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15:45 Uhr - 11.07.2014

Die Random-Walk-Hypothese

Aktien bewegen sich zufällig, und Prognosen sind nutzlos: Die These trotzt auch den besten Anlagefonds und den grössten Börsenblasen.

Gibt es wirklich keine guten Prognosen für Aktienkurse? Die Random-Walk-Hypothese besagt: Der Kursverlauf unterliegt dem Zufall.

Berühmte Theoreme
Dies ist die achte Folge einer neuen FuW-Serie: «Finanz und Wirtschaft» stellt populäre ökonomische Gesetze und Formeln vor – in welchem Kontext sie entstanden sind, welche Bedeutung ihnen heute noch zukommt und welche Köpfe dahinterstecken. Vergangene Woche stand das Modigliani-Miller-Theorem im Fokus. Kommende Woche wird die Cobb-Douglas-Produktionsfunktion präsentiert.
Demnach lässt sich nicht vorhersagen, ob Aktien in nächster Zeit steigen, fallen oder stagnieren. Investoren nützt es nichts, wenn sie Berichte durchforsten, Unternehmensgewinne prophezeien, Zahlenreihen auswringen oder mit Momentum und Trends manövrieren.

Die logische Folgerung aus dem Random Walk – übersetzt als Zufallsbewegung oder gar als Irrfahrt – ist letztlich, dass ein blinder Affe, der Pfeile auf eine Liste von Aktien wirft, ein ebenso erfolgreiches Portefeuille auswählt wie ein Experte anhand einer eingehenden Analyse. Kein Wunder ist diese Hypothese umstritten.

Zufall heisst nicht Irrfahrt

Der Disput dreht sich darum, ob Märkte effizient sind und somit die Aktienkurse stets sämtliche verfügbare Information erfassen oder ob die Börse zu Übertreibungen neigt, sich manchmal irrational verhält und Aktien falsch bewertet. Nicht einmal die Jury für die Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises wollte sich auf eine Seite schlagen. Sie verlieh die Auszeichnung im Herbst 2013 an die zwei Opponenten Eugene Fama und Robert Shiller.

Professor Eugene Fama von der Universität Chicago ist der Vater der Hypothese der effizienten Märkte und hat sie empirisch bestätigt.

Aktienkurse verlaufen in einer Reihe zufälliger Schritte, in einem Random Walk. Prognosen der Kursentwicklung oder Trendanalysen sind nutzlos, denn niemand weiss mehr als der Markt. Die Aktien reagieren schnell und akkurat auf neue Vorkommnisse, aber diese lassen sich nicht vorhersagen: Ein unerwarteter Wechsel in der Geschäftsleitung, eine Übernahmeofferte, der Markteintritt eines Konkurrenten, eine technologische Neuerung, ein Anstieg der Ölpreise, eine Gesetzesänderung, ein Gerichtsurteil, die Kürzung von Subventionen, Konsumentenschutz – solch unvorhergesehene Ereignisse beeinflussen den Kursverlauf. Langfristig ist der Unternehmensgewinn – in der Grafik über zehn Jahre geglättet – zentral für den Aktienkurs. Der S&P-500-Index folgt den Gewinnen, zufällig und nicht vorhersehbar.
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Somit bewegen sich Aktien zufällig, denn jeder erwartete Trend und jede absehbare Information hat sich in den Kursen bereits niedergeschlagen.

Die Hypothese besagt also nicht, dass sich Aktien in einer Irrfahrt richtungslos und erratisch bewegen, ohne auf neue Informationen zu reagieren. Das Gegenteil ist der Fall: Neuigkeiten tauchen unvorhergesehen und zufällig auf. Die Börse ist so effizient respektive die Kurse passen sich so schnell an, dass niemand den Markt schlagen kann.

Fama verknüpfte die Markteffizienz und den Random Walk in seiner Dissertation, die 1965 unter dem Titel «Random Walks in Stock Market Prices» in einer Fachzeitschrift erschien. Wegbereiter war der französische Ökonom Louis Bachelier im Jahr 1900. Seine Arbeit blieb zunächst unbeachtet und zirkulierte erst in den Fünfzigerjahren unter Ökonomen. Davor wurde der Aktienmarkt von Wissenschaftlern kaum untersucht.

Zu frisch war die Erinnerung an den Crash 1929 und die Grosse Depression. Die Börse galt als Spielwiese für Spekulanten.

Der zweite Nobelpreisträger, Robert Shiller, ist Professor an der Yale-Universität und hat Famas These 1981 widerlegt. Ausgangspunkt ist, dass Aktienkurse theoretisch die künftigen Unternehmensgewinne respektive Dividenden spiegeln. In einem effizienten Markt sollten die Kurse daher nur so stark schwanken, wie sich die Erwartung zur Gewinnausschüttung oder aber zum Zins ändert – für die Abdiskontierung der künftigen Dividenden.

