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13:59 Uhr - 29.05.2015

«Das Umfeld für europäische Aktien ist gut»

Graham Secker, Leiter Aktienstrategie Europa von Morgan Stanley, schätzt das Kurspotenzial auf 10 bis 11% und mag besonders Bank- und Energiewerte, wie er im Interview mit FuW erläutert.

Während viele Experten mit einer Blasenbildung an den Aktienmärkten rechnen, bleibt Graham Secker vorsichtig. Trotz Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank rechnet der Aktienstratege von Morgan Stanley (MS 38.73 0.28%) nicht mit einer weiteren Bewertungsexpansion, sondern basiert sein Kursziel auf dem Gewinnwachstum europäischer Unternehmen, das nun endlich anziehen sollte. Im Gespräch erklärt er auch, warum er Bank- und Energiewerte mag und welche Sektoren er meidet.

Zur PersonGraham Secker arbeitet seit 2000 für die US-Investmentbank Morgan Stanley in London. Er begann als Stratege für den britischen Aktienmarkt. 2002 übernahm er die Leitung des UK-Strategieteams. Vier Jahre später weitete er seinen Wirkungskreis auf Europa aus. 2010 wurde ihm die Verantwortung für das paneuropäische Strategieteam übertragen, das u. a. für die Sektorstrategie und thematisches Research zuständig ist. Vor seiner Zeit bei Morgan Stanley arbeitete Secker drei Jahre im Strategieteam der UBS. Der Brite graduierte 1995 mit einem BA in Finance von der Universität Bournemouth. (GM) (Bild: ZVG)Herr Secker, stehen die Ampeln für europäische Aktien auf Grün?
Auf Sicht von drei bis sechs Monaten stimmt das. Wachstum, das Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank und ein schwächerer Euro geben ein sehr gutes Umfeld für europäische Aktien ab. Kurzfristig sind wir etwas vorsichtiger, weil die Börsen stark gestiegen sind und die Volatilität an den Währungs- und den Anleihenmärkten zugenommen hat. Diese Unsicherheiten können noch ein wenig andauern, doch wenn sich die Anzeichen mehren, dass sich die US-Wirtschaft von der gegenwärtigen Schwäche erholt, sollte sich der Aufwärtstrend an den weltweiten Aktienmärkten fortsetzen.

Ihre Vorsicht hat demnach keine europaspezifischen Gründe?
Wenn wir von Griechenland absehen, kann man Folgendes feststellen: In den letzten Jahren war das globale Umfeld gut, während Europa hinterherhinkte. Seit Anfang Jahr ist es genau umgekehrt – Chinas Wachstum präsentiert sich sehr schwach, und auch in den USA stottert der Konjunkturmotor, während Europa akzeptabel wächst und das Konsumenten- und Geschäftsvertrauen zunimmt. Die Erholung ist zudem breit abgestützt. Unsere Ökonomen erwarten für 2016 ein Wachstum von 2,2% für die Eurozone.

Heisst das, in Europa ziehen endlich auch die Unternehmensgewinne an?
In unserer Strategie für dieses Jahr erwarteten wir Aufwärtsrevisionen für Wirtschaft und Gewinne. Ersteres ist eingetreten, Letzteres hat sich in den letzten Wochen abzuzeichnen begonnen. Erstmals seit vier Jahren werden in Europa mehr Schätzungen nach oben als nach unten angepasst. In unseren Augen sind die Analysten jedoch noch nicht übermässig optimistisch – sie haben zwar die Schätzungen für die nächsten ein oder zwei Quartale angehoben, ihre langfristigen Prognosen aber noch nicht angepasst.

Wie hoch wird das Gewinnwachstum ausfallen?
Wir rechnen für 2016 mit 10 bis 13% Gewinnwachstum für europäische Aktien. Der globale Konjunkturaufschwung trägt 4 bis 5% bei, der schwache Euro – auf gesamteuropäischer Ebene – weitere 4 bis 5% und der Kollaps der Anleihenrenditen nochmals 2 bis 3%.

