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15:09 Uhr - 07.05.2018

Die Türkei muss das Ruder herumreissen

Die Regierung hat die Wirtschaft überhitzen lassen. Wachsende Auslandschulden und ein Währungsverfall sind die Folge. Die Wahlen bringen neue Unsicherheit.

Die Kreditwürdigkeit der Türkei sinkt. Die Ratingagentur Standard & Poor’s hat letzte Woche Dienstag die Note um eine Stufe auf BB– reduziert. Die Prämie für Kreditausfallversicherungen (CDS) auf Anleihen ist so hoch wie zuletzt vor sechs Monaten.

Die Währung verliert weiter an Wert. Allein diese Woche hat die Lira gegenüber dem Dollar mehr als 4% verloren. Seit Anfang September hat sie sich fast um ein Fünftel abgewertet. Als Folge stieg die Inflation auf über 10%. Auch sie drückt auf die Stimmung an den Finanzmärkten. Das kommt für Präsident Recep Tayyip Erdogan zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Er hat für den 24. Juni vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen angesetzt.

Die Währung ist Opfer der Wirtschaftspolitik der Regierung, erklärt Marcus Chenevix, Analyst beim Research-Haus TS Lombard: «Die Regierung zielt auf höheres Wachstum ab, dadurch nimmt die Lira Schaden.» Denn das Wachstum werde durch Kredite aus dem Ausland finanziert. «Die inländische Sparquote reicht nicht aus», sagt Chenevix.

Die Kreditabhängigkeit der Wirtschaft zwinge die Regierung, die Zinsen tief zu halten. Der Analyst betont: «Das ist kein Gleichgewicht, sondern eine Problematik, die sich weiter verschärft.»

Abhängig vom Ausland

Die Abhängigkeit von ausländischem Kapital zeigt sich im Defizit in der Leistungsbilanz. Es stieg vergangenes Jahr auf 47 Mrd. $ – das entspricht über 5% des Bruttoinlandprodukts.

Sergei Strigo, Co-Head of Emerging Markets Fixed Income beim Vermögensverwalter Amundi (AMUN 0 0%), hält das für bedrohlich: «In der Vergangenheit gingen Ökonomen davon aus, dass es für ein Schwellenland nicht nachhaltig möglich ist, ein Leistungsbilanzdefizit von mehr als 3% des Bruttoinlandprodukts zu finanzieren.»

In der Türkei sei dies über die vergangenen Jahre deshalb gelungen, weil Geld am internationalen Kapitalmarkt günstig zu haben gewesen sei. «Steigen die Kapitalkosten auf den historischen Durchschnitt, wird das deutlich schwieriger werden», sagt Strigo. Finanziert durch das Ausland läuft die Wirtschaft heiss, meint Chenevix. Vergangenes Jahr betrug die Wachstumsrate 7,3%. Dagegen werde die Regierung wohl einschreiten, um eine Schuldenkrise zu vermeiden. «Aber sie erhöht die Zinsen immer erst in letzter Minute – wenn die Lira schon abstürzt», sagt Chenevix.

Ende April hat die Zentralbank den Leitzins zwar um 75 Basispunkte auf 13,5% erhöht. Doch für viele Beobachter ist das noch zu tief, um die Teuerung unter Kontrolle zu bringen.

Paul Greer, Portfoliomanager beim Fondsanbieter Fidelity, glaubt nicht, dass die Türkei das hohe Wachstum aufrechterhalten kann. «Für dieses Jahr erwarten wir einen Zuwachs von 3,5 bis 4%.» Das Wachstum im vergangenen Jahr sei wegen einer Aufholbewegung nach dem Putschversuch 2016 so hoch ausgefallen. Dazu kam der Effekt höherer Staatsausgaben.

Präsident Erdogan brüstet sich gerne mit massiven Infrastrukturprojekten. Der neue Flughafen Istanbul soll der grösste der Welt werden. Die Baustelle ist jetzt schon grösser als die Fläche Manhattans.  Bis 2023 – dem hundertsten Jubiläum der Türkei – soll der 45 Kilometer lange Istanbul-Kanal zwischen Schwarzem Meer und dem Marmarameer fertiggestellt werden.

«Regierung hat verstanden»

Doch der Staat werde sich mehr zurückhalten, glaubt Greer: «Die Regierung hat verstanden, dass sie die wirtschaftlichen Ungleichgewichte – hohe Inflation und grosses Leistungsbilanzdefizit – angehen muss.» Ohne solche Massnahmen werde es schwierig, sich weiterhin mit ausländischem Kapital zu finanzieren.