Shillers Ergebnis: Aktien schwanken viel zu stark, die Kursausschläge lassen sich nicht nur durch die Anpassung der Erwartungen erklären. In seinem Bestseller «Irrational Exuberance» (irrationaler Überschwang) warnte er im März 2000, die Börse befinde sich in einer Blase, und bekam kurz darauf mit dem Absturz der Internetaktien recht – allerdings hatte er schon seit 1996 gemahnt, der Aktienmarkt sei gefährlich überteuert. Shiller folgert, zur Erklärung der Preisbildung müssten Verhaltenswissenschaft und Massenpsychologie herangezogen werden. Die Hypothese der effizienten Märkte sei «der bemerkenswerteste Fehler in der Geschichte der Ökonomie».

Rationale Börsenblasen

In der Tat wurde die Effizienzmarkthypothese nach der Internet- sowie der Immobilienblase 2008 von vielen Marktbeobachtern verworfen. Nichtsdestotrotz sieht Fama weiterhin keinen Beweis, dass die Märkte nicht effizient sind.

Beiden Nobelpreisträgern ein bisschen recht – das erinnert an das unentschlossene Nobelpreiskomitee – gibt Burton Malkiel, Professor an der Princeton-Universität. Er ist Autor des Buchs «A Random Walk Down Wall Street» aus dem Jahr 1973, das 2012 in der elften überarbeiteten Auflage erschienen ist. Einerseits pflichtet er Famas Hypothese bei und ist überzeugt, kein Investor könne den Markt schlagen. «Ich habe aber zu Bob Shiller keine negative Haltung, im Gegenteil – als Dekan in Yale hatte ich ihn angeheuert.» Er stimme mit Shiller überein, dass verhaltenswissenschaftliche Aspekte wichtig sind und dass die Märkte manchmal verrücktspielen. «Es gibt Blasen. Da bin ich anderer Meinung als Gene Fama, der dieses Wort nicht verwendet.»

Wie aber passen Blasen und Markteffizienz zusammen? Eine Erklärung liefert Nobelpreisträger Vernon Smith: «Investoren entscheiden im Ungewissen.» Sie wägten ab, welche Produkte und Technologien künftig erfolgreich sind. «Das ist eine ganz andere Art von Unsicherheit als beim Glücksspiel in Las Vegas», und es lasse sich mit den üblichen Wahrscheinlichkeitsrechnungen kaum beschreiben, auch wenn das immer wieder versucht werde. «Was ist in dieser ungewissen Lage rational? Ich weiss es nicht.» Er habe im Internetboom Old-Economy-Aktien gehalten und keine Titel von Amazon gekauft, aus Angst vor einem plötzlichen Kurszerfall. «Habe ich rational gehandelt? Nein, denn mit Amazon hätte ich viel Geld verdient.»

Effizient danebenzielen

Smith ist Pionier für ökonomische Laborexperimente zu Börsenblasen. Er folgert: «Aus einer Übertreibung kommen Gewinner, und die sind vielleicht besser als die traditionellen Unternehmen.»

Der Markt ist also ein effizientes Entdeckungsverfahren, liegt aber nicht immer richtig. Malkiel: «Die Hypothese der effizienten Märkte bedeutet nicht, dass die Märkte immer recht haben, sondern dass sie immer falschliegen. Nur weiss niemand genau, ob die Preise zu hoch oder zu tief sind.» Deshalb sei es Investoren nicht möglich, einen überdurchschnittlichen Gewinn zu erzielen, ohne ein überdurchschnittliches Risiko einzugehen.

Das Schöne daran: Analysen und Prognosen haben gleichwohl ihre Berechtigung. Fama sagt zwar nach wie vor, risikoadjustiert sei kein Investor langfristig besser als ein zufällig ausgewähltes Portefeuille. Doch er konstatiert, dass sich die Börse anders verhalten würde ohne Aktienanalyse, und er sieht davon ab, diese als Zeitverschwendung zu taxieren.

Je mehr Investoren langfristig und passiv ein diversifiziertes Portefeuille halten und sich somit die Suche nach den besten Aktien sparen, desto eher gelingt es aktiven Anlegern, den Markt zu schlagen. Ihr Erfolg zieht weitere an, womit ihr Vorteil schmilzt – und sich passives Anlegen lohnt. Der Kreis schliesst sich, und der Random Walk läuft weiter.

Niemand weiss mehr als der Markt – oder doch?
Aus der Random-Walk-Hypothese folgt: Anleger sollten am Aktienmarkt passiv in den Referenzindex investieren. Dieser Ratschlag wird heftig debattiert. Angesichts von Übertreibungen und Blasen an den Börsen drängt sich die Schlussfolgerung auf, die Märkte seien nicht effizient. Somit müsste es sich lohnen, Aktien gezielt auszuwählen.