Ziehen Sie europäische Aktien denen anderer Regionen vor?
Wir präferieren japanische, europäische und US-Aktien, während wir für die Schwellenländer vorsichtig sind. Ich glaube, Europa wird besser abschneiden als die USA, weil die EZB lockert, während die US-Notenbank über einen Zinsschritt nachdenkt. Zudem steigen die Gewinne in Europa stärker als in den USA.

Bedeutet die divergierende Geldpolitik, dass die Bewertungen in Europa weiter steigen können, während sie in den USA tendenziell sinken?
Die durchschnittliche europäische Aktie handelt zu einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 18. Das ist der höchste Wert seit 1999. Wenn Inflation und Wachstum anziehen, sollte das KGV sinken. So war es zumindest in früheren Zyklen. Doch weil wir in präzedenzlosen Zeiten mit quantitativer Lockerung und negativen Anleihenrenditen leben, fragt sich schon, wie eine Aktie bewertet werden soll. Es gibt keine eindeutig richtige oder falsche Antwort. Eine weitere Bewertungsexpansion ist durchaus möglich, wenn Anleger aus Anleihen in Aktien umschichten.

Sie rechnen aber nicht mit steigenden KGV?
Nein. Unser Kurspotenzial von 10 bis 11% ergibt sich hauptsächlich aus dem Gewinnwachstum.

Das heisst, Sie erwarten eine Normalisierung von Margen und Kapitalrenditen?
Genau. Auf Basis des KGV scheinen europäische Aktien hoch bewertet, auf Basis der Dividendenrendite und des Preis-Buchwert-Verhältnisses ist die Bewertung hingegen durchschnittlich. Das normalisierte KGV, auch als Shiller-KGV bekannt, entspricht ebenfalls dem historischen Mittel. Europa ist also nicht zu teuer. Von wie vielen Anlageklassen kann man das gegenwärtig behaupten? Nicht von US-Aktien und von keinem einzigen Anleihen- oder Immobilienmarkt. In einer Welt, in der es keine günstigen Anlagen gibt, sind europäische Aktien mit einer fairen bis leicht erhöhten Bewertung attraktiv.

Inwiefern beeinflusst die präzedenzlose Geldpolitik Ihren Analyseprozess?
An unseren bewährten Modellen haben wir nichts geändert. Niedrige Zinsen könnten ja auch etwas über den langfristigen Wachstumsausblick sagen. Wir sind pragmatisch und nicht dogmatisch. Wir schliessen nicht aus, dass die Bewertungen noch höher klettern – denn schliesslich hat niemand Erfahrung mit negativen Anleihenzinsen –, rechnen aber nicht damit. Statt zu denken, wie hoch das KGV sein soll, analysieren wir lieber die Einflussfaktoren, die das KGV höher oder tiefer treiben.

Diese Faktoren dürften für eine höhere Bewertung sprechen.
In unserem Basisszenario rechnen wir mit einem leicht niedrigeren KGV. Das «Risiko» könnte wegen der quantitativen Lockerung, einer Umschichtung aus Anleihen in Aktien oder einer Belebung der Übernahmeaktivität tatsächlich in einem höheren KGV liegen. Wenn sich die Wirtschaft in die richtige Richtung bewegt, achten Anleger nicht so sehr auf die Bewertung. Dann ist es auch einfacher, auf die relative Attraktivität von Aktien zu Anleihen abzustellen. In einer Rezession verliert dieses Argument an Kraft, Investoren möchten dann einfach nur Bonds halten.

Sie haben Griechenland erwähnt. Wie geht es dort weiter?
Es ist nicht in Griechenlands Interesse, einen strukturellen Bruch zu riskieren, während die Politiker in der Eurozone die in den letzten Jahren errichteten Brandmauern – die sogenannten Firewalls –nicht wirklich testen wollen. Obwohl die Diskussionen gegenwärtig auf keinen gemeinsamen Nenner schliessen lassen, gehen wir von einer Einigung in letzter Minute aus. Wenn Europa in den letzten fünf Jahren in etwas gut war, dann war es im Finden von Kompromissen.

