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13:30 Uhr - 28.06.2017

«Die EZB betreibt monetäre Finanzierung»

Jürgen Stark, früher Mitglied des EZB-Rats, glaubt, dass sich die Notenbanken überschätzen. Die bescheidene Wirkung der Geldpolitik rechtfertige die Risiken nicht.

Der ehemalige Chefökonom der Europäischen Zentralbank spricht Klartext. «Die Zentralbanken sind völlig überfordert – aber daran sind sie selbst schuld», sagt Jürgen Stark im Gespräch, das vergangene Woche am Rande des «Finanz und Wirtschaft Indexing Forum» stattfand. In Überschätzung ihrer Möglichkeiten hätten die Notenbanken zu viel Macht an sich gezogen und suggeriert, sie seien die Retter der Welt. Stark hält wenig von Null- und Negativzinsen. Helikoptergeld wäre für ihn «ein reiner Akt der Verzweiflung.» Stattdessen solle sich die Eurozone reformieren und das Problem der faulen Kredite anpacken. Den Euro sieht er trotz allem nicht in Gefahr.

Herr Stark, die US-Notenbank hat mit der Normalisierung der Geldpolitik begonnen. Wie lange dauert dieser Prozess?
Von einer geldpolitischen Normalisierung sind wir weltweit noch weit entfernt. Auch die US-Notenbank betreibt eine unangemessene Zinspolitik – die Leitzinsen müssten bei einer Inflationsrate von 2%, einem Wachstum von leicht über 2% und Vollbeschäftigung mit 4,3% Arbeitslosigkeit höher sein. In Europa sind wir von einem solchen Prozess noch weit weg.

Was ist die Konsequenz der zu lockeren Geldpolitik?
Mit Null- und Negativzinsen sowie dem Kauf von Staatsanleihen verzerrt die EZB die Märkte, die somit nicht mehr die richtigen Signale an die Marktteilnehmer liefern. Das gilt für Staats- und Unternehmensanleihen wie auch für andere Papiere. Es gibt Spillover-Effekte auf Nachbarländer wie die Schweiz, die ohne den Druck der EZB keine Negativzinsen haben müsste. Dazu hat der Zins seine Lenkungs- und Steuerungsfunktion verloren. Mit Nullzinsen befinden sich Volkswirtschaften in einem Blindflug.

Was kann die Schweizerische Nationalbank in dieser Lage unternehmen?
Die Schweiz ist wie Dänemark oder Schweden Opfer der EZB-Politik. Im Versuch, den Aufwertungsdruck auf ihre Währungen abzubremsen, müssen sie eine entsprechende Politik betreiben.

Verursacht die expansive Geldpolitik weitere Probleme?
Es werden Unternehmen am Leben gehalten, die eigentlich den Markt schon hätten verlassen müssen. Diese Zombie-Unternehmen sind mit ein Grund, warum die Produktivitätsentwicklung deutlich schwächer ist als in den vergangenen Jahrzehnten.

Gibt es noch andere Gründe, warum die Produktivität nicht vom Fleck kommt?
Das ist die gleiche Frage wie diejenige, warum die Inflation so niedrig ist. Bisher gibt es keine schlüssige Erklärung, sondern nur verschiedene Erklärungsversuche. Globalisierung, Vernetzung und technologische Innovation haben die Preistransparenz erhöht, was Preiserhöhungen schwieriger macht. Dazu kommen Messprobleme. Wir verwenden im täglichen Leben Produkte, für die es keinen Preis gibt – zum Beispiel das Surfen im Internet oder das Beschaffen von Informationen.

Was sonst drückt die Produktivität und die Inflation nach unten?
Die Qualitätsverbesserung von Produkten wird ebenfalls unzureichend abgebildet. Ausserdem ist gerade in Europa das Wirtschaftswachstum beschäftigungsintensiv, weil es vom Dienstleistungssektor getrieben wird, wo Löhne und Produktivität niedrig sind. Dazu kommt: Man darf nicht nur auf die Konsumentenpreise schauen, sondern muss auch die Vermögenspreise in Betracht ziehen. Dass die Immobilienpreise in den Ballungsräumen in die Höhe geschossen sind, ebenso wie die Aktienmärkte, ist durch diese Geldpolitik mitverursacht.

Der Bankensektor klagt wegen der tiefen Zinsen.
Negative Einlagezinsen schwächen die Ertragskraft insbesondere der Banken, deren Geschäftsmodell stark von der Zinsmarge abhängig ist. Insgesamt sehe ich immer mehr unbeabsichtigte Konsequenzen der Geldpolitik, die allerdings von der EZB und anderen Zentralbanken als nicht existent betrachtet werden.

Wären höhere Zinsen angesichts der stark gestiegenen Schulden überhaupt verkraftbar? Die Notenbanken betreiben doch bewusst Finanzrepression.
Finanzrepression war nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein probates Mittel, um die kriegsbedingten Schulden abzubauen. Dazu hat man die Zinsen unter dem Nominalwachstum der Wirtschaft gehalten, also unter dem realen Wachstum plus Inflation. Damit hat man die Schulden abgeschmolzen. Dieser Prozess dauerte bis in die Achtzigerjahre. Jetzt sind wir wieder in einer solchen Situation. In Friedenszeiten war die Staatsverschuldung nie höher als heute.

