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12:10 Uhr - 02.12.2016

«EZB sollte die Anleihenkäufe verdoppeln»

Athanasios Orphanides, Ökonomieprofessor am MIT, zu den Fehlern der Geld- und Fiskalpolitik, die den Euroraum wirtschaftlich auseinandertreibt, statt zu einen.

Die Europäische Zentralbank (EZB) steckt in einem Dilemma. Interne Arbeitsausschüsse bereiten den Weg vor, um das Anleihenkaufprogramm (Quantitative Easing, QE) auszuweiten. Aber an den Finanzmärkten wird bereits über eine Exitstrategie der EZB spekuliert. Nächste Woche gibt sie ihre Strategie bekannt. Für Ökonomieprofessor Athanasios Orphanides, der selbst dem Zentralbankrat angehörte, besteht kein Zweifel, welches der beste Weg ist.

Zur PersonAthanasios Orphanides zählt zu den renommiertesten Experten der Geldpolitik – besonders der europäischen. Der 54-jährige Ökonomieprofessor forscht nicht nur seit Jahrzehnten zum Thema, sondern kennt die Europäische Zentralbank auch bestens von innen. In den Jahren 2007 bis 2012 leitete er die Notenbank Zyperns und war damit stimmberechtigtes Mitglied im Governing Council, im geldpolitischen Entscheidungsgremium der EZB. Orphanides verbrachte allerdings die Hälfte seines Lebens in den USA. Er studierte Mathematik und Ökonomie am Massachusetts Institute of Technology MIT. Die berufliche Karriere begann er als Berater im Federal Reserve, in der US-Zentralbank, in Washington. Heute lehrt er am MIT als ordentlicher Professor. Herr Orphanides, was soll die EZB tun?
Sie sollte die Geldpolitik im Euroraum nächstes Jahr viel expansiver gestalten, statt den Lockerungsgrad zurückzufahren. Die EZB kam ihren wichtigsten Verantwortlichkeiten in der Krise nicht nach. Sie verpasste es durchgehend, ihr Mandat zu erfüllen und für Preisstabilität zu sorgen. Die EZB definiert sie als mittelfristige Inflationsrate von nahe, aber unter 2%.

Ist daran nicht der Ölpreis schuld?
Er erklärt nur einen Teil der Abweichung. Die Kerninflation – also ohne Energiepreise – liegt seit Jahren systematisch nahe oder unter 1%. Die Geldpolitik war viel zu straff.

Gleichzeitig steht die EZB in der Kritik, viel zu viel zu lockern.
Das sind Versuche einiger Ökonomen und, schlimmer, von Politikern in einzelnen Mitgliedländern, den Zentralbankrat dazu zu bringen, eine weniger expansive Geldpolitik zu betreiben. Das wäre verheerend für die Eurozone. Es gibt nur einen Weg, um die begangenen Fehler zu beheben: eine expansivere Geldpolitik.

Was empfehlen Sie: noch tiefere Zinsen oder mehr Anleihenkäufe, also QE?
QE steht hier an erster Stelle. Sobald die Zinsen zu nahe gegen null sinken, sollte die Geldpolitik langfristige Staatsanleihen ankaufen und so die Notenbankbilanz ausweiten. Diese Strategie ist nicht neu: Keynes empfahl sie bereits 1930 als Reaktion auf den Einsturz der Börsenkurse in den USA und Grossbritannien 1929. Unglücklicherweise wurde Keynes’ Rat damals ignoriert, und die Welt stürzte in die Grosse Depression. Das US Federal Reserve weitete später zwar seine Bilanz aus, aber als es damit in den Dreissigerjahren begann, hatte die Wirtschaft bereits Schaden genommen. Im Falle der EZB geschah nun das Gleiche: 2013 und 2014 war sie zu restriktiv. Sie begann erst 2015 mit QE.

Dieses Jahr hat sie das monatliche Kaufvolumen sogar auf 80 Mrd. € erhöht.
Das reicht nicht. Die EZB hätte ab 2015 doppelt so viele Wertschriften aufkaufen sollen. Sie selbst kommt in Analysen zu dem Ergebnis, dass ein Ausbau der Bilanz um 1 Bio. € die Inflation um etwa 0,4 Prozentpunkte nach oben treibt. Hätte sie also den ursprünglichen QE-Betrag doppelt so hoch angesetzt, wäre das Kaufvolumen 1 Bio. € höher ausgefallen und läge die Inflation heute näher am Zielwert. Vermutlich wegen des immensen Drucks einiger Kreise im Zentralbankrat verfolgte sie diesen Weg nicht, sondern führte stattdessen Negativzinsen ein.

