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09:52 Uhr - 13.10.2016

Korea kämpft mit digitaler Schwermut

Das High-Tech-Land strebt eine Führungsrolle im Internetzeitalter an. Doch mit dem Wachstum hapert es. Das japanische Beispiel macht Angst.

Alle Passagiere in der überfüllten U-Bahn in Seoul sind auf ihr Samsung-Handy fixiert. Schaut man ihnen über die Schulter, erkennt man weder Google noch WhatsApp. Verwendet werden anderswo unbekannte Dienste wie Naver für Suchanfragen und Karten oder KakaoTalk für Kurznachrichten.

Für Yoo Shin Jung, Leiter eines staatlichen Zentrums für Finanztechnologie, ist dieses Inseldasein ein Problem: «Wir haben keine globalen Internetriesen wie Facebook (FB 129.05 0.13%) in den USA oder Tencent (Tencent 27.35 -0.58%) und Alibaba (BABA 103.62 -1.53%) in China», erklärt er. «Künftig sind 40% der Weltwirtschaft digital. Wir müssen uns einen globalen Wettbewerbsvorteil sichern.» Jung sitzt in einem schicken Start-up-Zentrum in Pangyo, einem Ort, der sich als neues Silicon Valley anpreist.

Dort will man die Digitalisierung vorantreiben. Doch es ist schwer, ein neues Wachstumsmodell zu finden – dabei ist kein anderes Land so gut für die digitale Revolution aufgestellt. Korea hat superschnelles Internet. Für Forschung wird im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung nirgendwo so viel ausgegeben. Zwei Drittel der jungen Erwachsenen haben eine Universitätsausbildung. Die Regierung hat Dutzende hoch subventionierter Zentren eingerichtet, um Start-ups zu fördern.

Enttäuschendes Wachstum

«Das Wirtschaftswachstum fällt», beobachtet Byungtae Lee mit Sorge. Der Professor an der Eliteuniversität KAIST ist auch in der Start-up-Finanzierung aktiv. Das Bruttoinlandprodukt wächst zwar jährlich noch fast 3%. Doch in den Neunzigerjahren war das Wachstum dreimal höher.

«Mir kommt es vor, als würden wir das Schicksal Japans wiederholen – mit 25 verlorenen Jahren», sorgt sich Lee. «Unsere Zukunft hängt davon ab, ob wir Innovationen akzeptieren – aber in den Medien diskutiert man lieber über die durch Technologie gefährdeten Arbeitsplätze.»

zoomJapans Beispiel macht Angst. «Die Alterung unserer Gesellschaft folgt der von Japan – mit einer Verzögerung von nur zwanzig Jahren», berichtet der Ökonom Kim Seong Tae, Leiter des Forschungsinstituts KDI . Das japanische Szenario droht: Der Konsum würde fallen, die Staatsschulden würden wachsen, die Deflation um sich greifen. Tae fordert, die Industrie auf neue Wachstumssektoren auszurichten. «Die schnellsten Wettbewerber werden dominieren», glaubt auch er.

Staatlich geplante Innovation

Die Regierung versucht, von oben herab Innovationen anzukurbeln. Technikfächer an Universitäten werden mit Milliarden gefördert. Dafür werden gar einige geisteswissenschaftliche Abteilungen geschlossen. Das soll junge Koreaner in die Wachstumsbranche lotsen. Denn viele von ihnen finden keinen Job mehr: Mit 12,5% ist die Arbeitslosigkeit der bis 29-Jährigen so hoch wie seit den Neunzigerjahren nicht.

Professor Lee hofft auf die Reformkraft im Land. Er sieht aber den Wirtschaftsoptimismus der Koreaner schon seit Jahren im Abwärtstrend: «In den Neunzigerjahren versäumten wir es, unser Land zu reformieren. Dann traf uns in der Asienkrise ein Schock, der die Existenz ganzer Familien zerstörte.» Das Selbstbewusstsein des Boomlandes wurde nachhaltig gestört.

