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16:26 Uhr - 25.11.2015

«Die Kommunikation des Fed ist konfus»

Michala Marcussen, Chefökonomin von Société Générale, hält den Austritt Grossbritanniens aus der EU für eines der grössten Risiken in Europa, wie sie im Interview mit FuW erklärt.

Frau Marcussen, angesichts der niedrigen Inflation ist die US-Notenbank noch nicht gezwungen, die Geldpolitik zu straffen. Trifft diese Argumentation zu?
In den USA wird der Aufschwung vom Konsum getragen. Das heisst aber auch, dass die Teuerung anziehen wird. Es gibt verschiedene Messgrössen für die Inflationsentwicklung, und diese zeichnen ein uneinheitliches Bild. Das ist wichtig, denn die Finanzmärkte erwarten gegenwärtig keine Teuerung – tatsächlich überwiegt derzeit sogar die Befürchtung, dass sie weiter sinken könnte. Wir stellen eine Asymmetrie zwischen den Markterwartungen und unseren Prognosen fest.

zoomWer hat recht?
Die weitere Erholung der US-Wirtschaft wird die Beschäftigungslage verbessern, und wir erwarten daher auch ein Wachstum bei den Löhnen. Die Gefahr ist, dass die Märkte zum Schluss kommen, dass die US-Notenbank zu langsam reagiert und mit der Straffung der Geldpolitik hinterherhinkt. Das wird für mich eines der zentralen Themen im Jahr 2016 sein.

Ist das Fed denn bereits zu spät dran?
In der Vergangenheit war das Fed immer langsamer im Straffen der Geldpolitik als wenn es darum ging, sie zu lockern. Das Fed hinkt den Entwicklungen bereits etwas hinterher. Aber es ist noch nicht besorgniserregend. Je länger es wartet, desto grösser wird diese Gefahr.

Was wären die Folgen?
Wenn der Markt die Inflationserwartungen plötzlich anpasst und das Fed als zu langsam einschätzt, kann das am Bondmarkt einen Schock auslösen. Für die Zentralbanken geht es immer darum, ihre Risiken abzuwägen. Das monetäre Umfeld ist heute extrem locker. Auch wenn das Fed die Zinsen erhöht, bleibt die Geldpolitik ultraexpansiv. Wenn die Wirtschaft an Schwung gewinnt und die Kapazitätsauslastung zunimmt, wird es für das Fed gefährlich. Früher lag die Gefahr darin, dass der Zinsschritt zu früh kommt und die Erholung abwürgt. Ich glaube nicht, dass diese Gefahr heute besteht. Die Asymmetrie der Risiken für das Fed hat sich verschoben. Das zeigt sich auch in der Uneinigkeit unter den Mitgliedern des Offenmarktausschusses.

An den Finanzmärkten wird derzeit jedes Wort aus der US-Notenbank auf die Goldwaage gelegt.
Die Kommunikation des Fed ist konfus und enttäuschend. Eine Zentralbank muss transparent und klar kommunizieren. Natürlich haben auch Notenbanker das Recht, ihre Meinung zu ändern. Bereits im Juni hätte das Marktumfeld eine Zinserhöhung erlaubt. Dann gab es einige Turbulenzen, die das Fed zögern liessen. Im September hiess es, die heimische Wirtschaft lasse zwar eine Zinserhöhung zu, doch zeigte sich das Fed besorgt über den Rest der Welt. Das ist legitim. Aber im Oktober, nur sechs Wochen später, war plötzlich keine Rede mehr vom Rest der Welt. Die Situation in China hat sich in dieser Zeit aber nicht verändert. Diese Art der Kommunikation schürt Unsicherheit.

Hat der starke Arbeitsmarktbericht vom Oktober Ihre Einschätzung bezüglich der Zinserhöhung des Fed verändert?
Wir gehen davon aus, dass es die Zinserhöhung im Dezember beschliessen wird.

Haben die Notenbanken seit der Finanzkrise an Glaubwürdigkeit eingebüsst?
Sie haben vielmehr an Wirkungskraft verloren. Damit eine Zentralbank effektiv eingreifen kann, müssen die Marktakteure Schulden absorbieren können. Diese Kapazität ist heute aber geringer als in der Vergangenheit. In den frühen Achtzigerjahren beliefen sich die Schulden von Haushalten und Nichtfinanz-Unternehmen in den OECD-Ländern auf 180% des Bruttoinlandprodukts. Sodann bauten etwa Unternehmen nach dem Platzen der Blase im Technologiesektor ihre Schulden ab. Gleichzeitig steigerten die Haushalte ihre Verschuldung und kurbelten so die Wirtschaft an. In jeder Krise fand sich jemand, der neue Schulden anhäufte. Beim heutigen Schuldenstand wird das aber zunehmend schwierig.

