen am KPI im Juli gesunken. Andere Masseinheiten geben aber noch keine Entwarnung. Entsprechend verfehlt ist wohl die Hoffnung der Anleger, dass das Fed früher von der straffen Geldpolitik Abstand nehmen wird.
Vor der jüngsten Kursschwäche ist der Volatilitätsindex Vix, der die erwartete Schwankungsbreite des S&P 500 misst, erstmals seit April wieder auf das Niveau von 20 gesunken. Für Tim Hayes, globaler Chefstratege von NDR, ist dies ein gutes Zeichen. Es bekräftige den Stimmungswechsel sowie erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass im Juni das Tiefst erreicht wurde.
Anders sieht das Nick Colas von DataTrek Research. Für ihn ist der Rückgang des Vix angesichts der Unsicherheiten zur Inflation, der Konjunktur und der Geldpolitik übertrieben. Auf mehr Risiko weist auch die erwartete Volatilität im Anleihenmarkt gemessen anhand des Move-Index sowie die Unsicherheit gemessen anhand des Global Economic Policy Uncertainty Index – von den geopolitischen Risiken ganz zu schweigen.
Der Vergleich erklärt
Die Frage ist simpel. Hat der US-Aktienindex S&P 500 das Tiefst in diesem Bärenmarkt bereits erreicht? Falls ja, dann befindet sich Wallstreet bereits in einem Bullenmarkt. Wenn das damalige Niveau unterschritten wird, dann ist es weiter ein Bärenmarkt.
Die Analysten von Ned Davis Research bringen es auf den Punkt. Selten sei der Unterschied zwischen technischen Indikatoren und der fundamentalen Einschätzung so unterschiedlich gewesen wie jetzt: «Makro- und Fundamentaldaten deuten auf eine Eintrübung bei der Konjunktur und den Unternehmensgewinnen. Die technischen Indikatoren zeigen hingegen eine Frühphase eines Bullenmarktes an.»
Dies zeigt sich auch im FuW-Vergleich anhand von sechs Indikatoren, bei denen jeweils vier Punkte verteilt werden. Während die technischen Indikatoren auf einen Bullenmarkt deuten, weisen die fundamentalen Indikatoren auf einen Bärenmarkt.
Am Ende liegt der Bär mit 14 zu 10 Punkten vorne. Das bedeutet, dass ein Unterschreiten des Tiefs von Mitte Juni nicht ausgeschlossen ist und derzeit nicht mit signifikanten Avancen zu rechnen ist.
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