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12:57 Uhr - 01.06.2018

«Italien zeigt, dass wir das System ändern müssen»

Ökonom Paul De Grauwe sieht den Markt für Staatsanleihen in der Eurozone als «von Natur aus instabil», wie er im FuW-Interview sagt.

Paul De Grauwe, Professor für internationale Ökonomie an der London School of Economics, erklärt im Interview mit «Finanz und Wirtschaft», die Sparmassnahmen der vergangenen Jahre stünden hinter dem Wahlerfolg der Populisten in Italien. Dass die Renditen der italienischen Staatsanleihen so massiv nach oben geschossen seien, zeige die instabile Natur des Anleihenmarktes. Die Länder seien auf den guten Willen der Europäischen Zentralbank (EZB) angewiesen. De Grauwe präzisiert: «Wir sind in einem System, in dem das Überleben von Regierungen am guten Willen einer kleinen Zahl von Leuten hängt, die um einen Tisch in Frankfurt sitzen.»

Herr De Grauwe, wie erklären Sie sich den Wahlsieg populistischer Parteien in Italien?
Die Länder der Europeripherie hatten Anpassungsprobleme nach der Eurokrise. Sie hatten an Wettbewerbsfähigkeit verloren und durchliefen eine interne Abwertung – sie versuchten also, ein wirtschaftliches Gleichgewicht durch tiefere Preise und Löhne zu erreichen. Das ist ein sehr schmerzhafter Prozess, bei dem diesen Staaten Sparmassnahmen aufoktroyiert wurden. Die interne Abwertung intensiviert Rezessionen, erhöht die Arbeitslosigkeit und lässt viele Menschen leiden. Das hat politische Gegenreaktionen zur Folge, besonders in Italien. Populistische Parteien haben die Unzufriedenheit genutzt.

Wer ist dafür verantwortlich?
Die Länder im Norden Europas tragen eine Mitschuld. Sie hätten Italien entlasten können, indem sie ihre eigene Wirtschaft stimulieren. Aber sie haben selbst einen Sparkurs eingeschlagen. Das hat in der Eurozone bis vor kurzem eine deflationäre Tendenz ausgelöst. Die ganze Last lag auf den Defizitländern, da die Gläubiger ihren Teil nicht beitragen wollen. Das ist ein Fehler im System.

Ist es tatsächlich ein systemisches Problem, wenn die nördlichen Länder nicht helfen wollen?
Es gibt keinen Mechanismus, um sicherzustellen, dass die Anpassung symmetrisch in den Gläubiger- und den Schuldnerländern abläuft. In einer Währungsunion laufen Länder ab einem bestimmten Punkt auseinander. Dann muss ein Mechanismus gewährleisten, dass sie wieder zusammenkommen. Und das sollte symmetrisch geschehen: Länder mit einem Defizit müssen die Ausgaben reduzieren, die anderen müssen die Ausgaben erhöhen. Das hat nicht funktioniert, da die Gläubigerländer nicht dazu bereit waren.

Also liegt es an der Bereitschaft der Gläubigerländer?
Der Fehler ist systemisch, denn gäbe es einen gemeinsamen Haushalt, dann hätte er die Wirtschaft für die gesamte Eurozone stabilisiert. Der Haushalt hätte Geld transferiert, um symmetrische Auswirkungen sicherzustellen. Wir sind aber weit von einem gemeinsamen Haushalt entfernt. Daher sind wir auf die Bereitschaft der einzelnen Staaten angewiesen, ihren Beitrag zu leisten. Und das haben sie nicht getan.

Was wäre der Hauptgrund für eine italienische Regierung, den Euro zu verlassen?
Es ist das Gefühl, dass das Land in einem Käfig gefangen ist, den die Deutschen gebaut haben – so hat es Paolo Savona, der abgewiesene Kandidat für das Finanzministerium, gesagt. Italiener sehen die Eurozone als eine Beschränkung ihrer Wirtschaft, was zu einem gewissen Grad richtig ist. Aber es ist eine andere Frage, ob das Land ausserhalb des Euros besser dran wäre. Die populistischen Parteien wollen ein Narrativ schaffen, dass das Land von aussen – besonders durch Deutsche – unterdrückt wird und sich befreien muss. Das ist ein sehr emotionales Thema.

Wie würden Sie eine Regierung in Rom beraten?
Ich würde mich dafür einsetzen, dass das Land mehr staatliche Investitionen vornehmen kann. Die Infrastruktur in Italien ist auf unglaubliche Weise am Zerfallen. Dabei ist die Infrastruktur der Schlüssel für langfristiges Wachstum. Wenn ein Land nicht mehr investiert, ist es verloren. Und das Land kann wegen der Haushaltsbeschränkungen, aufgezwungen durch Europa, nicht ausreichend investieren. Mein Rat an die Regierung wäre: Sagt Brüssel, ihr müsst mehr staatliche, durch Anleihen finanzierte Investitionen erlauben – sonst verlassen wir den Euro.