Das berühmte «kicking the can down the road».
Beide Parteien haben recht: Deutschland hat recht, dass Griechenland einschneidende Reformen braucht, und Griechenland hat recht, wenn es sagt, der Schuldenberg sei zu hoch, um ihn abzutragen. Im Idealfall kämen die beiden Ansichten kombiniert zur Anwendung, doch die politische Realität in der Eurozone lässt keine Schuldenschnitte zu. Deshalb die Kompromisse. Für den Investor spielt es aber keine Rolle, ob sich Griechenland nur durchschnittlich oder sogar ein wenig enttäuschend entwickelt – nur das schlechteste Szenario hätte einen Einfluss auf die Märkte.

Damit meinen Sie den Grexit?
Ja, dann käme es zu einem Ausverkauf an Europas Börsen. Die Frage wäre, wie lange die Korrektur andauert. Die Einführung von Kapitalkontrollen hätte einen weitaus geringeren Einfluss auf die Börsen.

Der Grexit wird von vielen Marktteilnehmern nicht mehr als Gefahr eingestuft.
Anfänglich würden Aktien 5 bis 10% korrigieren. Viele US-Investoren haben wegen Griechenland nicht in Europa investiert. Wenn das Damoklesschwert gefallen ist, steigen sie vielleicht ein. In ein bis zwei Monaten könnte der Einbruch deshalb aufgeholt sein. Das setzt natürlich voraus, dass es nur zu einer geringen Ansteckung an den Anleihenmärkten kommt, was wohl die momentan gute Verfassung der Wirtschaft reflektieren würde. Das grössere Problem sehe ich in der nächsten Rezession, wenn die Schulden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung noch höher liegen und wegen der Erfahrung mit dem Grexit – dass es also doch möglich ist, die Eurozone zu verlassen – das nächste Land mit dem Austritt liebäugelt.

Apropos Austritt: Haben die Wahlen in Grossbritannien einen Einfluss auf britische Aktien?
Die Wirtschaft war im Vorfeld der Wahlen etwas schwächer als üblich, weil der Wahlausgang und damit auch die Zukunftsaussichten unsicher waren. Dank des klaren und unternehmensfreundlichen Resultats sollte sich die Wirtschaft erholen. Deshalb dürfte auch das Pfund ziemlich stark bleiben, was wiederum den Aktienmarkt belastet.

Und das Referendum?
Gemäss den aktuellen Meinungsumfragen möchten die Briten in der EU bleiben. Solange sich das nicht ändert, dürfte sich der Markt unbeeindruckt zeigen. Nervös würde er erst, wenn die Umfragen auf einen Austritt hindeuten. Auch glaube ich, dass das Referendum auf 2016 vorgezogen wird, weil die Wahrscheinlichkeit des Verbleibs in der EU am höchsten ist, wenn sich die europäische Wirtschaft erholt. Das dürfte nächstes Jahr der Fall sein – und wer weiss schon, was 2017 ist? Mit einer wachsenden europäischen Wirtschaft und den wichtigsten Parteien im Rücken könnte sich das Referendum zum Sturm im Wasserglas entwickeln.

zoomWie soll sich ein Investor positionieren?
Wir glauben an das Thema Reflation. Deshalb setzen wir auf europäische Bankaktien, die von einer Erholung überdurchschnittlich profitieren. Die notleidenden Kredite sinken, das Gewinnwachstum dürfte trotz niedriger Zinsen intakt sein. Ferner hat der Kreditzyklus gedreht – zum ersten Mal seit mehreren Jahren werden Banken mit der Vergabe von Krediten mehr verdienen als mit dem Carry Trade am Anleihenmarkt, bei dem sie mit dem Gratisgeld der Notenbanken Anlagen mit längerer Laufzeit gekauft haben. Der Sektor ist zudem immer noch günstig. Wir mögen auch die Finanzdienstleister – also Vermögensverwalter, Börsenbetreiber und Investmentbanken. Innerhalb des Finanzsektors meiden wir nur die Versicherer.

Warum meiden Sie die Versicherer?
Versicherungsaktien waren in den letzten drei Jahren der zweitbeste Performer mit der zweittiefsten Volatilität. Dividenden waren das Hauptargument – Versicherungen haben eine hohe Rendite und stabiles Dividendenwachstum abgeworfen. Deshalb wurden sie als Anleihenersatz gekauft. Mit steigenden Zinsen verliert dieses Argument an Kraft. Dazu kühlt sich das Dividendenwachstum bei den Versicherern ab, während es für den Gesamtmarkt anzieht.

