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14:06 Uhr - 21.09.2017

«Die Altersvorsorge beginnt mit 30»

Kapital oder Rente? Finanzprofessor Erwin W. Heri und Pensionsversicherungsexperte Jürg Walter diskutieren Pro und Kontra sowie andere wichtige Fragen rund um die Pensionierung.

Herr Heri, Herr Walter, weshalb ist die Entscheidung so wichtig, ob das Pensionskassenguthaben als Rente oder als Kapital bezogen werden soll?
Heri:
Vielen Leuten ist gar nicht bewusst, dass der grösste Teil ihres Vermögens in der Pensionskasse steckt. Deshalb ist die Frage so wichtig. Es ist wahrscheinlich die weitreichendste finanzielle Entscheidung im ganzen Leben – danach gibt’s kein Zurück.
Walter: Der Entscheid ist nicht nur wichtig, weil er für die nächsten 25 Jahre oder noch länger gilt, sondern weil er auch Familienangehörige betrifft. Bei der Hinterlassenschaft sind je nachdem die Resultate stark unterschiedlich. Beim Kapitalbezug fällt im Todesfall alles an die Erben. Beim Rentenbezug wird nach dem Tod des Pensionärs lebenslang eine Hinterlassenenrente an den Ehegatten weitergezahlt. Allenfalls geht Vorsorgevermögen, das so nicht aufgezehrt wird, als technischer Gewinn an die Kasse. Müssen die Renten länger als angenommen bezahlt werden, entsteht für die Kasse ein Verlust.

Wann ist altersmässig der letzte Zeitpunkt für den Entscheid «Rente oder Kapital»?
Heri: Der früheste Zeitpunkt ist mindestens so wichtig wie der späteste, wenn nicht wichtiger. Die Altersvorsorge beginnt mit 30. In diesem Alter muss man sich Gedanken über die finanziellen Ziele, Wünsche und Verpflichtungen machen. Vorsorgen ist ein langer, kontinuierlicher Prozess. Der letztmögliche Entscheid ist irgendwann zwischen 60 und 65, wenn man sich bei der PK für die eine oder die andere Lösung anmeldet.

Herr Walter, machten Sie sich mit dreissig Jahren Gedanken über die Vorsorge?

Walter: Da war ich bereits beruflich mit Vorsorgefragen beschäftigt. Aber ehrlich, persönlich dachte ich nicht daran, ausser, dass meine Frau und ich ein Säule-3a-Konto eröffneten, was sich allein schon wegen des Steuerabzugs auszahlte. Nach meiner Erfahrung machen sich junge Leute in der Regel keine Gedanken über die eigene Altersvorsorge.

Warum so früh, Herr Heri? Hat die Altersgruppe dreissig plus, eine Zeit, in der die meisten eine Familie gründen und hohe Ausgaben anfallen, denn Geld zum Sparen?
Heri:
Die Dreissigjährigen müssen sich überlegen, was die demografische Situation für sie bedeutet, wenn sie mal sechzig und älter sind. Ich sage nicht, dass die Vorsorgewerke verschwinden werden. Aber die Alterung der Bevölkerung belastet sie enorm. Die junge Generation muss sich deshalb verstärkt aufs individuelle Sparen konzentrieren. Viele haben, wie Herr Walter damals, schon ein Säule-3a-Produkt. Wer monatlich nur 100 Fr. spart, kann bei richtiger Anlage über die Zeit ein beträchtliches Vermögen anhäufen.

Auch bei Nullzinsen? Sparen bringe nichts, sagen viele.

Heri: Eigentlich sollten junge Leute alles, was sie langfristig sparen, in Aktien investieren, breit gestreut. Aktien liefern einen Ertrag wie sonst keine andere Anlageklasse, und der Zinseszinseffekt über zwanzig, dreissig Jahre ist gross. Studien belegen es: Ab zehn Jahren ist das Risiko kaum höher als bei Obligationen, die Chancen aber sind ungleich grösser. Es wäre schön, wenn die politischen Gremien eines Tages einsehen würden, dass Aktiensparen, sprich die langfristige Investition ins Produktivkapital der Volkswirtschaft, der richtige Weg ist und dass es ähnlich gefördert werden sollte, wie es teilweise bei der Kadervorsorge schon der Fall ist.

