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16:53 Uhr - 30.06.2014

«Die Modelle gaukeln Sicherheit vor»

Gerd Gigerenzer ist einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der eingeschränkten Rationalität: Wie man mit einfachen Regeln gute Entscheidungen trifft, erläutert er im Interview mit «Finanz und Wirtschaft».

Gerd Gigerenzer live
In leicht verständlichen Vorträgen erklärt der Psychologieprofessor seinen Wunsch nach mehr Risikokompetenz. Videos mit seinen Vorträgen finden Sie hier.
Der Psychologe Gerd Gigerenzer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, betont im Gespräch mit «Finanz und Wirtschaft», dass Anleger mit einfachen Regeln oft weiter kommen als mit komplizierten Ansätzen der Finanztheorie. In einer Welt der Ungewissheit, in der Wahrscheinlichkeiten unberechenbar seien, sei die Finanztheorie meist nicht anwendbar.

Herr Gigerenzer, in Ihrer Forschungsarbeit betonen Sie, wie wichtig Heuristiken sind. Was ist darunter zu verstehen?
Das ist die Kunst, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und den Rest zu ignorieren. Heuristiken braucht man in einer Welt der Ungewissheit und nicht, wenn sich die Risiken vollständig ausrechnen lassen. Wenn Sie im Casino Roulette spielen, können Sie berechnen, wie viel Sie auf lange Sicht verlieren werden – dort braucht es keine Heuristiken und keine Intuition. Aber viele andere Probleme – wo soll man sein Geld investieren, wen soll man heiraten, wem kann man trauen und so weiter – sind nicht berechenbar.

Wenn Finanzmärkte nicht nur durch Risiko, sondern durch Ungewissheit geprägt sind, warum nutzen Finanzexperten oft scheinbar exakte Berechnungen und greifen nicht auf einfache Regeln zurück?
Die Finanztheorie nimmt an, dass wir in einer Welt der berechenbaren Risiken leben. Ein Beispiel ist die Portfoliooptimierung nach Harry Markowitz. In solch einer Welt ist die Wahrscheinlichkeitstheorie das richtige Werkzeug. Das gilt aber nicht unbedingt für die reale Welt der Investitionen. Traders haben schon immer Faustregeln verwendet und sich auf die Intuition verlassen. Und manch ein berühmter Investor wie George Soros wollte sich mit etwas Weltfremden wie der Finanztheorie nicht befassen. Entscheider schützen sich mit mathematischen Modellen davor, Verantwortung zu übernehmen. Dieser Verantwortung müssten sie sich stellen, wenn sie ihrer Intuition folgen würden.

Und diese Modelle sind nicht nützlich?
Eine der Ursachen der letzten Finanzkrise waren die mathematischen Modelle. Die haben Sicherheiten vorgegaukelt, die nicht da sind. Dazu gehören die Modelle der Ratingagenturen und Risikomassgrössen wie Value at Risk – jede Krise wurde damit übersehen und keine wurde verhindert. Dennoch verwendet man die Modelle weiterhin.

Warum gibt es kein Umdenken?
Es passiert schon etwas. Ich arbeite mit der Bank of England zusammen, und wir haben schon einige Studien dazu publiziert. Basierend auf unseren Ergebnissen hat Andrew Haldane, Chefökonom der Bank of England, die Wichtigkeit von Heuristiken in seiner weit beachteten Rede an der Jackson-Hole-Konferenz 2012 betont.

Aber es gibt doch Widerstand.
Ja, es gibt viele Gründe für den Widerstand, und die sind verständlich. An den Universitäten lehrt man weiterhin die alte Finanztheorie wie auch die klassische ökonomische Theorie. Über intuitive Entscheidungen wird dort meist nur herablassend geredet. Das finden Sie auch in populären Büchern mit Titeln wie «Predictably Irrational» von Dan Ariely und im neuesten Buch von Daniel Kahneman.

Was sind die Gründe für diese Herablassung, auch von Ariely und Kahneman?
Seit den Siebzigerjahren versuchten Kahneman und andere experimentell zu zeigen, dass das menschliche Urteil systematisch von sogenannten rationalen Modellen abweicht. Das Problem sah man in unserem Denken, aber fast nie in den Modellen. Eine Heuristik erschien immer als zweitklassig, die Modelle als richtig. Dem widerspreche ich, denn das gilt nur für eine Welt mit berechenbarem Risiko, nicht in einer Welt der Ungewissheit. Das haben wir in vielen Experimenten gezeigt: Weniger kann mehr sein. Vieles, was Kahneman für seine Argumentation gegen Heuristiken verwendet, sind nur logische Übungen. Es sind keine realen Situationen, für die man mehr Intelligenz braucht als nur Logik.