Das wäre aber eine drastische Konsequenz.
Natürlich würde das Verlassen der Eurozone grosse Unsicherheit bringen. Der Übergang zu einer nationalen Währung wäre dramatisch und würde eine Bankenkrise verursachen. Die Finanzinstitute halten ja italienische Anleihen, die dann auf die neue Währung lauten würden. Das ist furchterregend und hält mich davon ab, mit Inbrunst zu sagen: Verlasst den Euro, er ist nicht gut für euch. Aber wenn ein reibungsloser Übergang möglich wäre, würde ich der Regierung wohl raten, den Euro zu verlassen.

Sind Italiens Probleme nicht auf mangelnde Strukturreformen zurückzuführen?
Italien hat in letzter Zeit eine Menge an Strukturreformen durchgeführt. Es gab grosse Reformen im Pensionssystem und auf dem Arbeitsmarkt. Man kann natürlich immer sagen, dass es nicht ausreicht. Aber viel wichtiger für das Wachstum ist es, Investitionen zu ermöglichen.

Wenn Italien in der Eurozone bleibt, wie kann es mit seinem hohen Schuldenstand zurechtkommen?
Es ist ein Teufelskreis. Wenn Italien nicht wächst, wird die Schuldenlast weiter steigen. Und versucht man, durch Sparmassnahmen die Schulden zu senken, wird Italien weiter stagnieren. Das Land ragt mit seiner Stagnation heraus – das BIP pro Kopf ist so niedrig wie 1999. Und da es Teil der Eurozone ist, kann es keine Inflation schaffen, um die Schulden real abzubauen. Die Volkswirtschaft muss wieder wachsen. Der Schlüssel dafür sind Investitionen, was aber der Regierung nicht erlaubt ist. In diesem Sinn ist das ein Käfig. Italien muss aus diesem Käfig heraus, sonst kann es nicht wachsen, und die Schuldenlast bleibt hoch.

Was halten Sie vom Vorschlag der Lega Nord, eine Parallelwährung – Mini-BoT – einzuführen?
Ich interpretiere das als Plan, Italien aus der Eurozone herauszuführen. Wird eine Parallelwährung eingeführt, muss das Land innerhalb kürzester Zeit den Euro verlassen. Es gilt Greshams Gesetz: Schlechtes Geld verdrängt gutes. Da das Parallelgeld für Steuerzahlungen akzeptiert wird, würden Behörden das Geld in Parität mit dem Euro halten. Aber da das Finanzministerium mit den Mini-BoT das Haushaltsdefizit bezahlt, gäbe es an ihnen ein Überangebot. In der Folge wäre die Parallelwährung weniger wert als der Euro, der Markt würde sie mit einem Abschlag handeln. Der echte Euro würde aus dem Zahlungsverkehr verschwinden – jeder würde ihn zur Wertaufbewahrung halten. Die Leute, die den Vorschlag gemacht haben, wissen das wohl. Es ist ein Plan, das Land aus dem Euro zu zwingen.

Wäre es eine Hilfe, wenn italienische Anleihen von anderen Euroländern garantiert würden?
Es muss klar sein: Die Leute zeigen sich bei italienische Anleihen nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus politischen Gründen nervös. Beim jetzigen Zins kann Italien seine Schulden problemlos bedienen. Es ist ein politisches Problem, dass die zwei Parteien, die die Regierung bilden, den Ausstieg aus dem Euro auf ihrer Agenda haben.

Italien wird seine Anleihen also zurückzahlen?
Niemand ist nervös, dass das Land seine Schulden nicht zurückzahlen könnte, sondern dass die Währung der Anleihen in Lira geändert wird. Die Gläubiger müssten einen Verlust tragen, da der Wechselkurs der neuen Lira wohl 20 bis 30% niedriger wäre. Aber ich habe mich für Eurobonds ausgesprochen. Dabei wären Schulden bis zu 60% des BIP eine gemeinsame Verantwortung der Eurozone, darüber müssten die einzelnen Länder geradestehen. Das wäre ein gutes System, aber Deutschland hat es kategorisch abgelehnt.

Wie stehen Sie zum Vorschlag, die Staatsanleihen verschiedener Länder zu bündeln?
Der Europäische Ausschuss für Systemrisiken, ESRB, hat sich für neue sichere Anleihen ausgesprochen. Hinter diesen ESBies, European Safe Bonds, steht die Idee, dass eine Finanzinstitution die Staatsanleihen kauft und dafür eigene Anleihen herausgibt. Mit diesem Financial Engineering soll eine neue, sichere Anlageklasse entstehen. Ähnlich wie bei Collateral Debt Obligations, CDO, gäbe es verschiedene Tranchen: Eine Senior-Tranche würde ein geringes Risiko aufweisen, und eine Junior-Tranche wäre riskanter. Dort würde ein Zahlungsausfall von Staatsanleihen zuerst anfallen. Ich stehe dem Vorschlag sehr skeptisch gegenüber. Er behebt nicht das Problem, dass der Markt für Staatsanleihen in der Eurozone von Natur aus instabil ist.