Grundsatzfrage: Wird es die Vorsorgewerke in vierzig, in fünfzig Jahren noch geben?
Walter: Davon gehe ich fest aus. In der Pensionskasse sparen alle ihr eigenes Geld, das bleibt unangetastet. Schwieriger wird es bei der AHV, die nach dem Umlageverfahren funktioniert und bei der immer mehr Rentner an der wenig wachsenden Zahl von Beitragszahlenden hängen. Man wird Wege finden, ja finden müssen, wie die AHV langfristig finanziert werden kann. Das steht übrigens auch im AHV-Gesetz.

Zurück zum Kernthema: Kapital oder Rente?
Heri:
Ich befürworte allgemein die Eigeninitiative, fordere aber nicht grundsätzlich den Kapitalbezug. Die Geldanlage muss zielorientiert sein. Das kann auch eine Rente erreichen. Die Frage lässt sich nur vor dem Hintergrund des individuellen Spar- und Lebensplans beantworten, wozu die Einkommens- und Vermögensbilanz sowie die finanziellen Verpflichtungen gehören.
Walter: Der Vorteil der Rente ist ein garantiertes Einkommen, lebenslang. Man muss sich nicht um die Geldanlage kümmern, trägt kein Risiko und kann sich anderen Dingen widmen. Und es kann sein, dass der Ehegatte, die Ehegattin oder beide länger leben als die versicherungstechnische Lebenserwartung. Dann ist die Rente eindeutig im Vorteil.
Heri: Auch die Rente, ein nominaler Betrag und fix über Jahrzehnte, birgt Risiken. Ein Teuerungsausgleich ist bei den allermeisten Kassen auf lange Sicht ausgeschlossen. Der Kapitalbezug bietet eher die Chance, über die Geldanlage das Vermögen real zu erhalten.
Walter: Die Pensionskassen sind verpflichtet, jährlich zu prüfen, ob die finanziellen Mittel ausreichen, um einen Teuerungsausgleich über Rentenerhöhungen zu gewähren. So gelangen gute Anlageergebnisse auch an die Rentenbezüger.

Was ist das realistische Renditeziel für jemanden, der das Kapital bezieht, was liegt an Rente drin?
Heri
: Weil angespartes Vermögen in vielen Fällen ja nicht restlos verzehrt, sondern zumindest teilweise vererbt wird, kann man eine gewisse Summe auch nach der Pensionierung langfristig anlegen, was ein gewisses Risiko zugunsten einer höheren Rendite verträgt. Gleichwohl ist es für die meisten Personen sehr schwierig, den Ertrag, den eine Pensionskasse erzielt, mit der individuellen Geldanlage zu übertreffen, selbst wenn die Kassen in den letzten zehn Jahren mit 2,5 bis 3% p. a. nicht auffallend viel erwirtschaftet haben. Hätten sie alles indexiert in Aktien gesteckt, wären es jährlich 5,5% gewesen. Das ist keine Kritik, sondern liegt an den Anreizstrukturen. Nach dem Kapitalbezug sollte, wer Kursschwankungen durchstehen kann, unbedingt einen Teil in Aktien investieren – je nachdem einen höheren Anteil als die 30%-Quote der Pensionskassen. Das hängt von der individuellen Vermögens- und Verpflichtungsstruktur ab.
Walter: Das Argument, die Rente sei ohne Rendite, ist falsch. In der Rente ist ein jährlicher Zins eingerechnet. Ohne diesen Vermögensertrag wäre der Umwandlungssatz erheblich tiefer. Im aktuellen Satz von durchschnittlich 5,6% ist ein Zinsversprechen von netto rund 3% berücksichtigt.
Heri: Ich bin wie gesagt nicht gegen die Rente. Ich meine nur, der Kapitalbezug ist effizienter, und eine «sichere Rente» lässt sich bei disziplinierter Anlagestrategie auch aus dem Vermögen finanzieren.