Wie hilfreich sind Zinsen unter null?
Negativzinsen lockern die monetären Bedingungen nur zu einem gewissen Grad. Die Zinsen können nicht weit unter 0% fallen. Die EZB operiert bereits in einem Bereich, in dem weitere Senkungen kontraproduktiv wären.

Warum?
Minuszinsen verringern die Ertragskraft von Banken. Zentralbanken sollten zwar nicht per se auf die Profitabilität des Bankensektors blicken, aber sie sollten darum besorgt sein, dass eine zu geringe Ertragskraft nicht die Kapitalkraft der Banken schwächt und sie ihr Kreditgeschäft zurückfahren. In einem solchen Fall verbessern negative Zinsen nicht die Wirtschaftslage, sondern belasten sie.

Weshalb sind einzelne Gegenstimmen wie die Deutschlands im EZB-Rat so wichtig?
Die EZB scheint Geldpolitik konsensorientiert zu betreiben, vermutlich weil sie zu sehr von den Interessen einzelner Mitgliedstaaten beeinflusst wird, die als bedeutender eingestuft werden als andere. Das widerspricht sowohl dem Geist als auch dem gesetzlichen Auftrag der EZB. Ich hätte erwartet, dass die Mehrheit im Zentralbankrat eine Politik garantiert, die im besten Interesse der Währungsunion als Ganzen steht. Leider ist es anders gekommen.

Sie sprechen sich dafür aus, dass noch mehr Anleihen aufgekauft werden sollen. In der Praxis kommt es aber bereits heute zu Angebotsengpässen im Markt.
Diese Debatte über zu wenige Anleihen ist grotesk. Denn die gleichen Stimmen beklagen sich, dass die Eurozone ein Schuldenproblem hat. Beides geht nicht gleichzeitig: zu viele Staatsschulden und nicht genügend Schuldtitel der Staaten. Die EZB hat ihr QE-Programm an einige Auflagen geknüpft, die kann und sollte sie nun lockern. Falls dann in einzelnen Märkten, beispielsweise in den baltischen Staaten, immer noch zu wenige Anleihen vorhanden sind, kann sie in den übrigen Märkten zusätzliche Titel kaufen und sich hierbei  am Kapitalschlüssel der EZB orientieren.

War es richtig, auch Unternehmensanleihen zum Kauf zuzulassen?
Ja, und die EZB sollte prüfen, ob sie nicht mehr tun kann: etwa Bankanleihen erwerben. Es gibt keinen Grund, sie aus dem QE-Programm auszuschliessen.

Die EZB übt die Bankenaufsicht in Europa aus. Kauft sie Bankanleihen, riskiert sie einen Interessenkonflikt.
Ich vertraue der EZB als technokratischer Einrichtung, die unabhängig ist und von den EU-Verträgen geschützt wird, dass sie interne Interessenkonflikte vermeidet. Die entscheidende Botschaft lautet: Es gibt keine Grenze für die Wirksamkeit der Geldpolitik, die Inflation zum EZB-Zielniveau zurückzuführen. Wenn die Ankäufe von Schuldpapieren nicht ausreichen, um die Inflationserwartungen anzutreiben, stehen ihr immer noch andere Optionen offen. Japans Zentralbank erwirbt seit einiger Zeit ETF auf Aktien. Die EZB könnte Aktienindexfonds ankaufen.

Soll die Geldpolitik durch eine expansivere Politik der Regierungen begleitet werden?
Der geld- und fiskalpolitische Mix in der Eurozone widerspricht grundlegenden makroökonomischen Prinzipien. Wäre die Haushaltspolitik nach der weltweiten Finanzkrise expansiver gewesen, ginge es der Wirtschaft sicherlich besser. Die Inflation läge heute etwas höher. Aber der Spielraum der Fiskalpolitik wurde durch Entscheidungen eingeschränkt, die die Regierungen zuvor getroffen hatten.

