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09:55 Uhr - 23.05.2022

Die Ukraine schüttelt Japan durch

Für Japan ist der Krieg in der fernen Ukraine ein schweres Beben, das die nationale Sicherheitspolitik mit langfristigen Folgen kräftig durchschüttelt. Ein Kommentar von Urs Schoettli.

Bei internationalen Konflikten fern der eigenen Grenzen pflegt Japan grösste Zurückhaltung und beruft sich dabei auf Artikel neun der von den USA nach der japanischen Kapitulation ausgearbeiteten Verfassung. Demgemäss ist Tokio Kriegführung untersagt. Im ersten Golfkrieg übte Japan strikte militärische Abstinenz und sah sich darauf von seinem Bündnispartner Amerika zur Finanzierung eines Grossteils der Kriegskosten verurteilt. Im zweiten Golfkrieg rang man sich immerhin zu nichtkombattanter logistischer Unterstützung der Alliierten veranlasst und kam damit finanziell viel günstiger davon.

Nach dem Einfall der Russen in der Ukraine war die Reaktion der japanischen Regierung rasch und entschlossen. Japan verhängte scharfe Sanktionen gegen Russland und folgt im Wesentlichen dem Kurs seiner G-7-Partner. Um Tokios Haltung zu verstehen, muss man die komplexe sicherheitspolitische Lage Japans berücksichtigen.

Die gewaltsame Verschiebung von international anerkannten Grenzen berührt Japan direkt. Man befürchtet, dass Xi Jinping in den Fussstapfen von Putin folgt. Es geht dabei nicht nur um die gewaltsame Übernahme von Taiwan, das in der offiziellen chinesischen Sprechweise eine «abtrünnige Provinz» ist. Mit Sorge blickt Tokio auch auf die mit China umstrittenen Senkaku-Inseln im Ostchinesischen Meer. Zu Trumps Zeiten machte sich in Tokio die Furcht breit, dass im Ernstfall die Amerikaner Japan bei der Verteidigung dieser unbewohnten Inseln nicht zur Seite stehen könnten.

Ballast der Geschichte

Beim Krieg in der Ukraine spielt vor Ort offensichtlich auch der Ballast der Geschichte eine Rolle. Dies gilt ebenfalls für die Reaktion Japans auf die russische Aggression. Bemerkenswert und ungewöhnlich war die öffentliche Reaktion auf das grausame Geschehen in der Ukraine. Darin spiegelt sich das wechselvolle Verhältnis zwischen Japan und Russland. Nicht zu vergessen ist, dass die beiden Länder im hohen Norden Nachbarn sind.

Das 20. Jahrhundert begann mit der verheerenden Niederlage der Russen im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/1905, in dessen Verlauf die Japaner in der denkwürdigen Schlacht von Tsushima die russische Flotte versenkten. Es war dies auf dem Höhepunkt des Kolonialismus die erste Niederlage einer europäischen Macht gegen einen modernen asiatischen Nationalstaat. In der Folge kam es im Januar 1905 zur ersten russischen Revolution, und der Sieger Japan machte sich auf den verhängnisvollen Weg zum Imperialismus, der in der Kapitulation von 1945 enden sollte.

Die Sowjetunion hatte sich nicht am Pazifischen Krieg beteiligt, profitierte aber offensichtlich davon, dass vor allem die USA die Achsenmächte im Fernen Osten banden und es den Russen ermöglichten, sich auf die Westfront zu konzentrieren. Kurz vor Kriegsende tauchte noch Stalin auf der fernöstlichen Bühne auf, und Moskau erhielt die Kurilen als «Kriegsbeute», die Japan unter dem Titel «nördliche Territorien» vergeblich zurückfordert. Bis heute gibt es wegen dieses Inselstreits zwischen Moskau und Tokio auch keinen bilateralen Friedensvertrag zur endgültigen Bereinigung des Erbes des Zweiten Weltkrieges.

Begrenzte Normalisierung

Im Gefolge des Kriegsausbruchs in der Ukraine und auch als deklarierter Machtanspruch, als eurasisches Imperium gefürchtet zu werden, hat Putin in jüngster Zeit trotz heftiger Beanspruchung seiner Streitkräfte an der Westfront auch im Fernen Osten militärisch auftrumpfen lassen. Im Ochotskischen Meer führten russische Flotteneinheiten Manöver durch, und auf den Kurilen markierten russische Truppen mit Kriegsübungen Terrain. Letzteres und Luftraumverletzungen durch russische Helikopter lösten japanische Verärgerung aus. Auch mussten die Japaner zur Kenntnis nehmen, dass die Teilnahme an westlichen Sanktionen gegen Moskau einen hohen Preis hat.

Traditionell hat Japan versucht, sich mit einer Politik des Low Profile aus internationalen Disputen fernzuhalten. Bis zur Machtübernahme von Xi Jinping 2012 und einem aggressiveren Auftreten Chinas auf der Weltbühne gong dies relativ gut. Heute ist dies nicht mehr der Fall, und Tokio ist gleich an drei Fronten, China, Nordkorea und nun Russland, gezwungen, klare Kante zu zeigen. Überall zeigt sich, wie begrenzt und vor allem krisenanfällig eine Normalisierung ist, wenn sie nicht durch eine schlagkräftige Verteidigung untermauert wird.

Unvermeidliche Aufrüstung

Etliche Jahre vor dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine, unter dem langjährigen Ministerpräsidenten Shinzo Abe, hatte Japan sein sicherheitspolitisches Profil geschärft. Anders als die meisten, in der Regel politisch ziemlich kurzlebigen Vorgänger engagierte sich Abe stark in der Aussen- und der Sicherheitspolitik. Zwar vermochte er nicht, sein politisches Hauptziel, Artikel neun der japanischen Verfassung abzuschaffen, zu realisieren. Doch er hinterliess mit dem Quadrilateral Security Dialogue (Quad), dem die USA, Indien, Japan und Australien angehören, einen neuen indo-pazifischen Sicherheitspfeiler.

Üblicherweise fällt es schwer, die japanische Öffentlichkeit für militärische Angelegenheiten zu interessieren. Viele Japaner verbinden pazifistische Attitüden mit einem starken Antiamerikanismus, der sich unter anderem auch in der Ablehnung der US-Basen manifestiert. Wenn man argumentiert, dass angesichts der auch militärischen Wiedererstarkung der Weltmacht China ein Verzicht auf den amerikanischen Schutzschirm nur um den Preis einer kräftigen Aufstockung und möglicherweise Nuklearisierung der japanischen Verteidigung zu verantworten wäre, erhält man das diffuse Argument, dass Japan mit friedlichen Mitteln die Koexistenz mit China absichern könne.

Immerhin hat der russische Überfall auf die Ukraine bei vielen Japanern zu einem Umdenken geführt hat. Nachdem bisher Japan nicht einmal 1% des Bruttoinlandprodukts für Verteidigung aufgewendet hat, zeigen jüngste Meinungsumfragen, dass eine knappe Mehrheit von 55% das Vorhaben der regierenden Liberal-Demokratischen Partei, die Verteidigungsausgaben auf 2% des BIP zu steigern, unterstützt.

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