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07:19 Uhr - 02.08.2017

«Kreditwachstum ist nicht Chinas einziger Treiber»

Jonathan Garner, Aktienchefstratege für Asien und die Schwellenländer von Morgan Stanley, setzt derzeit auf chinesische und indische Aktien.

Herr Garner, mit der guten Performance hat auch das Interesse an Schwellenländeraktien wieder zugenommen. Lohnt sich der Einstieg jetzt noch?
Es fliesst wieder mehr Geld in diese Anlageklasse. Die grosse Aufholbewegung bei der Bewertung ist allerdings gelaufen. Wir haben seit Anfang 2016 unser Preisziel für den Schwellenländerindex MSCI Emerging Markets sechs Mal erhöht. Jetzt ist der Kurs nahe am Ziel. Ein Übergewicht drängt sich nicht mehr auf.

Sind Schwellenländeraktien nicht besonders günstig bewertet?
Gegenüber den entwickelten Märkten sind Schwellenländeraktien immer noch günstig, gegenüber der Historie aber nicht. Anhand unserer Gewinnschätzungen resultiert ein durchschnittliches Kurs-Gewinn-Verhältnis von 12,4. Damit ist die Bewertung am oberen Ende angelangt. Es gibt gute Gründe, weshalb Emerging Markets niedriger bewertet sein sollten als Aktien aus Industrieländern. Das künftige Kurspotenzial geht vom Gewinnwachstum aus, nicht von der Bewertungsexpansion. Nach Jahren mit schrumpfenden Profiten erwarten wir für dieses Jahr ein Gewinnwachstum von 24% und nächstes Jahr eines von 11%.

Gibt es innerhalb Asiens und der Schwellenmärkte Länder, die Sie favorisieren?
Von den grossen sind es derzeit eindeutig China und Indien. Auch Malaysia schneidet in unserem Länderselektionsprozess gut ab. Am schlechtesten weg kommen die Aktienmärkte von Australien, Südafrika, Polen, Peru, Ägypten und Katar.

Chinesische Aktien sind dieses Jahr bereits 30% gestiegen. Warum glauben Sie, dass sie sich weiterhin besser entwickeln als andere Schwellenmärkte?
Chinas zyklischer Ausblick hat sich deutlich aufgehellt. Die Wirtschaft ist in einer viel stabileren Position als noch vor ein zwei Jahren. Die Zahlungsbilanz hat sich stabilisiert, der Yuan wertete sich sogar wieder auf. Nach einer Gewinnrezession 2016 geht es den Unternehmen wieder besser. Für dieses und nächstes Jahr erwarten wir ein jährliches Gewinnwachstum zwischen 12 und 14%. Die Bewertungen sind fair: Ein Kurs-Buchwert-Verhältnis von rund 1,7 ist etwa das, was man von einem Markt mit einer Eigenkapitalrendite von 12% erwarten kann.

Aber jetzt tritt Peking auf die Bremse. Der Leitzins wurde mehrmals angehoben.
Seit 2016 steigen die Kurzfristzinsen auf dem Interbankenmarkt kontinuierlich.  Zuvor hatte die People’s Bank of China die Zinsen aggressiv gesenkt. Wie die USA kann China die Geldpolitik nun etwas straffen, weil die Wirtschaft genug robust ist. Für die kommenden Monate ist mit einer ausgeglichenen Geldpolitik zu rechnen, die weder stimulierend noch restriktiv wirkt.

Der Regierung kämpft auch gegen die hohe Verschuldung im Finanzsystem. Einige Analysten warnen bereits vor einem negativen Kreditimpuls aus China.
Das Kreditwachstum hat abgenommen, das stimmt. Aber unsere positive Beurteilung der chinesischen Konjunktur gründet nicht auf dem Schuldenwachstum. Die staatlich stimulierte Kreditexpansion war die Story des letzten Jahres. Jetzt aber ist der Konsumsektor die treibende Kraft. Kreditwachstum und Investitionen spielen eine untergeordnete Rolle.

Wie meinen Sie das?
In den vergangenen zwölf Monaten trug der Konsum etwa zwei Drittel zum chinesischen Wirtschaftswachstum bei. Die Sektoren Tourismus, Freizeit, Gesundheit, Onlinehandel und Social Media boomen. IT-Unternehmen rechnen mit einer Umsatzsteigerung von 20 bis 40%. Der Detailhandel setzt Jahr für Jahr real 10% mehr um, während die Exporte und Investitionen das Wirtschaftswachstum bremsen. Im Tiefpunkt Anfang 2016 war das Wachstum der privaten Investitionen praktisch zum Erliegen gekommen. In dieser Zeit hat Peking das Kreditwachstum angekurbelt. Das sieht man am steilen Anstieg der Kapitalausgaben der grossen Staatsbetriebe. Das hat vor allem im zweiten Halbjahr 2016 gewirkt. Der staatliche Investitionsschub ist jetzt vorbei, das gesamte Investitionswachstum bewegt sich wieder unter dem langjährigen Mittel. Die Verschuldung wächst jetzt weniger schnell als das Bruttoinlandprodukt.