Welche Sektoren kommen sonst noch in Frage?
Der Energiesektor passt ebenfalls zu unserem Reflationierungsszenario. Wenn Anleihenrenditen und Inflationsraten anziehen, schneiden Ölaktien in der Regel besser ab als der Markt. Der Sektor ist immer noch günstig, Anleger sind untergewichtet, Analysten haben ihre Schätzungen möglicherweise zu stark reduziert – vor allem da sich der Ölpreis wieder erholt. In der jüngsten Berichtssaison wies der Sektor zusammen mit den Finanztiteln die grössten Gewinnüberraschungen auf.

Die Erholung würde auch für Industriewerte sprechen.
Im Industriesektor ziehen wir Business Services wie Personalvermittler oder Warenprüfer den Kapitalgüterwerten vor, weil diese ziemlich teuer sind.

Von welchen Sektoren lassen Sie die Finger?
Wir sind in den Sektoren Basiskonsumgüter, Versicherungen, Gesundheit, Versorger und Grundstoffe untergewichtet. Bis auf die Grundstoffwerte würden alle diese Segmente unter steigenden Zinsen leiden. Gerade Basiskonsumgüter- und Gesundheitsaktien wurden als qualitative Wachstumstitel und deshalb als Anleihenersatz betrachtet. Weil wir steigende Zinsen erwarten, sind wir für teure defensive Qualitätswerte und Bond Proxies vorsichtig.

Steigende Zinsen sind allerdings auch nicht gut für Finanzvaloren.
Diesmal stimmt das wohl nicht, weil die Zinsen nicht wegen einer restriktiven Geldpolitik anziehen, sondern weil die Notenbanken etwas weniger expansiv werden. Zudem funktioniert das Geschäftsmodell der Banken bei zu tiefen Zinsen nicht – höhere Renditen helfen also.

Warum sehen Sie von Grundstoffwerten ab?
Die schwache chinesische Konjunktur lastet auf Minenunternehmen. Obwohl die Rohstoffpreise gefallen sind, arbeiten viele Eisenerzförderer immer noch profitabel – das Potenzial für einen weiteren Abwärtsschub ist demnach vorhanden. Zwischen Minen- und Energieunternehmen gibt es zudem einen wichtigen Unterschied: Das Überangebot verschwindet bei Letzteren schneller. Weil das marginale Angebot zum Beispiel aus Schieferöl und Teersanden mit hohen Kosten verbunden ist, wird die Förderung schneller zurückgefahren, wenn die Preise fallen. Das ist bei Eisenerz nicht der Fall, denn das neue Angebot ist kostengünstig und verschwindet bei fallenden Preisen nicht.

Wird das nicht durch die günstige Bewertung der Minengesellschaften reflektiert?
Anleger sind in beiden Sektoren untergewichtet, beide Sektoren sind zudem günstig. Nur dürften die Gewinnschätzungen für Energieunternehmen den Tiefpunkt erreicht haben, was bei den Rohstoffwerten noch nicht der Fall ist.

Falls die Zinsen nicht steigen, hätte das gravierende Folgen für die Sektorallokation.
Die Zinsen haben einen Wendepunkt erreicht. Solange die Coupons fliessen, verspüren Bondanleger keinen Handlungsdruck. Nun haben aber einige Anleiheninvestoren realisiert, dass sie in einer Woche das gesamte Zinseinkommen der nächsten zehn Jahre verlieren können. Das könnte zu einem Meinungsumschwung und zu Umschichtungen in Aktien führen, was den Zinsauftrieb zusätzlich alimentieren würde.

Wie hoch könnten die Renditen deutscher Bunds steigen?
Falls unsere Wachstumsprognose von 2,2% für die Eurozone stimmt, gibt es keinen Grund, warum die Rendite zehnjähriger Bunds nicht auf den Stand von Herbst 2014 klettern sollte, als sie 1% betrug – zumal das Umfeld heute besser ist als damals.

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