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18:49 Uhr - 09.06.2017

Dätwyler: Vom Pneu zur Nespresso-Kapsel

Gummi als Konstante von Dätwyler: Wie aus einem maroden Kleinbetrieb im Bergkanton Uri ein globaler Industriezulieferer wird.

Das Stelleninserat klingt harmlos: «Bei den Schweiz. Draht- u. Gummiwerken in Altdorf (Uri) ist die Stelle eines kaufm. Direktors zu besetzen. Es kann nur eine erste Kraft mit tüchtiger kaufm. Bildung, Organisationstalent, Kenntnissen im Exportwesen und prima Referenzen berücksichtigt werden.» Unter mehr als neunzig Interessenten setzt sich der Aargauer Bauernsohn Adolf Dätwyler (DAE 161.9 1.19%) durch. Ob er weiss, worauf er sich einlässt?

Die Schweiz. Draht- u. Gummiwerke (SDG), so lautete der Name des heutigen Dätwyler-Konzerns, sind 1914/15 in einer misslichen Lage. Sie hat Schulden in Höhe von 5 Mio. Fr. aufgetürmt. Auch die Ersparniskasse Uri als Kreditgeberin der SDG und der arme Bergkanton, Besitzer der Kasse, drohen in den Strudel gerissen zu werden. Die Stimmbürger müssen im Herbst 1915 einer Verdreifachung der Steuern zustimmen, um den Kantonshaushalt ins Lot zu bringen.

Die Schmidheinys helfen

Der 31-jährige Adolf Dätwyler stürzt sich nicht blind ins Abenteuer. Er schlägt vor, die Leitung der SDG «auf Zusehen hin provisorisch zu übernehmen» und jeweils nur freitags und samstags nach Altdorf zu kommen. Offenbar macht er seine Sache gut, denn am 1. Januar 1915 wird das Engagement definitiv.

Bereits im Folgejahr wirft das Unternehmen mit der Herstellung von Drähten und Kabeln Gewinn ab. Doch der Jungunternehmer hat Grösseres im Sinn: Er will Eigentümer werden. Mithilfe seines ehemaligen Arbeitgebers Otto Suhner, Kabelhersteller in Brugg/AG, bringt er Schweizer Industrielle dazu, ihn im Kauf zu unterstützen. Zu ihnen gehören Ernst und Jacob Schmidheiny. 1920 ist Adolf Dätwyler am Ziel: Er hat die Kapitalgeber ausbezahlt und sich über ein Management-Buyout die Mehrheit an der SDG verschafft.

Bis die Firma seinen Namen trägt, wird es mehr als ein Vierteljahrhundert dauern. Weder der Erste noch der Zweite Weltkrieg, noch die Wirtschaftskrise in den Dreissigerjahren bremsen den Expansionswillen von Adolf Dätwyler.

Gas geben mit Firestone

1935 gelingt dem begeisterten Autofahrer ein besonderer Coup: Er erwirbt die Lizenz für die Fertigung von Firestone-Reifen. In Pratteln (Kt. Baselland) lässt er für 2 Mio. Fr. eine Fabrik bauen, eine enorme Investition damals. Sie beginnt sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu lohnen, und wie: Der Umsatz steigt auf 140 Mio. Fr., die Umsatzrendite ist prozentual zweistellig. 1973 wird es den beiden Söhnen Dätwylers gelingen, Firestone Schweiz für 95 Mio. Fr. an das US-Mutterhaus zu veräussern – gerade noch rechtzeitig vor Ausbruch des Jom-Kippur-Kriegs und der Erdölkrise.

Überhaupt gedeiht die «Guumi», wie die Urner den grössten Industriebetrieb im Kanton nennen, in den Nachkriegsjahren prächtig. Die Werke verdienen Geld wie Heu, weil die Schweizer Industrie von den Kriegswirren verschont geblieben ist. Der Firmenpatron steigt 1947 mit dem Kauf der Zürcher Maag in den Handel mit Gummiteilen ein und verschafft sich so direkten Zugang zum Absatzmarkt. Zwei Jahre später beteiligt er sich an der Stahlrohr AG Rothrist.

Einen konkreten Plan, ein Konglomerat zu entwickeln, verfolgt Adolf Dätwyler nicht. Trotzdem hat alles seine Logik: Aus Gummi werden Reifen und Bodenbeläge, Gummi isoliert Kabel, Industriekabel werden in Stahlrohre eingezogen… Bloss eines packt der Industriepionier spät an, am Schluss fast zu spät: die Regelung seiner Nachfolge. Sein Wunsch ist, das Unternehmen zusammenzuhalten. Nur wie? Auf den Vorschlag der Söhne Peter und Max, die Gesellschaften in einer Holding zu bündeln, geht Adolf Dätwyler zögerlich ein. Aber gerade noch rechtzeitig: Auf dem Totenbett unterschreibt er 1958 als Letztes den Vertrag für die Einbringung der Firestone-Aktivitäten in die Holding.

