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09:38 Uhr - 28.08.2015

«Zinserhöhung rückt wieder ins Bild»

Marc Chandler, Chef-Devisenstratege der US-Privatbank Brown Brothers Harriman & Co., sieht mit der Erholung an den Börsen eine steigende Wahrscheinlichkeit, dass die amerikanische Notenbank nun doch schon im September an der Zinsschraube dreht.

Zur PersonMarc Chandler hat die Devisenkurse scharf im Blick. Im Dienst verschiedener Beratungsunternehmen und Finanzkonzerne beschäftigt er sich inzwischen seit 25 Jahren mit den globalen Kapitalmärkten. Seit 2005 ist er Chef-Devisenstratege von Brown Brothers Harriman & Co., der grössten und ältesten Privatbank der USA. Zuvor arbeitete er in der gleichen Funktion für HSBC Bank USA und Mellon Bank. In Chicago aufgewachsen, hat Chandler einen Studienabschluss in internationaler Wirtschaftspolitik und amerikanischer Geschichte an der Northern Illinois University und der University of Pittsburgh gemacht. Heute lehrt er als Privatdozent an der New York University. Sein erstes Buch mit dem Titel «Making Sense of the Dollar» wurde 2009 veröffentlicht. Beliebt ist ebenso sein Blog Marc to Market. Chandler lebt mit seiner Familie in New York und ist ein eingefleischter Fan des traditionsreichen Baseballteams Chicago Cubs. CG War das nur ein heftiges Sommergewitter oder etwa der Vorbote eines schweren Herbststurms? Seit der zweiten Wochenhälfte scheint über den Börsen zwar wieder die Sonne. Die Wucht und das Tempo der vorangegangenen Turbulenzen geben jedoch zu denken. «Solche Situationen können plötzlich ein Eigenleben annehmen», sagt Marc Chandler. Für den Devisenstrategen der US-Privatbank Brown Brothers Harriman & Co. hat der Dollar bei den Erschütterungen der letzten Tage eine zentrale Rolle gespielt. Er hält es nach wie vor für denkbar, dass die amerikanische Notenbank trotz der Korrektur am Aktienmarkt nicht von ihren Plänen abrückt und schon Mitte September erstmals an der Zinsschraube dreht. Zudem sieht er Hinweise, dass die Regierung in China nun direkt an der Börse interveniert, um die Lage vor der grossen Militärparade nächste Woche zu beruhigen.

Herr Chandler, die Finanzwelt hat eine nervenaufreibende Woche erlebt. Was ziehen Sie für ein Fazit aus den vergangenen Tagen?
Märkte neigen zu Übertreibungen. Ohne Vorwarnung kann die Stimmung augenblicklich von friedlicher Ruhe zu extremer Volatilität drehen. So funktioniert aber Kapitalismus. Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz brachte es während der Finanzkrise treffend auf den Punkt: Wir wünschen uns, dass es an den Märkten wie an einem reglementierten Boxkampf zwischen zwei Profis zugeht. Manchmal artet die Situation aber in eine wilde Barschlägerei aus.

Am US-Aktienmarkt ist es erstmals seit vier Jahren zu einer Korrektur gekommen. Wie geht es jetzt weiter?
Amerikanische Aktien haben seit Februar in einem engen Korridor gehandelt. Mich erinnert das an eine Sprungfeder, die immer weiter und weiter zusammengedrückt wird, bis sie plötzlich losgeht. Von einer Normalisierung kann man zwar noch kaum sprechen. Inzwischen haben die Kursschwankungen aber bereits spürbar abgenommen.

Was ist in China los, von wo der Panikschub ausgegangen ist?
An den chinesischen Börsen kam es diesen Donnerstag in der letzten Handelsstunde zu grossen Avancen. Möglicherweise hängt das mit einem wichtigen Grossanlass von nächster Woche zusammen, wenn Peking das Ende des Zweiten Weltkriegs mit einer grossen Militärparade zelebriert. Die Regierung hat bereits angeordnet, die Industrieproduktion zu senken, damit sich die Luftverschmutzung zu den Feierlichkeiten verringert. Es wäre daher gut möglich, dass sie auch die Börse vor diesem Ereignis beruhigen will.