Aber ohne Investitionen und Kreditwachstum wird sich Chinas Wirtschaftswachstum deutlich verlangsamen.
Die Kreditvergabe ist nicht der einzige Wachstumstreiber. Entscheidend sind auch die angebotsseitigen Reformen, der technologische Fortschritt und die Qualität der Investitionen. Das Wachstum der Gesamtproduktivität ist in den vergangenen Jahren nur leicht gefallen, von einem Spitzenwert um 4 auf etwa 3%.

Lange galt das riesige Reservoir an Arbeitskräften als Chinas grosser Vorteil. Wie sieht die Lage heute aus?
Die Zahl der Arbeitskräfte beläuft sich auf 750 Millionen, wächst aber nicht mehr. Zwei Trends sind jedoch von grosser Bedeutung: Durch die Hukou-Reform dürfen sich die rund 150 Millionen Wanderarbeiter in den Städten niederlassen. Dadurch entsteht eine zusätzliche Nachfrage nach Immobilien und Konsumgütern. Ausserdem absorbiert die New Economy immer mehr Arbeiter aus der alten Industrie.

Was bedeutet das insgesamt für das chinesische Wirtschaftswachstum?
Dieses Jahr dürfte die Wirtschaft nominal 10% wachsen. Real rechnen wir mittelfristig mit 6,6%. Über die Zeit wird das Wachstum auf 3,5 bis 5% abnehmen. Diese Verlangsamung ist vergleichbar mit der Südkoreas während der Übergangsphase zu einer entwickelten Volkswirtschaft.

Im Westen wird Chinas Entwicklung oft sehr kritisch beobachtet. Investoren halten sich zurück. Woher kommt diese Skepsis?
Seit fünfzehn Jahren werfen chinesische Aktien höheren Ertrag ab als andere Schwellenmärkte. Aber nie waren Investoren in China übergewichtet. Im Abschwung 2015 haben globale Anleger das China-Gewicht auf ein neues Rekordtief reduziert. Ich denke, die Skepsis hat damit zu tun, dass sich die Leute immer noch auf das alte China und die alten Probleme fokussieren. Sie sorgen sich um die Verschuldung und sehen im Rückgang des Kreditwachstums das Ende des chinesischen Wirtschaftswunders. Der Übergang zu einer entwickelten Volkswirtschaft und die damit verbundenen Chancen werden unterschätzt.

Die Verschuldung lässt sich aber nicht schönreden.
Die Gesamtverschuldung nimmt weiter zu, doch mit immer weniger Tempo. Gemessen am BIP wird die Verschuldung nach unseren Schätzungen von 280% heute bis 2030 auf 320% zunehmen. Die Neuverschuldung wird sich allerdings von den Unternehmen zu den privaten Haushalten verschieben. Diese können einen höheren Verschuldungsgrad gut ertragen. China wird Ende der 2020er-Jahre eher so so aussehen wie Südkorea heute.

Trotz der Handelsverknüpfungen zwischen den Börsen Hongkong, Schanghai und Shenzhen kosten die Aktien auf dem Festland nach wie vor mehr als in Hongkong. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Die Stock-Connect-Programme sind noch relativ jung, und der Austausch hält sich in Grenzen. Es gibt keine richtige Arbitrage-Möglichkeit, weil die Futures-Märkte noch klein sind. Die Aktienpreise werden sich annähern, aber das geht alles sehr langsam.

Sind denn die in Hongkong kotierten H-Shares zu günstig oder die A-Shares zu teuer?
Die Anomalie sind die Titel an der Börse Shenzhen. Dieser Markt ist am wenigsten im globalen Finanzsystem integriert, da das Connect-Programm erst letztes Jahr begonnen hat. Die Börse Shenzhen wird nach wie vor von lokalen Privatinvestoren dominiert. Sie legen weniger Wert auf die Bewertung. Schanghai-Aktien sind nicht besonders überbewertet, H-Shares jedoch extrem günstig. Das hat aber mit dem hohen Gewicht der Finanztitel zu tun und der Wahrnehmung im Westen, dass Chinas Finanzsektor ein gröberes Schuldenproblem hat.

Sie haben eingangs auch Indien als Börsenfavorit genannt. Was ist an Indien speziell?
Indien erfährt nicht so einen starken zyklischen Aufschwung wie China. Die Währungsreform und die Vorbereitungen der Umsatzsteuerreform haben diese Entwicklung verzögert. Doch jetzt, da diese Reformen hinter uns liegen, dürfte Indiens Wirtschaft wieder positiv überraschen. Die Unternehmen sind sehr rentabel – die Eigenkapitalrentabilität liegt deutlich über dem Schwellenländermittel. Die makroökonomischen Ungleichgewichte sind fast beseitigt: Die Defizite in der Leistungsbilanz und dem Staatshaushalt sind gesunken. Die Inflation beträgt weniger als 5%. Die günstigen volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen führen dazu, dass lokale Aktienfonds Zuflüsse verzeichnen, was für zusätzliche Nachfrage an der indischen Börse sorgt.

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