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14:43 Uhr - 25.08.2015

«So schnell wird nicht Ruhe einkehren»

Für Martin Jetzer, Chefstratege von Bellecapital kann es Monate dauern, bis sich ein neuer Trend etabliert. Aber die Aktienhausse hält er nicht für beendet, wie er im Interview mit der FuW erläutert.

Herr Jetzer, wie bedrohlich ist die Situation an den Börsen?
Es gilt zu unterscheiden: Die Börsen sind geknickt, nicht die Weltwirtschaft. Von den Schwellenländern abgesehen, weisen die Konjunkturindikatoren nicht auf eine globale Rezession hin. Ein Ausverkauf dieses Ausmasses scheint mir übertrieben zu sein. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass der Aktienzyklus endgültig gedreht hat. Lange Phasen von Niedrigstzinsen enden selten in einer Rezession, sondern fast immer in einer Finanzblase. Diese haben wir in den Festverzinslichen und hatten sie nur an den chinesischen Börsen.

Martin Jetzer«Mit Aktienkäufen zuwarten, der Abwärtsdruck ist noch zu stark.» Bild: Sandra Meier/FuWWie stark schwächelt Chinas Wirtschaft?
Der Kurssturz in China folgte auf eine euphorische Phase, es hat im Sommer 2014 begonnen und endete ein Jahr später nach einem Anstieg von 150% in einer Blase. Der auch von der Regierung genährte spekulative Aktienboom ist geplatzt, und Millionen Erstanleger sehen sich um ihre Ersparnisse geprellt. Ich zweifle an der verbreiteten Interpretation, dass ein konjunktureller Schock die Baisse auslöste.

Was führt Sie zu dieser Überlegung?
Wir wissen schon lange, dass den offiziellen Statistiken aus China nicht zu trauen ist. Die Wirtschaft wächst nicht mit 7%, auch nicht mit 6%, vielleicht nur halb so schnell. Die panikartigen und unwirksamen Stützungsversuche haben jetzt aber Konjunkturängste geweckt. Die Finanzmärkte sind dabei, das Risiko einer «harten Landung» in China einzupreisen.

Wie geht es an den Märkten weiter?
Die Märkte werden sich kaum so schnell beruhigen. Es kann Monate dauern, bis sich ein neuer Trend etabliert. Ich bin aber zuversichtlich, dass die in den nächsten Wochen und Monaten eintreffenden Konjunkturindikatoren bestätigen werden, dass die Weltwirtschaft nicht am Rand einer Rezession steht. Ich rechne mit einem erfreulichen Börsenjahr 2016.

Kommt die Leitzinserhöhung in den USA?
Der Zinszyklus ist wichtig, nicht, ob der nahe null liegende Zinssatz 25 Basispunkte höher sein wird. In den USA hat der Zyklus schon im Sommer 2012 gedreht, als die Rendite zehnjähriger Treasuries auf das historische Tief von 1,4% gefallen ist. Eine Zinserhöhung ist überfällig und durch den Konjunkturverlauf gerechtfertigt. Aufgabe jeder Zentralbank ist es, die Wirtschaft zu stabilisieren, und nicht die Börsen.

Kein Deflationsexport aus China und damit Rezessionsgefahr?
Unwahrscheinlich, zumal: Deflation ist nicht grundsätzlich schlecht und manchmal auch nötig, um verlorengegangene Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen. Je mehr wir alle von der internationalen Arbeitsteilung profitieren können, desto besser. Gefährlich wäre eine Deflationsspirale. Dafür gibt es keine Hinweise.

Vor drei Jahren sagten Sie in einem FuW-Interview: «Das Makroszenario ist noch wenig ermutigend, doch das Mikroumfeld bleibt freundlich.» Wie ist die Lage jetzt?
Eher besser, die Wirtschaft im  Euroraum  wächst wieder, die USA sind auf stabilen Wachstumspfad eingeschwenkt, und auch Japan geht es besser. Verdüstert hat sich das Makroszenario in den Schwellenländern. «BRIC» ist von der Wachstums- zur Reformstory geworden. Strukturänderungen brauchen Zeit, drücken vorübergehend das Wachstum und können auch versanden. Am Mikrobild hat sich wenig verändert. Die Unternehmen bleiben kostenbewusst und reagieren schnell und entschlossen auf Veränderungen, um Marktanteile und Margen zu verteidigen.

Würden Sie Aktien jetzt kaufen oder zuwarten?
Selbst wenn die Kurstalfahrt weitergehen sollte, bleiben Aktien erste Wahl – in Kombination mit Cash anstatt mit Festverzinslichen. Die inflationsfrei schwach bis moderat zunehmende Weltwirtschaft nährt einen wachstums- und börsenfreundlichen Mix aus extrem lockerer Geldpolitik mit ungewöhnlich zurückhaltender Fiskalpolitik. Das sollte den Konjunkturzyklus in die Länge ziehen. Trotzdem: Mit Aktienkäufen würde ich noch zuwarten. Der Abwärtsdruck ist noch zu stark.

Weshalb Cash, wo die Zinsen bei null sind?
Dank bald fünf Jahre leicht sinkender Preise – dieses Jahr mutmasslich um 1% – steigt die Kaufkraft auch bei Nullzinsen. Ein Realertrag, der – nicht zu unterschätzen – nicht besteuert wird. Anleger schätzen dies zu wenig, Konsumenten schon. Cash ist zugleich Munition, die opportunistisch eingesetzt werden kann. Auch dieser Abschwung geht vorüber. Lieber geduldig warten, als ungeduldig Fehler begehen.