Nur wenige Menschen sind so reich, dass sie allein vom Anlageertrag leben können. Wie schwer fällt es, aus dem Kapital, das man sein ganzes Leben lang angespart hat, regelmässig Geld abzuziehen und zu verbrauchen?
Heri: Man muss dazu tatsächlich eine emotionale Barriere überwinden, und nach meiner Erfahrung können das die wenigsten. Es mangelt in der Finanzindustrie aber auch an adäquaten Instrumenten. Die Entsparmodelle, die es besonders in der Versicherungsbranche gibt, sind alle sehr teuer.

Kann man selbst einen Rentenfluss konstruieren?
Heri: Zuerst rechnen: Reicht das Kapital, um über einen klar definierten Entsparprozess seine Lebenshaltung inklusive AHV über die nächsten zwanzig oder dreissig Jahre zu finanzieren? Wenn ja, kann man sich Gedanken über eine zielorientierte Anlagestrategie machen.
Walter: In diese Richtung muss es gehen. Aber das Kapital einfach in 25 Jahrestranchen aufteilen, ist nicht die Lösung. Es gilt, eine Wertschwankungs- oder Solvenzreserve einzubauen, um die Volatilität am Finanzmarkt ausgleichen zu können. Dazu braucht es einen erheblichen Zuschlag zum Vermögen, das man verzehren will. Und alles aufbrauchen wollen die wenigsten, dazu ist die emotionale Hürde zu hoch.

Würden Sie einen Teilbezug von Kapital empfehlen?
Walter/Heri: Das kann die vernünftige Lösung sein. Zuallererst ist abzuklären, wie hoch das minimal gesicherte Einkommen einschliesslich AHV nach der Pensionierung sein sollte. Bleibt dann noch Kapital übrig, kann man es beziehen und investieren, in voller Kenntnis von Chancen und Risiken, die den Anlagemärkten und -instrumenten innewohnen.

Wie findet der Einzelne aus der Fülle von Beratungs- und Anlageangeboten das richtige?
Walter: Zuerst würde ich mich bei der Pensionskasse erkundigen, was aus ihrer Erfahrung und Optik empfehlenswert ist. Das ist gratis. Erst danach gilt es zu entscheiden, welche Art von Beratung notwendig ist und wer das ideale Angebot hat. Banken empfehlen nach meiner Beobachtung eher den Kapitalbezug, weil sich daraus langfristig Geschäftsmöglichkeiten entwickeln lassen, was für den Kunden jedoch kein Nachteil sein muss.

Sind steuerliche Konsequenzen zu beachten?
Heri: Der Kapitalbezug ist einmalig getrennt vom Einkommen zu einem reduzierten Satz zu versteuern, während die Rente jedes Jahr der üblichen Einkommenssteuer unterliegt. Über die Zeit betrachtet ist die Steuerbelastung für die meisten Personen wahrscheinlich nicht wirklich unterschiedlich.
Walter: Weil der Kapitalbezug separat vom übrigen Einkommen besteuert wird, entsteht für denjenigen, der sich für diese Variante entscheidet, keine ungünstige Steuerprogression. Die Dividenden und der Zinsertrag unterliegen jedoch der üblichen Einkommenssteuer und fallen jährlich an.