Welche Rolle spielt die Regulierung?
Sie hat sich seit der Finanzkrise stark verändert. So ist es beispielsweise schwieriger geworden, in den USA eine Hypothek zu bekommen. Das ist wahrscheinlich gut so. Es bedeutet aber auch, dass die Effektivität einer expansiven Geldpolitik sinkt. Die Fähigkeit der Zentralbanken, über den Kreditkanal billiges Geld in die Wirtschaft zu pumpen, ist damit deutlich gesunken. Hätten die Zentralbanken hingegen tatsächlich an Glaubwürdigkeit eingebüsst, würde ich an den Finanzmärkten auf täglicher Basis eine höhere Volatilität erwarten, als wir sie jetzt beobachten.

Welche Politik steht bei einer neuen Wirtschaftskrise noch zur Verfügung?
Nach der Finanzkrise war die expansive Geldpolitik der Zentralbanken die unorthodoxe Antwort auf die Herausforderung. Wenn wir in eine neue schwere Krise fallen, wird man in einer ersten Runde erneut zu diesem Mittel greifen. In einer zweiten Runde glaube ich aber, dass eine fiskalische Expansion zum Zuge kommt. Das wird die nächste unorthodoxe Reaktion auf eine Krise sein.

Sorgen Sie sich um die Liquidität an den Finanzmärkten?
Die Liquidität an den Finanzmärkten ist geschrumpft. Das zeigt sich deutlich in Momenten der Unsicherheit, wenn die Volatilität nach oben schiesst. Man könnte das einfach als Teil der neuen Realität akzeptieren. Was bedeutet es aber, wenn Zentralbanken ihre Bilanzen nicht mehr dazu nutzen, Liquidität in das Finanzsystem zu pumpen? Die Frage, wie Liquidität im aktuellen Marktumfeld funktioniert, ist noch kaum beantwortet.

An den Aktienmärkten gab es im August eine Korrektur. Was war der Auslöser?
Die Wahrnehmung von China hat sich im Verlauf des Sommers deutlich verändert. Im Vordergrund stand dabei nicht die Abkühlung der Wirtschaft, denn diese Entwicklung war weitgehend bekannt. Auch die Zweifel an der Verlässlichkeit der Daten sind nicht neu. Aber die Unsicherheit hinsichtlich der Politik, die wir aus China erwarten können, ist stark gestiegen. Vor den Turbulenzen herrschte die Überzeugung, dass die Regierung die Geschehnisse kontrolliert. Das hat sich mit dem Crash an den Aktienmärkten und der Anpassung des chinesischen Währungsregimes verändert.

Inzwischen hat sich die Lage beruhigt, und die Volatilität ist gesunken.
Zwei Gründe haben zur Beruhigung der Marktlage beigetragen. Erstens: Die Marktteilnehmer haben realisiert, dass der direkte Einfluss von Chinas Realwirtschaft auf die europäische und die amerikanische Wirtschaft wahrscheinlich viel geringer ist, als es zunächst scheint. Die anfängliche Angst vor einer Ausweitung von Chinas Schwäche war daher wohl übertrieben. Zweitens gab es beschwichtigende Reaktionen der Zentralbanken. Das hat geholfen, die Märkte etwas zu beruhigen. Allerdings war dieser Effekt geringer als in der Vergangenheit.

Erwarten Sie weitere Massnahmen von der Europäischen Zentralbank?
Wir erwarten, dass sie ihr Anleihenkaufprogramm ausweiten wird. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das einen signifikanten Einfluss auf die Realwirtschaft haben wird. Die Wirkung des Quantitative Easing nimmt stetig ab. Das ist es auch, was die Aktienmärkte signalisieren: QE ist nicht schlecht, und es hilft ein wenig. Aber das grosse Feuerwerk bleibt aus.

Die Eurokrise ist inzwischen abgeflaut. Wo lauern Risiken?
In Europa sorgen insbesondere politische Herausforderungen für Unsicherheit . Das grösste Risiko ist das Referendum zum Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union, der sogenannte Brexit. Gemäss Aussagen von Premier David Cameron wird es spätestens Ende 2017 abgehalten. Wir rechnen frühestens für das zweite Halbjahr 2016 damit.

Haben die Finanzmärkte dieses Risiko auf der Agenda?
Ja. Aber das Ereignis ist weit weg und das Resultat ungewiss. Es ist schwierig, daraus eine Handelsstrategie abzuleiten. Sobald wir ein Datum haben und Meinungsumfragen publiziert werden, wird das Thema in den Fokus der Anleger rücken.

Welches Resultat erwarten Sie?
Basierend auf den Umfrageergebnissen bewerten wir den Austritt Grossbritanniens derzeit mit einer Wahrscheinlichkeit von 45%. Das Risiko ist also signifikant.  Wir erwarten, dass ein Austritt das Potenzialwachstum Grossbritanniens um 0,5 bis 1 Prozentpunkt schmälern könnte. Die grösste Frage ist, was der Brexit für London als Finanzmetropole bedeuten würde. Die Europäische Zentralbank hat in der Vergangenheit bereits klargemacht, dass sie das Finanzzentrum lieber innerhalb des Euroraums sähe. Wenn Grossbritannien austritt, gibt es keinen Grund mehr, warum London die Finanzkapitale sein sollte.

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