Woran denken Sie?
Während des EU-Gipfels in Deauville 2010 wurde einer der schlimmsten Beschlüsse gefasst. Deutschland und Frankreich kamen überein, das Kreditrisiko in die Staatsverschuldung aller Regierungen einzubringen. Sie verkündeten: Wenn ein Mitglied der Eurozone vorübergehend in Liquiditätsschwierigkeiten gerät, wird auf die staatlichen Schulden, die von privaten Gläubigern gehalten werden, ein Haircut – ein Preisabschlag – angewendet. In Griechenland wurde das später mit der Umschuldung praktiziert. Private Besitzer von Staatsanleihen anderer Staaten fuhren hohe Verluste ein. Seither wird der grösste Teil der Schulden im Euroraum nicht mehr als sicher eingestuft. Private Anleger verlangen eine substanzielle Entschädigung für das Kreditrisiko dieser Titel.

Wo liegt das Problem, wenn von den Beteiligten Mitverantwortung verlangt wird?
Sobald in einem Eurostaat politische Unsicherheit auftritt, sorgen selbst geringste Zweifel an der Tragfähigkeit der Schulden dafür, dass diese Länder mit einer Strafe auf die Finanzierungskosten rechnen müssen, die destabilisierend wirkt. Diese Strafe hätte es so nicht gegeben, wenn das Land nicht in der Währungsunion wäre. So zahlt Italien mit einer Schuldenquote von 130% gemessen am Bruttoinlandprodukt einen beachtlichen Risikoaufschlag. Japan, dessen Quote 250% beträgt, ist nicht mit einem vergleichbaren Aufschlag konfrontiert. Woran Italien im Gegensatz zu Japan leidet: Das Land ist Mitglied der Währungsunion. Italien ist eine Geisel in der Eurozone und hängt davon ab, was andere Regierungen entscheiden könnten.

Aber die EZB reagierte auf Deauville und lockerte zum Ausgleich die Geldpolitik.
Sie entschied sich zwar korrekterweise für QE, aber dabei wich sie von der Norm ab, wie Geldpolitik in der Eurozone betrieben werden sollte: Sie hob das Prinzip der Verlustbeteiligung auf, als sie begann, Anleihen zu kaufen. Statt Titel aller Länder zu erwerben, verpflichtete die EZB Spaniens Notenbank, nur spanische Staatspapiere zu kaufen, die niederländische Nationalbank, niederländische Papiere in die Bücher zu nehmen, etc. Das war ein problematischer Entscheid.

Warum? Sie begrenzt auf diese Weise das Kreditrisiko anderer Euromitglieder.
Aus Sicht der Investoren signalisiert der Beschluss, dass die EZB sich auf ein Auseinanderbrechen der Währungsunion vorbereitet. Ich glaube zwar nicht, dass das ihre Absicht war. Aber letztlich treibt sie die Finanzierungskosten für die Länder nach oben, die als schwächer angesehen werden. Und sie senkt die Kosten für vermeintlich stärkere Mitglieder.

Die Wirkung der Geld- und Fiskalpolitik in der Eurozone ist also kontraproduktiv?
Leider ja. Die Politik schafft ein permanentes Ungleichgewicht zwischen den Eurostaaten: Diejenigen, die als schwächer gelten, werden finanziell belastet und solche, die als solider angesehen werden, subventioniert. Spanien beispielsweise wächst mittlerweile wirtschaftlich in gutem Tempo, und trotzdem muss es einen Strafaufschlag zahlen, der teilweise die Folge davon ist, wie die EZB ihre Geldpolitik durchführt. Wäre die Eurozone nach 2008 gewachsen wie die USA, läge die Wirtschaftsleistung heute 10% höher. Viel mehr Ressourcen hätten eingesetzt werden können, um unsere Gesellschaften zu verbessern. Das ist eine der Folgen der falschen Politik in der Eurozone.

Wo wird Europa in fünf Jahren stehen?
Der Ausblick ist leider ziemlich trostlos. Ich mache mir über die Zukunft Europas grosse Sorgen. Denn ich bin skeptisch, dass die Regierungen künftig bessere Entscheidungen treffen werden. Aber wenn das Missmanagement weitergeht, wird der Euro keinen Bestand haben. Das europäische Projekt droht zu scheitern.

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