Das macht Zinserhöhungen schwierig.
In Europa, England und Japan wurden durch den Kauf von Staatspapieren bewusst die Refinanzierungskosten gesenkt – die Regierungen können auslaufende Schuldtitel durch neue Anleihen mit geringer Verzinsung ersetzen. In Spanien oder Italien betrug dieser Effekt für zehnjährige Papiere mindestens 0,6 bis 0,8 Prozentpunkte. Damit hat man einen falschen Anreiz gesetzt. Insbesondere Italien ist sich der misslichen Lage des öffentlichen Haushalts nicht voll bewusst. Deshalb wäre ein Ausstieg aus dem Anleihenkauf und der damit zusammenhängende Anstieg der Renditen eine Schockphase für diese hoch verschuldeten Länder.

Die negativen Effekte einer Zinserhöhung würden demnach überwiegen.
Nicht unbedingt. Realwirtschaftlich könnte ein Zinsanstieg einen Investitionsschub auslösen. Glauben die Unternehmen, dass die Zinsen steigen, würden sie sich womöglich der günstigen Finanzierungsbedingungen bedienen und Investitionen vorziehen. Ich sehe das Problem deshalb eher bei der öffentlichen Verschuldung als bei der Wirkung auf die Realwirtschaft.

Es gibt Stimmen, die Staatsschulden für unproblematisch halten, weil der Staat über die Notenpresse verfügt, die Geld drucken und die Staatspapiere aufkaufen kann.
Die monetäre Finanzierung der Staatsschuld ist in der EU verboten. Papiere dürfen nur im Handel am Sekundärmarkt erworben werden. Dabei wissen wir ganz genau, dass Primär- und Sekundärmarkt eng miteinander verwoben sind. Da kann man noch so künstlich die Grenzen ziehen. Was die EZB tut, ist monetäre Finanzierung.

Sie haben einmal gesagt, die EZB habe ihr Mandat überdehnt.
Bei meinem freiwilligen Ausscheiden aus dem EZB-Rat habe ich gesagt – und ich habe damals versucht, das diplomatisch zu formulieren –, die EZB habe ihr Mandat bis zum Extremen gedehnt. Nach allem, was seit 2012 geschehen ist, sage ich heute, die EZB handelt ausserhalb ihres Mandats.

Damit scheint der Markt derzeit kein Problem zu haben.
Das liegt daran, dass der Markt kurzfristig ausgerichtet ist und weiterhin «Spielmaterial» erhalten will. In der Vergangenheit hat monetäre Finanzierung ab einem bestimmten Grad immer zu höherer Inflation geführt. Aber wir leben offenbar in einer anderen Welt, in der wir die Inflation nicht mehr richtig messen und in der die Staaten die potenzielle Belastung durch die hohe Verschuldung nicht mehr spüren. Es gibt eine Grafik der BIZ – der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel – über die letzten dreissig Jahre: Die Zinsen gehen stetig nach unten, gleichzeitig steigt die Verschuldung. Die niedrigen Zinsen geben einen deutlichen Anreiz, sich stärker zu verschulden.

Auch das scheint die Märkte wenig zu kümmern.
Aber was bringt das? Die Notenbanken können doch die Politik der Negativzinsen nicht dauerhaft weiterführen. Was ist in der nächsten Krise? Wenn die Zentralbanken die Finanzierung der Staaten sicherstellen müssen, hat das zur Konsequenz, dass der Ausstieg nie erfolgen kann. Wie sind die Zentralbanken dann gerüstet, wenn der nächste Abschwung kommt? In den USA dauert die Erholung bereits sieben Jahre, in Deutschland sind es fünf.

Vor einem Jahr wurde die Einführung  von Helikoptergeld diskutiert, falls sich die Konjunktur trotz der massiven Stimuli eintrübt.
Das ist ein Beispiel, wie ein Gedankenexperiment von Milton Friedman ad absurdum geführt werden kann. In Japan hat man es probiert, in den USA mit der Ausgabe von Steuerschecks ebenso. Aber die Diskussion wurde kontrovers geführt, ob dieses Geld gespart oder ausgegeben wurde. Ich glaube nicht, dass Helikoptergeld in grossem Stil kommt. Es wäre ein reiner Akt der Verzweiflung. Die Grenzen der Geldpolitik sind längst erreicht.

Die Notenbanken könnten doch ihren Einsatz weiter erhöhen.
Die Bank of Japan betreibt seit zwanzig Jahren Wertschriftenkäufe – mit welchem Ergebnis? Steigen Inflation und Wachstum dauerhaft? Das Quantitative Easing hat den Erfolg nicht gebracht. Die Zentralbanken sind völlig überfordert – aber daran sind sie selbst schuld, da sie sich diese Last haben aufbürden lassen. Oder sie haben in Überschätzung ihrer eigenen Möglichkeiten mehr Macht an sich gezogen und den Glauben suggeriert, sie seien die Retter der Welt.