Aus den Traktanden gefallen ist Gold (Gold 1149.21 -0.37%) – auch für Bellecapital?
Wir empfehlen bei den heutigen gedrückten Preisen, einen Goldanteil von 5% aufzubauen. Gold bleibt wenig korreliert mit anderen Anlageklassen, hilft also, das Portfolio zu diversifizieren und dadurch zu stabilisieren.

Eignen sich auch Emerging Markets und Rohstoffe fürs antizyklische Gemüt?
Die Versuchung ist da, aber der Kopf sagt: zuwarten. Jetzt helfen technische Indikatoren wie Momentum und relative Stärke fürs Timing von Allokationsentscheidungen. Kaufsignale erkenne ich noch keine. Value-Investoren sind gelassener. Wird man durch eine grosszügige Dividende für Geduld entschädigt, lohnt sich das Risiko, gegen den Strom zu schwimmen. Chancen bilden sich etwa in Hongkong. Grundsätzlich ziehen wir es aber vor, am Schwellenländerwachstum über Titel multinationaler Firmen im Konsum-, Gesundheits- und Versicherungssektor teilzunehmen.

Der Konsens sieht Europa vor den USA und irgendwo dazwischen die Schweiz. Wie lautet Ihre Reihenfolge?
Zuerst die Eurozone, dann Japan, die Schweiz und am Ende die USA. Wir sehen Japaner positiver als der Konsens. Der deflationäre Gegenwind hat gedreht, das Finanzsystem ist kerngesund, die Exportwirtschaft wettbewerbsstark und die Unternehmensgewinne steigen überdurchschnittlich. Mehr noch, in Japan entsteht langsam eine westliche Managementkultur, mit Gewinn- statt Umsatzorientierung; Ausschüttungsquoten werden erhöht und Aktienrückkäufe geprüft.

Wie urteilen Sie über die Schweiz?
Sie zeigt sich als monetärer Sonderfall, es gibt kein Land, das eine so straffe Geldpolitik führt. Seit der Franken nicht mehr an den Euro gebunden ist, hat sich das Geldmengenwachstum auf weniger als 1% verlangsamt, verglichen mit fast 10% in den USA, über 13% im Euroraum und fast 6% in Japan: Ein monetärer Schock, der die Deflation beschleunigen und konjunkturelle Bremsspuren hinterlassen wird. Das ist keine gute Voraussetzung für die Börse.

Welche Währungsrisiken gehen in Franken denkende Anleger ein?
Ich befolge die Regel: Marktrisiken nehmen, Währungsrisiken meiden. Wechselkursbewegungen sind schwierig vorauszusehen. Wir setzen nur auf den Dollar. Den Yen sichern wir ab, und den Euro mögen wir nicht, weil wir bezweifeln, ob die Eurozone in der jetzigen Form überlebt.

Null- bis Minuszinsen auf sicheren Frankenanlagen – wie lange noch bleibt dieser ungewöhnliche Zustand bestehen?
So lange, wie unsere Währung als sicherster Hafen Europas gilt und aufwertungsverdächtig bleibt. Das ist nichts Neues, im Gegenteil. Seit Anfang 1973, als die Schweiz zu flexiblen Wechselkursen überging, hat sich der Franken zu allen Währungen aufgewertet. Jedes Dagegenstemmen erwies sich am Ende als nutzlos. Irgendwann werden die unerwünschten Nebenwirkungen von Negativzinsen aber so gross werden, dass die Nationalbank nicht umhin kann, die Zinsbildung wieder dem freien Kapitalmarkt zu überlassen. Den Zins zu manipulieren ist gefährlicher als den Wechselkurs zu «steuern». Am Zinssatz hängt alles.

Die Niedrigstzinspolitik schürt Inflation an den Vermögensmärkten. Ist das das Ziel? Hilft der Vermögenseffekt der Konjunktur?
Einfluss auf die Einkommens- und Vermögensverteilung zu nehmen ist gewiss kein geldpolitisches Ziel. Der Börsenboom wird aber toleriert, in Notenbankkreisen sogar als unvermeidliche Folge der Niedrigstzinspolitik begrüsst. Der Vermögenseffekt ist jedoch umstritten und empirisch nicht belegt. Weshalb soll die Transformation von Zinseinkommen zu Kapitalgewinnen die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stimulieren? Weshalb soll eine Einkommensumverteilung von Sparern zu Schuldnern die Konjunktur stützen? Der Vermögensinflation zum Trotz verharrt die Weltwirtschaft unter ihrem Wachstumspotenzial. Das Gute daran: Auch die jetzige Vermögensdeflation wird keine bleibenden Schäden verursachen.

Welcher Handvoll Aktien trauen Sie auf zwölf Monate die beste Performance zu?
Wir versprechen uns eine solide Performance von Schweizer Aktien wie Clariant (CLN 17.66 3.7%), Georg Fischer (FI-N 581 4.87%), ABB (ABBN 18.08 2.49%), DKSH (DKSH 59.35 0.59%), Zurich Insurance (ZURN 266.6 2.15%) und Roche (ROG 259.8 2.28%) (RO 258.5 3.09%). In der Eurozone sollte unter anderen mit Bayer, Deutsche Bank (DBK 25.67 2.54%), Rexel, STMicroelectronics (STM 6.345 5.5%) und Eni gutes Geld zu verdienen sein. In Japan glauben wir an Toyota, Fast Retailing und Nippon Shokubai.

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