Grosse Beunruhigung hat hingegen die Abwertung des Yuans verursacht. War das die Eröffnungssalve zu einem Währungskrieg?
Die Abwertung war nur gering. Entscheidend ist nicht, was China getan hat, sondern welche Absichten dahinterstecken. Das ist die Unbekannte, die an den Märkten für so grosse Nervosität gesorgt hat. Es gibt Befürchtungen, dass das nur ein erster Schritt für eine grössere Abwertung von bis zu 10% war. Ich bin mir da aber nicht so sicher. Zudem wird die Gefahr überschätzt, dass China eine globale Rezession auslösen könnte.

Warum?
China beziffert das Wirtschaftswachstum auf 7%. Ich denke, es sind aber nur 6% oder sogar noch etwas weniger. Das ändert allerdings nichts daran, dass die Konjunktur weiterhin expandiert. Ausserdem weist China einen grossen Handelsüberschuss aus. Im Prinzip borgt es sich damit einen Teil der wirtschaftlichen Nachfrage anderer Länder aus, die seine Güter importieren. Chinas Bedeutung für das Wachstum der Weltwirtschaft ist damit weniger gross, als es auf den ersten Blick erscheint.

Worauf müssen Investoren nun achten?
Die Aufwertung des Euros und der Rückgang des Ölpreises haben in Europa neue Sorgen um Deflation ausgelöst. An der Sitzung der Europäischen Zentralbank von kommender Woche könnte EZB-Chef Mario Draghi deshalb betonen, dass die Dauer und der Umfang des im März gestarteten Stimulusprogramms flexibel sind. Er könnte damit durchblicken lassen, dass die EZB ausreichend Spielraum hat, die Wertschriftenkäufe nötigenfalls auszuweiten.

Was heisst das für das Federal Reserve in den USA? Ist eine Zinserhöhung im September nun vom Tisch?
Wichtig war diese Woche der Auftritt von Bill Dudley, dem Chef der Fed-Distriktnotenbank New York. Seiner Ansicht nach sind die Argumente für eine Zinserhöhung im September nun weniger überzeugend. Zugleich hat er aber gesagt, dass sich die Bedingungen erneut ändern können. Bis zum Treffen der US-Notenbank sind es noch zweieinhalb Wochen. Für die Märkte ist das eine Lebensspanne. Umso wichtiger sind die Daten zum Arbeitsmarkt nächsten Freitag. Überraschen sie positiv, dann rückt ein Zinsschritt im September wieder ins Bild.

Am Samstag meldet sich auch Fed-Vizechef Stanley Fischer zu Wort. Es wird spekuliert, dass er am Wirtschaftssymposium in Jackson Hole einen Hinweis zur Zinsfrage gibt.
Das Fed kommt mir manchmal vor wie die Kommunistische Partei Chinas. Es ist ein Zentralkomitee, das die Geldpolitik bestimmt, wobei Fed-Chefin Yellen, Dudley und Fischer den inneren Kreis bilden. Was Dudley gesagt hat, reflektiert damit die Meinung der gesamten Führung, inklusive Fischer. Das Fed hat mit Blick auf die Zinserhöhung hart daran gearbeitet, den Fokus von einem bestimmten Zeitplan auf die Konjunkturdaten zu verlagern. Fischer wird deshalb alle Optionen offenlassen und auf die Abhängigkeit der Geldpolitik von den Daten verweisen. Das macht die Jobzahlen so wichtig. Auch geht es um die Unabhängigkeit des Fed.