Die Zentralbanken müssen ihr Mandat erfüllen und ihr Inflationsziel erreichen.
Die von der Schweizerischen Nationalbank verwendete Definition von Preisstabilität als mittel- bis längerfristige Orientierung an einer Inflationsrate von unter 2% ist mir sehr sympathisch. Mit derselben Definition ist die EZB gestartet. Das ist eine viel bessere und glaubwürdigere Formel als die derzeitige Auslegung durch die EZB, die ein Punktziel von knapp unter 2% verfolgt. Das ist eine Verkennung dessen, was Zentralbanken leisten können. Sie können die Inflationsrate nicht feinsteuern auf 1,9% oder 1,95%. Das ist unmöglich.

Ein Argument war stets: Die Zentralbanken kaufen der Politik Zeit, damit sie die Hausaufgaben machen kann. Was müsste diese tun, um die Währungshüter zu entlasten?
Kann man Zeit kaufen? Die Idee war, mit lockerer Geldpolitik die Folgen der Strukturreformen abzufedern. Doch diese Zeit muss genutzt werden. Das wurde nicht weise getan, hat die BIZ einst diplomatisch formuliert, denn dieses Zeit-Kaufen hat dazu geführt, dass viele Regierungen nichts machten oder nur auf dem Papier. Vielleicht wird der Reformstillstand in Frankreich nach den Wahlen nun aber aufgebrochen.

Italien hat ebenfalls einige Reformen angepackt.
Auf dem Papier gibt es viele Reformansätze in Italien, de facto hat sich mit Ausnahme des Arbeitsmarkts und der Bildung aber wenig getan. Vor allem das Bankenproblem wurde viel zu spät angegangen.

Trägt die EZB Schuld daran?
Durch die Politik der EZB ist der Reformelan, wenn er denn je bestanden hat, in Problemländern abgebremst worden. Das ist ein klares Moral-Hazard-Problem: Warum soll eine Regierung schmerzhafte Massnahmen ergreifen, wenn der Druck nicht da ist, weil er von der EZB weggenommen wurde? Das gilt übrigens auch für Deutschland, das die Reformdividende der Schröder-Ära mehr oder weniger verstreichen liess.

Was hat Deutschland falsch gemacht?
Wichtige Reformen werden nicht fortgeführt, sondern teilweise sogar zurückgedreht – etwa die Erhöhung des Rentenalters, die für bestimmte Berufsgruppen auf 63 Jahre zurückgenommen wurde. Jetzt fehlen die Facharbeitskräfte. Zudem wurde der flächendeckende Mindestlohn eingeführt. Derselbe Mindestlohn über das ganze Land ist das falsche Signal. Deutschland wird von diesen Signalen nicht profitieren, sondern eher leiden.

Eine weniger expansive Geldpolitik würde also insofern helfen, als sie den Druck auf die Politik erhöht.
Dazu müssen aber zuerst die Bankbilanzen in Ordnung gebracht werden. In Portugal, Spanien, Griechenland, Zypern und Italien haben Banken notleidende Kredite in unglaublichem Ausmass in ihren Büchern. Spitzenreiter ist Italien mit 350 Mrd. € oder 17% des gesamten Kreditvolumens. Im gesamten Euroraum sind es 1,1 Bio. €. Das ist eine Belastung für die Banken, und deshalb sind sie zurückhaltend bei der Kreditvergabe. Mittlerweile hat die EZB fast 2000 Mrd. € an Staatspapieren gekauft. Die bescheidene Erholung der Kreditvergabe steht in keinem Verhältnis zu den Risiken dieser Geldpolitik.

Deutschland ist skeptisch. Warum kann sich die Bundesbank im EZB-Rat nicht durchsetzen?
Der EZB-Rat hat eine ganz andere Ausrichtung angenommen, als es 1998 oder 2006 der Fall war, denn er wurde umfassend erneuert. Es sind neue Mitglieder hinzugekommen, und es gibt jetzt eine klare Mehrheit von Mitgliedern entweder aus Krisenländern oder aus Ländern mit Problemen.

Wird der Euro überleben?
Den Euro wird es geben, solange Frankreich und Deutschland dies wollen. Die Wahlen in Frankreich haben gezeigt, dass der Wille da ist. Von deutscher Seite wird an der Währungsunion nie gerüttelt werden, da gibt es einen breiten politischen Konsens. Ob das in der Bevölkerung ohne weiteres der Fall ist, ist eine andere Frage. Aber alle politischen Parteien, die im Bundestag vertreten sind, sind für Europa und den Euro – die Linke vielleicht nuancierter. Die AfD habe ich insoweit ausgespart, weil sie nicht im Bundestag vertreten ist.

Dann wird es den Euro auch in zehn oder fünfzehn Jahren noch geben?
Daran zweifle ich nicht. Für die Zusammensetzung des Euroraums lege ich aber meine Hand nicht ins Feuer. Der Euro ist gestartet, irreversibel zu sein. Ich glaube, das ist er auch. Das heisst aber nicht, dass die Mitgliedschaft von Ländern im Euro irreversibel ist.

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