Vor den Wahlen im Juni ist es nach Ansicht von Greer für die Regierung besonders wichtig, die Währung zu stabilisieren: «Die Zinsanhebung vergangene Woche war direkt mit dem Vorziehen der Wahlen verbunden.» Die Zentralbank habe zusätzlich angedeutet, dass sie die Geldpolitik Anfang Juni weiter straffen werde.

«Wir erwarten eine weitere Zinserhöhung um 50 oder 75 Basispunkte», sagt der Fondsmanager. Die türkischen staatlichen Stellen «haben eine starke Motivation, Erdogans Wiederwahl zu ermöglichen.» Erdogan habe wohl den Segen für die Zinserhöhung gegeben, um die Währung vor den Wahlen zu stabilisieren.

Für Marcus Chenevix ist die anstehende Wachstumsverlangsamung ein wichtiger Grund, warum nun Wahlen angesetzt wurden. «Die Regierung kann das politische Kapital nutzen, das durch das riesige Wachstum im vergangenen Jahr geschaffen wurde – und sich für die nächsten fünf Jahre bestätigen lassen», sagt er.

Die bisherige Wachstumsstrategie werfe immer weniger «politische Rendite» ab: «Redet man mit Leuten in Istanbul, fühlt man ihre wirtschaftliche Unzufriedenheit», berichtet Chenevix. Die hohe Inflation würde grosse Teile des Lohnwachstums wieder auffressen.

Grosse geldpolitische Sprünge erwartet Chenevix nicht – eher werde die Regierungen über Einsparungen im Staatshaushalt das Wachstum abklemmen. Der Analyst gibt zu bedenken: «Eine wichtige Wählergruppe der Regierungspartei AKP sind Kleinunternehmer, die auf günstige Kredite angewiesen sind.» Die türkische Bevölkerung begrüsse es, wenn der Staat gut haushaltet. «Sparmassnahmen sind populärer als eine straffere Geldpolitik.»

Statt höherer Zinsen könnten aufsichtsrechtliche Massnahmen die Firmen abhalten, sich im Ausland zu verschulden. Chenevix erklärt: «Unternehmen könnte man die Aufnahme von Fremdwährungskrediten verbieten, wenn sie keine Einnahmen aus dem Ausland aufweisen.»

Schon jetzt haben Manager von Bondfonds ein Problem, falls sie sich zu sehr vor dem Türkei-Risiko fürchten, sagt Schwellenländerspezialist Strigo: «Türkische Lokalwährungsanleihen rentieren über 13%. Die hohe Rendite macht es für Fondsmanager nicht leicht, diese Anleihen gegenüber dem Index unterzugewichten.»

Man müsse eine negative Carry – also eine tiefere Rendite – gegenüber dem Index hinnehmen, schliesse man die Bonds aus. In den Indizes von J. P. Morgan auf Anleihen in lokaler Währung wie auch in Dollar machen türkische Bonds über 4% aus.

Moderate Staatsschulden

Greer betont die positiven Aspekte der türkischen Wirtschaft: «Die Staatsschulden im Verhältnis zum BIP sind mit 40% für einen Schuldner mit einem Rating von BB– moderat. Das Haushaltdefizit beträgt nur 2%.» Ausserdem sei das Bankensystem, das nach den Erfahrungen mit einer Finanzkrise in den Neunzigern mit viel Eigenkapital ausgestattet.

Schwenkt die Regierung in ihrer Wirtschaftspolitik auf Stabilität um, könnten Investoren davon profitieren. Chenevix glaubt: «Die Anleger könnten von einer stabileren Lira und niedrigerer Inflation profitieren. Es ist wahrscheinlich, dass die Regierung dies angehen wird – aber es fehlen noch die konkreten Belege dafür.» Paul Greer glaubt, dass nach Reformen «Anlagen in der Türkei auf kurze Sicht besser performen sollten als die anderer Schwellenmärkte.»

Die Wahlen könnten neue Unsicherheit bringen. Chenevix erwartet, dass Erdogan erst im zweiten Wahlgang gewählt wird. «Ein unterschätztes Risiko ist, dass die AKP die Parlamentsmehrheit verliert», warnt der Türkeispezialist. Die Regierung wäre dann gespalten – «in einer der polarisiertesten Demokratien der Welt.»

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