Warum ist der Euroanleihenmarkt instabil?
Kein Land in der Eurozone wird durch eine Zentralbank gestützt. Die Länder emittieren faktisch Anleihen in einer ausländischen Währung. Sie können in eine Situation geraten, in der ihnen die Euro zur Rückzahlung der Schulden an die Gläubiger fehlen. Und sie können allein durch Spekulation in solch eine Lage getrieben werden. Es ist eine selbsterfüllende Krise: Wenn jeder Angst hat, dass der Staat nicht bezahlen wird, trocknet die Marktliquidität aus, und der Staat findet keine Mittel zu einem akzeptablen Zins mehr – und muss ausfallen. Das kann durch ESBies nicht gelöst werden, da der Markt für nationale Staatsanleihen bestehen bleibt.

Ist der Anleihenmarkt nicht nützlich, um Länder mit zu hoher Verschuldung zu disziplinieren?
Das funktioniert nicht. Nachdem der Euro eingeführt worden war, gab es acht Jahre lang fast keine Renditedifferenz zwischen den Ländern – der Anleihenmarkt hat die Risiken von griechischen und deutschen Bonds als gleich hoch eingeschätzt. Der Markt hat keinerlei Disziplin durchgesetzt. Als die Krise kam, hat der Markt überreagiert. Die Märkte liegen üblicherweise falsch: Sie sind zu milde oder zu streng. Im Boom sind Märkte und Ratingagenturen zu euphorisch, niemand sieht die Risiken. Im Crash sieht man überall Risiken. Diese Risikoscheu hat uns zwei tiefe Rezession in Europa gebracht.

Der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn hat kürzlich die Besorgnis geäussert, dass die deutschen Forderungen im europäischen Zahlungssystem Target2 bedroht sind. Teilen Sie die Sorge?
Das Problem Deutschlands ist, dass es über die letzten zwanzig Jahre grosse Exportüberschüsse verzeichnet hat. Das hat zur Folge, dass es grosse finanzielle Forderungen gegenüber dem Rest der Welt angehäuft hat. Vor der Krise waren dies private Forderungen wie Bankkredite. Mit der Krise wanderten die Forderungen Deutschlands gegenüber anderen Euroländern in den öffentlichen Sektor und erschienen in den Target2-Salden. Diese Salden sind ein Ergebnis der Exportüberschüsse und der daraus entstehenden Forderungen. Diese anzuhäufen, war eine Wahl Deutschlands. Die Deutschen sollten sich fragen: War die Akkumulation von Forderungen eine weise Politik? Es ist riskant, ein Gläubiger zu sein, da Schuldner ihren Kredit vielleicht nicht zurückzahlen wollen. Das gilt immer, ob man in einer Währungsunion ist oder nicht.

Was ist Ihr Ausblick für die Eurozone?
Viel hängt davon ab, wie die Italienkrise gelöst wird. Die Eurozone hat einen Pfad der wirtschaftlichen Erholung eingeschlagen, der nun gefährdet ist. Wir sollten die dummen Regeln eines ausgeglichenen Haushalts über Bord werfen, die wir uns selbst aufgezwungen haben. Wir halten uns selbst davon ab, Investitionen mit Schulden zu finanzieren. Kein Privatunternehmen würde sich so eine dumme Regeln geben. Sonst wären wir noch in der Steinzeit. Hat man ein gutes Projekt, leiht man sich Geld. Staaten sollte das erlaubt sein. Vielerorts, besonders unter deutschen Ökonomen, gibt es die zynische Sicht, dass staatliche Investitionen nicht produktiv sein können. Das ist natürlich falsch.

Wie sehr hängt der Markt für Staatsanleihen von der Annahme ab, dass die EZB im Notfall eingreift?
Die EZB kann eine Krise am Bondmarkt sofort aufhalten. Das haben wir 2012 gesehen. Allein die Ankündigung der EZB, im Markt zu intervenieren, hatte einen drastischen Effekt. Er war so gross, dass die EZB damals gar keine Anleihen kaufen musste. Die Frage ist, ob sie jetzt intervenieren würde. Und das ist unsicher. Das tiefere Problem ist, dass wir in einem System sind, in dem das Überleben von Regierungen am guten Willen einer kleinen Zahl von Leuten hängt, die um einen Tisch in Frankfurt sitzen.

Wie wäre es ausserhalb der Eurozone?
Wenn ein unabhängiges Land in Probleme gerät, hat die Regierung immer die Oberhand gegenüber der Zentralbank. Sie wird die Notenbank zwingen, ausreichend Liquidität zur Verfügung zu stellen. In der Eurozone ist es andersherum: Die EZB hat die Oberhand über die Regierung. Dieses politische Gefüge ist inakzeptabel und kann auf Dauer nicht aufrechterhalten werden. Es hat funktioniert, solange die Krisenländer klein waren, wie Griechenland. Nun ist Italien betroffen, in Zukunft könnte es andere grosse Länder wie Frankreich treffen. Die Leute dort werden nicht akzeptieren, dass das Schicksal ihres Landes in den Händen von Beamten ohne jegliche demokratische Legitimität liegt. Wir müssen das System ändern, und die italienische Krise macht das sehr deutlich.

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