Pensionskassen investieren stark in Obligationen und Immobilien. Bei beiden besteht die Gefahr von Preisblasen. Muss der Anlagemix korrigiert werden? Sind Aktien weniger riskant, und gehört deshalb ein grösserer Aktienanteil als die üblichen 30% ins PK-Portfolio?
Walter: Die Mischung von Aktien, Obligationen und Immobilien deckt sich mit der Risikofähigkeit einer Pensionskasse. Das Ziel ist ein abgestimmtes Verhältnis zwischen Vermögen und Verpflichtungen. Die Kassen dürfen bis 50% Aktien halten, mit Begründung im Anhang zur Jahresrechnung noch mehr. Nur wegen der Zinslage stärker auf Dividendenwerte zu setzen, wäre jedoch falsch. Die Balance von Vermögen und Verpflichtungen muss gewahrt bleiben, und bei Aktien sind die Schwankungsrisiken höher.
Heri: Das ist richtig. Aber ich glaube, wir haben es mit einem strukturellen Problem zu tun: Die Pensionskassen unterliegen einem inadäquaten kurzfristigen Risikodenken. Managements und Stiftungsräte starren zu sehr auf die kurzfristige Volatilität und die einjährige Schwankungsbreite. Das liegt daran, dass viele Risikokennzahlen auf der jährlichen Volatilität beruhen, die für Langfristanleger wie Pensionskassen im Grunde nicht wirklich relevant ist.

Macht das Regulativ die Pensionskassen zu zaghaft?
Heri: Ja, klar. Das ist verständlich, weil man selbst ja stets nur an der kurzfristigen Performance beurteilt wird.
Walter: Es stimmt so nicht, dass die Pensionskassengremien auf einen Einjahreshorizont fixiert sind. Der Anlagehorizont ist vielmehr gekoppelt an die Fristigkeit der Rentenverpflichtungen und die daraus feststehenden Geldabflüsse.
Heri: Das ändert nichts an der Tatsache, dass kurzfristige Schwankungsrisiken die Anlagestrategie dominieren und damit den Stiftungsräten die Lust auf eine pointiert aktienorientierte Geldanlage genommen wird; vielleicht neben der Tatsache, dass sie als Privatpersonen theoretisch mit dem eigenen Vermögen für gemeinsame Führungsentscheide haften müssen. Das meine ich damit, dass die Anreize falsch sind.

Hängt es wirklich an der Governance-Struktur, Herr Walter, dass Pensionskassen die Investmentchancen nur begrenzt nutzen?
Walter: Weitsichtige Führung wird immer anspruchsvoller, weniger wegen der Haftungsfrage, sondern wegen zusätzlicher und oft einschränkender Vorgaben der Aufsichtsbehörden und der Gesetze. Flexibilität wäre besser, aber, da stimme ich zu, es geht leider in die andere Richtung.

Trotzdem werden reihum Alternativanlagen wie Privatmarktinvestments und Infrastruktur empfohlen, obschon solche Anlageklassen äusserst komplex, wenig transparent und zudem illiquid sind.
Walter: Solche modisch gewordenen Investments gewinnen an Bedeutung. In der Summe machen sie jedoch erst wenige Prozentpunkte der Portfolios aus, und meistens befassen sich nur grosse Kassen mit Erfahrung und Kenntnis damit.
Heri: Die Governance-Strukturen sind grundsätzlich in Schieflage. Es ist nicht nur die implizite Einjahresoptik, die es erschwert, das Potenzial an den Finanzmärkten auszuschöpfen. Es geht auch um die Grösse. Längst nicht alle Pensionskassen haben ein Volumen, das günstige Grundkosten erlaubt. Nur grosse Kassen können sich ein professionelles Investmentkomitee leisten und haben die nötige Macht, damit sie zu kostengünstigen Leistungen kommen und auch die Versicherten davon profitieren.

Welche Auswirkungen auf die Frage «Rente oder Kapital» hat die Altersreform 2020? Wie werden Sie abstimmen?
Walter: Nach Abwägung aller Faktoren bin ich für ein Ja. Ohne Kompromisse ist eine Lösung beim komplexen Vorsorgethema illusorisch. Weil bei einem Ja insbesondere der gesetzliche Rentenumwandlungssatz sinkt und viele Pensionskassen den kassenspezifischen Satz noch weiter senken, werden sich zukünftig wohl noch mehr Personen für den Kapitalbezug entscheiden. Allerdings sind hier mit der Reform der Ergänzungsleistungen Einschränkungen in Diskussion.
Heri: Die Vorlage ist überladen, typisch «Kompromissokratie». Das Stimmvolk ist überfordert. Ich stimme Nein, es muss eine bessere Reform her.

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