In der Tat vertrauen viele Investoren ihr Geld aktiv verwalteten Fonds an. Deren Erfolgsausweis wird jedoch von der Wissenschaft zerpflückt. Der Befund: Aussergewöhnlich gute Analysten und Fondsmanager sind selten, und welche das sind, lässt sich nicht im Voraus erkennen. Das zeigen zahlreiche Studien zu Prognosen von Unternehmensgewinnen und zur Leistung aktiv verwalteter Anlagefonds. In Bausch und Bogen verworfen wird auch die charttechnische Analyse. Wissenschaftler erklären etwa, Momentum existiere zwar kurzfristig, aber die Transaktionskosten seien zu hoch, um das zu nutzen. Eine ununterbrochene Serie von Tagesgewinnen oder -verlusten sei nicht häufiger als Sequenzen von Kopf oder Zahl beim Münzwurf.

Kritiker des Random Walk entgegnen, der Referenzindex sei ineffizient – er hat ein Übergewicht in grossen Unternehmen und solchen mit schnell wachsendem Gewinn. Diese beiden Risikofaktoren zu tragen, werde langfristig zu wenig belohnt, das zeigten statistische Auswertungen. Besser sei das Risiko-Rendite-Profil für kleinere Unternehmen, für gute Qualität (solide Bilanz, hohe Margen) und für günstig bewertete Aktien (Value), ebenso wie für Titel mit geringem Risiko (Volatilität) oder mit Aufwärtsmomentum. Mit dieser Erkenntnis operieren nicht nur aktive Fonds. Zunehmend werden auch regelbasierte Aktienkörbe oder Indizes formiert, die aufgrund dieser Faktoren gewichtet sind. Darauf werden ETF ausgegeben, das Konzept nennt sich Smart Beta. «Auch wenn ich anerkenne, dass gewisse Faktoren historisch zu einer höheren Rendite geführt haben, kaufe ich den Referenzindex», sagt Professor Burton Malkiel. Er gilt als Pate der passiven Indexfonds. Eine allfällige Prämie werde mit einem höheren Risiko erkauft, oder sie verschwinde durch Arbitrage. Allerdings empfahl Malkiel im Frühling 2014, im Portefeuille Aktien aus Schwellenländern höher zu gewichten. Diese seien aufgrund des zyklisch adjustierten Kurs-Gewinn-Verhältnisses von Robert Shiller günstig. Selbst ein eingefleischter Verfechter des Random Walk trifft also hin und wieder einen aktiven Anlageentscheid.

 

Louis Bachelier (*11. März 1870 in Le Havre, † 26. April 1946 in Saint-Servan-sur-Mer)
Der 29. März 1900 gilt als Geburtstag der Finanzmathematik. An diesem Donnerstag präsentierte der französische Mathematiker Louis Bachelier seine Dissertation «Théorie de la Spéculation» an der Universität Paris-Sorbonne. Die Prüfer stellten fest, das Thema sei «weit entfernt von den Arbeiten, die uns normalerweise vorgelegt werden». Immerhin würdigten sie die Originalität.

Erst viel später wird erkannt: Bacheliers Arbeit ist herausragend. Er führte Konzepte der stochastischen Analyse ein, die zur Modellierung von Prozessen in Finanzmathematik, Physik und Biologie dient. Ein solcher Prozess ist die Brown’sche Bewegung von Molekülen in Flüssigkeiten oder in Gas. Ihre Modellierung wurde fünf Jahre nach und unabhängig von Bachelier auch von Albert Einstein erarbeitet.

Mit stochastischen Modellen analysierte Bachelier Kursbewegungen an der Pariser Börse. Er lieferte eine Erklärung, weshalb sich die Kurse nicht vorhersagen lassen, und folgerte: «Die Dynamik der Börse wird nie eine exakte Wissenschaft sein.» Zudem bewertete er Optionen, seine Formeln sind erstaunlich nahe am Black-Scholes-Optionspreismodell aus dem Jahr 1973, das einen Nobelpreis einbrachte. Von Frankreichs Akademie wurde Bachelier verkannt, und im Finanzzentrum New York hätte sich nach 1900 wohl kaum jemand für seine Kalkulationen interessiert. Dort drehte sich alles um den Boom. Bis 1916 stieg der Aktienmarkt 60%, und von 1921 bis 1929 versechsfachten sich die Kurse. Bacheliers Dissertation verschwand in der Versenkung. Erst Mitte der Fünfzigerjahre wurde die Arbeit vom späteren Nobelpreisträger Paul Samuelson aufgegriffen und verbreitet.

Louis Bachelier kam 1870 in Le Havre in der Normandie zur Welt. Im nahen Caen besuchte er das Gymnasium. Kurz nach dem Schulabschluss starben seine Eltern. Er übernahm das familieneigene Weinhandelsgeschäft und sorgte für seine Schwester und seinen dreijährigen Bruder. Mit 22 begann er das Mathematikstudium an der Sorbonne in Paris. Dort doktorierte er dann unter Henri Poincaré und dozierte bis 1914. Im ersten Weltkrieg diente er als Soldat. 1919 wurde er Professor an der Universität in Besançon in der französischen Provinz. Bachelier war seiner Zeit voraus. Dass er nicht erneut vergessen geht, dafür sorgt eine internationale Vereinigung von Finanzmathematikern, die Bachelier Finance Society.

 

 

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