Die Machtverhältnisse sind geklärt, nicht aber die Besitzverhältnisse. Sechs Jahre dauert der Erbstreit. Die Söhne müssen sich schwer verschulden, um Mutter und Schwester auszuzahlen. «Erst 1965 konnten wir die Zügel richtig in die Hand nehmen», erinnert sich Max Dätwyler im Gespräch. Die beiden Brüder ergänzen sich trefflich. Peter ist der Draufgänger, Macher und Unruhestifter («der Herr Direktor»); Max der Bedächtige, Vorsichtige, Hinterfragende («der Herr Doktor»). Von Beginn an holen sie den Verwaltungspräsidenten von aussen. Er sollte den beiden laut Max Dätwyler «auf die Finger schauen».

Das Ende der Ära Dätwyler

Nun folgt, was in der Belegschaft «Oktoberrevolution» genannt wird: Im Herbst 1967 wird Dätwyler, für die damalige Zeit aussergewöhnlich, in drei gewinnverantwortliche Einheiten – Kabel, Gummi, Bodenbeläge – aufgeteilt. Die Divisionalisierung ist ab den Siebzigerjahren Sprungbrett für die Expansion ins Ausland. Mit speziellen Gummi- und Kunststoffkomponenten forcieren Peter und Max Dätwyler den Einstieg in Marktnischen der Automobil- und Pharmabranche sowie in den Fach- und Versandhandel mit elektronischen Komponenten. Bis weit in die Neunzigerjahre hinein erweist sich der Handel als «Goldesel».

Anders als der Vater befassen sich die beiden Brüder früh mit dem Gedanken, das Unternehmen abzugeben. Direkte Nachkommen, die sich für die Nachfolge aufgedrängt hätten, sind keine da. So gut Peter und Max Dätwyler in der Betriebsführung harmonieren, in der Frage einer Publikumsöffnung sind sie sich uneinig. Max lenkt schliesslich ein, um einen Bruderzwist zu vermeiden. 1986 geht das Unternehmen an die Börse.

Vier Jahre später regeln die beiden Brüder in Anlehnung an ein Modell des deutschen Automobilzulieferers Bosch ihre Nachfolge. Sie verzichten auf wesentliche Vermögenswerte und bringen 50% des Kapitals und 80% der Stimmen in die Zwischenholding Pema ein. Macht und Kapital werden getrennt: Über das Stimmrecht verfügt der Verwaltungsrat, während die Vermögensrechte einer Stiftung zukommen. Oberstes Ziel der Brüder ist, die Selbstständigkeit des Unternehmens langfristig zu sichern. Zur Genugtuung von Max Dätwyler hat sich die Nachfolgelösung bis heute bewährt.

Der grosse Umbau

Die Brüder geben 1990 die operative Führung ab. Mit Roland Zimmerli, seit zwei Jahrzehnten in leitender Funktion im Unternehmen tätig, wird erstmals ein Externer CEO. Unter ihm dehnt das Unternehmen den internationalen Radius aus, besonders nach Asien. Der Auslandsanteil am Umsatz steigt auf 70%. Als Verwaltungsratspräsident orchestriert Zimmerli den Übergang von einer Familien- zur Publikumsgesellschaft.

Als Paul Hälg 2004 antritt, ist der Konzern an der Börse erst 500 Mio. Fr. wert.  Der neue CEO krempelt den Konzern um. Aus fünf Divisionen werden zwei, Sealing Solutions (Dichtungstechnik) und Technical Components (Handel mit Elektronikkomponenten). Die traditionsreichen, aber inzwischen margenschwachen Bereiche Stahlrohre und Kabel werden veräussert, genauso wie Maagtechnic. Die Umsatzlücke wird mit Akquisitionen wettgemacht. Insgesamt wird der Konzern deutlich rentabler und erwirtschaftet ab 2012 eine prozentual zweistellige Betriebsgewinnmarge.

Ein prominenter Wachstums- und Gewinnträger ist mittlerweile ein junges Geschäft, das Dätwyler auf der Basis eines während Jahrzehnten erworbenen Know-how in der Dichtungstechnik aufgebaut hat. Es sind Milliarden von Nespresso-Kaffeekapseln, welche die Dätwyler-Fabrik bei Altdorf jährlich verlassen. Dass Nestlé (NESN 80.95 0%) dereinst Hauptkunde werden würde, hätte sich der junge Adolf Dätwyler nie träumen lassen.

Die komplette Historie zu Dätwyler finden Sie hier. »

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