Wie meinen Sie das?
Das Fed muss demonstrieren, dass es sich nicht vom Internationalen Währungsfonds dirigieren lässt. Der IWF hat es aufgefordert, mit der Zinserhöhung bis nächstes Jahr zu warten. IWF-Chefin Christine Lagarde hat aber in der US-Geldpolitik nichts zu sagen. Spekuliert wird ausserdem, dass der Crash am Ölmarkt das Fed vom Zinsschritt abhalten könnte. Hier muss es Unabhängigkeit von Saudi-Arabien zeigen. Das Gleiche gilt für die Abwertung des Yuans: Peking kann keinen Einfluss auf die Geldpolitik in den USA nehmen.

Die Aussicht auf die erste Zinserhöhung seit der Finanzkrise gab dem Dollar kräftig Auftrieb. Hatten die Turbulenzen an den Märkten auch damit zu tun?
Mit dem Dollar verhält es sich wie mit dem Drehpunkt einer Wippschaukel. Auf der einen Seite sitzen die Währungen der Länder, die stark vom Wachstum der Weltwirtschaft abhängig sind. Dazu gehören der Dollarblock – also Kanada, Australien und Neuseeland – sowie die meisten aufstrebenden Volkswirtschaften. In diesen Ländern sind die Devisenkurse zum Dollar gefallen oder sogar völlig eingebrochen wie in Mexiko, Südafrika, Brasilien und in der Türkei.

Und was ist mit dem anderen Ende der Schaukel?
Hier sitzen der Yen und der Euro sowie Währungen, die wie der Euro handeln: zum Beispiel der Franken und die dänische Krone. Auf dieser Seite bewegten sich die Kurse zum Dollar in den letzten Wochen deutlich nach oben, wodurch der Druck an den Finanzmärkten immer mehr zugenommen hat.

Weshalb?
Erstens wurden im gesamten Währungssystem Dollarwetten gegen den Euro und den Yen gemacht. Vor allem der Euro diente dabei als Finanzierungsvehikel. Ein beliebter Carry Trade war beispielsweise, sich in Euro zu verschulden und dann auf China und andere aufstrebende Märkte zu setzen. Diese Positionen mussten nun auf dramatische Art und teilweise mit Brachialgewalt aufgelöst werden.

Und zweitens?
Das Stimulusprogramm der EZB hat Exchange Traded Funds sehr beliebt gemacht, die auf europäische Aktien setzen und den Euro dabei ausklammern. Besonders populär war etwa der Wisdom Tree Europe Hedged Equity Fund, der einen Korb europäischer Exporteure enthält und gegen einen schwächeren Euro abgesichert ist. Ähnliche Produkte hatten Deutsche Bank (DBK 26.555 -0.34%) und BlackRock in den letzten Monaten lanciert. Weil europäische Aktien aber immer schwächer tendierten und der Euro gleichzeitig anzog, hat das Investoren arg in Schwierigkeiten gebracht.

Wie bedeutet das alles für den Franken?
Mich erstaunt, dass er sich zum Euro in den letzten Tagen nicht stärker verteuert hat. Bevor die Märkte implodierten, hatte sich der Franken bis Mitte August auf 1.09 Fr./€ abgeschwächt. Ich erwarte deshalb, dass er sich auf mittlere Sicht zwischen 1.07 und 1.10 Fr./€ bewegen wird. Der Frankenkurs zum Dollar wiederum hängt massgeblich von der generellen Entwicklung des Euros ab.

Wie sollen sich Investoren jetzt verhalten?
Händler sind wie Surfer, die versuchen, jede kleine Welle an den Märkten zu erwischen. Investoren hingegen orientieren sich auf mittlere bis lange Sicht und verdienen ihr Geld mit diszipliniertem Risikomanagement. Das heisst, nicht vollständig engagiert sein und Ausschau nach Chancen halten. Statt dem Markt hinterherzurennen, kann man so Positionen bei Rückschlägen akkumulieren, wie das nun der Fall ist. In den aufstrebenden Märkten wird es allerdings weiterhin Probleme geben. Vor allem Länder und Unternehmen, die von den Rohstoffpreisen abhängen, bleiben in einer schwierigen Lage.

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