Gemäss Regierungsprogramm will sich Südkorea als «kreative Wirtschaft»  neu erfinden. Doch Lee beobachtet, dass «man in allen politischen Parteien nach mehr Regulierung und mehr Interventionen ruft». So würden noch «archaische Gesetze» gelten. Im Ausland gespeicherte, unzensierte Landkarten von Korea darf man etwa nicht aufrufen. «Unsere Kinder können deswegen noch kein Pokémon Go spielen», erzählt Lee lachend.

zoomDer Ökonom Tae sieht in Koreas Wirtschaft viel Reformbedarf. So sei die Regulierung des Arbeitsmarktes zu strikt. «Daher kauft die Industrie lieber Maschinen, statt neue Arbeitsplätze zu schaffen», erklärt er. Und die Wirtschaft werde seit der Finanzkrise durch «Zombie-Unternehmen»  etwa im Bau- und im Logistiksektor belastet. Diese Unternehmen müssten eigentlich Insolvenz anmelden. Banken halten sie aber mit Krediten und Zinsstundungen künstlich am Leben.

Ein akutes Beispiel solcher Zombies: das insolvente Frachtunternehmen Hanjin Shipping. Es hat weltweit für Schlagzeilen gesorgt, als Dutzende Schiffe keine Häfen mehr anlaufen durften. Noch in den Achtzigerjahren war man stolz auf die Schifffahrt, als die japanischen Reedereien überholt werden konnten.

Grosskonzerne belasten

Selbst Vorzeigeunternehmen wie Samsung (SMSD 504 0.9%) Electronics werden zur Belastung. Um den Riesen –  der Umsatz entspricht rund einem Fünftel des koreanischen BIP – sorgt man sicht nicht nur wegen der Akku-Explosionen. Die Handymarke gehört nicht mehr zu den Top fünf in China. Südkorea hat von Anfang Jahr bis August 18% weniger Handys und 7% weniger Monitore exportiert.

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Nun überholt China auch in der digitalen Sphäre. «In einigen Bereichen der digitalen Welt ist China schon die Nummer eins vor den USA», sagt Yoo Shin Jung. «Das Land konnte auf einem weissen Blatt Papier anfangen.» Peking hat sich mit Regulierung zurückgehalten, die chinesischen Unternehmen müssen anders als die koreanischen nicht auf die Privatsphäre achten.

Der Finanztechnologie – kurz Fintech – kommt laut Jung eine Schlüsselstellung zu. «In Zukunft wird jede Art von Handel per Handy bezahlt werden», prophezeit Jung. «Dafür muss eine globale Bezahlplattform gefunden werden, die Sicherheit garantiert. Wer das zuerst bietet, der wird zur Internet-Superpower.»

Jeder werde seine Transaktionen über solch eine Plattform abwickeln wollen. Ein sicheres System verspricht etwa Blockchain, die Technologie hinter der Digitalwährung Bitcoin. «Daher interessiert sich neben Banken auch Samsung für die Entwicklung der Blockchain», sagt Jung.

Die Regierung hat schon etliche Regulierungen für Fintech gelockert. So wird von Finanzunternehmen weniger Kapital verlangt. Und sogar eine heilige Kuh aus Zeiten nach der Asienkrise – die strikte Trennung der mächtigen Industriekonzerne und des Finanzbereichs – wird für die Fintech-Revolution geopfert.

Für Byungtae Lee ist dagegen klar, dass Korea trotz aller Anstrengungen bei Fintech hinterherhinkt. Zwar bekommt Samsung Pay viel Publizität, doch ist «mobiles Bezahlen in Südkorea viel weniger wichtig als in China, wo AliPay von Alibaba dominiert», erklärt Lee. Zum einen seien Kreditkarten einfach zu verwenden und weiter verbreitet als in China. Und es gibt keinen einheitlichen Standard – zwanzig verschiedene mobile Bezahlsysteme würden verwendet. «Die Einzelhandelsketten setzen alle eigene Systeme ein», beklagt Lee.

Jahrzehntelang konnten die staatliche Industriepolitik und die Macht der Konglomerate ein hohes Wachstum sichern. Doch das alte Rezept hat ausgedient. Die von der Regierung angestrebte Lösung aus Start-ups, Innovationsförderung und weniger Regulierung muss sich erst beweisen. So lange herrscht digitale Schwermut.

Der Artikel entstand im Rahmen einer Pressereise auf Einladung von Kotra, Koreas Agentur für Handelsförderung.

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