Haben Sie Beispiele für Heuristiken, die Privatanleger nutzen können?
Ein Beispiel ist die 1/n-Regel: Statt einer Markowitz-Optimierung verteilt man sein Geld gleich über n Anlageoptionen. Damit ist man in wenigen Sekunden fertig. Es gibt Studien, die zeigen, dass 1/n in bestimmten Situationen erfolgreicher ist als ein nach der Finanztheorie optimiertes Portfolio. Das Problem der Markowitz-Optimierung sind die dahinter stehenden Schätzungen aller Parameter. Diese kann man jedoch nur zuverlässig schätzen, wenn man in einer stabilen Welt mit sehr vielen Daten lebt. Daneben gibt es noch verbale Regeln, also Maximen, die aber genauso nützlich sein können, zum Beispiel: Kaufe kein Finanzprodukt, das du nicht verstehst. Hätte jeder diese Regel befolgt – beispielsweise auch die deutschen Landesbanken –, wäre die Finanzkrise anders verlaufen. Solche nützlichen Regeln haben noch keinen Eingang in die Finanzwissenschaft gefunden.

Allerdings scheint vieles, was unter dem Stichwort Behavioral Finance diskutiert wird, deutlich komplizierter zu sein.
In Behavioral Finance wird oft noch angenommen, dass die klassische Finanztheorie für die wirkliche Welt funktioniert. Dann wird davon abweichendes Verhalten untersucht. Jede Abweichung wird auf eine kognitive Illusion in unseren Gehirnen zurückgeführt. Demnach liegt der Fehler beim Menschen und nicht in der Theorie. Das ist nicht mein Ideal von Behavioral Finance. Wir müssen vielmehr untersuchen, in welchen Fällen sich komplizierte Berechnungen lohnen und wann wir uns besser auf robuste Heuristiken verlassen sollen. Der Nobelpreisträger Reinhard Selten und ich nennen das die Forschung zur ökologischen Rationalität. Hier gilt nicht mehr, dass nur eine Strategie rational ist und alles andere naiv oder dumm. Sondern wir müssen uns bei jeder Strategie fragen, wann sie rational ist und wann nicht. So ist die 1/n-Strategie umso besser im Vergleich zur Markowitz-Optimierung, je instabiler die Welt ist, je mehr Optionen man hat und je weniger Daten zur Verfügung stehen.

Es kann also auch Situationen geben, in denen sich komplexe Berechnungen lohnen?
Ja. Es geht darum, eine Auswahl von Strategien zu haben, die nach der jeweiligen Situation angewendet werden können. Wir nennen das einen adaptiven Werkzeugkasten. Ist die Welt gut vorhersagbar, lohnen sich auch komplexe Berechnungen – beispielsweise in der Astronomie. Die Himmelsgestirne verhalten sich sehr konstant während unseres kurzen Lebens. Dagegen sind Vorhersagen bei Devisenkursen nichts anderes als eine Illusion. Ich habe in meinem Buch «Risiko» die Prognosen der grössten Banken zum Euro-Dollar-Kurs über zehn Jahre analysiert. Die Vorhersagen der individuellen Banken waren ziemlich weit gestreut. Dennoch lag der eingetretene Wechselkurs meistens ausserhalb des gesamten Vorhersagespektrums. Die Prognosen waren immer zu spät: Man hat den Trend des letzten Jahres für das nächste vorhergesagt.

Warum werden diese Vorhersagen dennoch verlangt?
Die übliche Erklärung ist, dass vielen Managern, die diese Vorhersagen lesen, nicht bekannt ist, wie schlecht diese Prognosen sind. Das ist zum Teil richtig – keine Bank hat bisher eine Analyse wie meine veröffentlicht. Eine andere Erklärung ist aber interessanter. Viele Manager fühlen, dass an den Vorhersagen nicht viel dran ist. Aber sie werden nicht wegen ihrer Richtigkeit eingekauft, sondern um sich der Verantwortung zu entledigen. Ich halte es für ein Kernproblem unserer Finanzwelt, dass zu wenige Menschen Verantwortung übernehmen möchten. Immer mehr erkauft man sich Verantwortung durch Beratungsfirmen oder nutzlose Vorhersagen.

Aber auch mit Intuition liegt man oft falsch.
Ich sage nicht, dass Menschen keine Fehler machen. Aber man könnte etwas tun, um Menschen zu helfen, bessere Entscheidungen zu treffen. In der Schule könnten wir schon Kinder kompetenter im Umgang mit Geld und Gesundheit machen. Dann würden auch weniger Jugendliche anfangen zu rauchen. Gewohnheiten werden sehr früh im Leben gesetzt. Es geht nicht darum, jungen Menschen zu sagen, was sie nicht tun dürfen, sondern ihnen etwa zu erklären, wie sie verführt werden, sie eine paar nützliche Faustregeln lehren und sie damit stärker zu machen. Das ist das Gegenteil von Nudging (jemanden zu einem bestimmten Verhalten anstossen, Anm. d. Red.) – was etwa die Cameron-Regierung in Grossbritannien versucht, um Menschen zu lenken. Es braucht sicherlich etwas Nudging und auch Verbote, aber man sollte anstreben, so wenig wie möglich davon zu haben. Was wir brauchen, sind risikokompetente Bürger, die informiert und entspannt mit Ungewissheit umgehen können.

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