Thomas Shrager, Partner des Value-Managers Tweedy, Browne, findet trotz anspruchsvoller Bewertung noch attraktive Aktien. Dazu zählen viele Schweizer Werte.
Der herrschende Anlagenotstand erschwert die Arbeit von Value-Managern. Das trifft auch für die New Yorker Investment-Boutique Tweedy, Browne zu. Trotz teurer Märkte finden sich aber noch attraktive Aktien, wie deren Partner Thomas Shrager im Gespräch mit «Finanz und Wirtschaft» erörtert.
Zur PersonThomas H. Shrager (59) arbeitet seit 1989 für die New Yorker Value-Boutique Tweedy, Browne. Heute ist er einer von vier Geschäftsführern. Bevor er zu Tweedy stiess, war er bei Bear Stearns im Bereich Fusionen und Übernahmen sowie als Berater bei Arthur D. Little tätig. Er hat an der Columbia University in New York mit einem Bachelor in Geschichte und einem Master in internationalen Beziehungen abgeschlossen. Tweedy, Browne entstand 1959 aus dem auf den Handel von Nebenwerten spezialisierten Brokerhaus Tweedy, Browne & Reilly, das seine Büros auf demselben Korridor hatte wie Value-Übervater Benjamin Graham. Heute verwaltet das Unternehmen rund 17 Mrd. $.Herr Shrager, wie schätzen Sie die Märkte ein?
Die sinkenden Zinsen haben die Börsenbewertung nach oben gedrückt, weil Alternativen rar sind und Anleger in Aktien gedrängt wurden. Die heutigen Bewertungen spiegeln die langfristigen Wachstumsaussichten nicht korrekt.
Sind die Börsen also überbewertet?
Es kommt darauf an, wohin sich die Zinsen bewegen. Falls die Zinsen wegen des deflationären Umfelds bis in alle Ewigkeit niedrig bleiben, sind die Bewertungen der Aktienmärkte fair. Wenn die Zinsen aber temporär niedrig sind, weil die Notenbanken Finanzrepression betreiben, die Anleihenkäufe aber irgendwann enden und die Zinsen auf normales Niveau steigen, dann ist ein gewisser Übermut im Markt.
Übermut oder fair – was denken Sie?
Japan hat über viele Jahre Deflation und niedrige Zinsen erlebt. Grund waren die zögerlichen Aufräumarbeiten nach der Finanzkrise von 1989. Die Banken wurden nicht saniert, Reformen waren höchstens zaghaft, und die Bevölkerung wuchs kaum oder schrumpfte gar. In den USA wächst die Bevölkerung, die Bankenkrise wurde schnell angepackt und die Politik der Regierung war neutral. Die Wahrscheinlichkeit, dass die USA in eine lang anhaltende Deflation fallen, ist deshalb klein. Europa befindet sich irgendwo dazwischen – je nachdem, ob Reformen umgesetzt werden, wie sich Deutschland hält und ob in Italien der Kurswechsel gelingt.
Das heisst, in den USA herrscht Übermut.
So weit würde ich nicht gehen. Die Bewertungen sind weltweit hoch, nicht nur in den USA.
Wo finden Sie denn noch attraktive Aktien?
Es gibt nicht den Sektor oder das Land, die günstig sind. In den USA haben wir Avnet gekauft, einen der weltgrössten Chipdistributoren. Das Unternehmen spielt eine zentrale Rolle im Verkauf von Chips. Auf Grosskunden wie Lenovo oder IBM (IBM 154.06 -0.17%) gehen die Chipproduzenten direkt zu. Will ein Produzent wie Texas Instruments aber an kleinere Kunden verkaufen, benützt er einen Distributor. Dieser setzt nicht einfach nur Verkäufer ein, sondern arbeitet mit Ingenieuren, die in das Design der Produkte eingebunden werden. Das gibt Avnet und dem Hauptkonkurrent Arrow Electronics einen kleinen Burggraben, der neue Konkurrenten abhält.
Besteht auch Wachstumspotenzial?
Das Internet der Dinge wird die Nachfrage nach solchen Diensten beleben, weil die Menge an Chips in Haushaltgeräten eher gering ist, deren Hersteller also kleinere Kunden sind. Und vielleicht ist das Internet der Dinge ein Wachstumsmarkt.
Pharmawerte wie Novartis (NOVN 69.3 0%) stehen unter Druck. Was läuft schief?
Die Schlagzeilen fokussieren einzig auf den rückläufigen Gewinn, der wegen des Verlusts des Patents am Krebsmedikament Gleevec erwartet wurde. Die guten Nachrichten werden übersehen. Tasigna wird den wegfallenden Umsatz von Gleevec teilweise kompensieren. Das Krebsgeschäft ist im letzten Quartal 30% gewachsen, und ein neues Medikament gegen progressive Multiple Sklerose könnte eine positive Überraschung werden. Das Generikageschäft von Sandoz läuft gut. Einzig Alcon bereitet noch Probleme, doch Novartis arbeitet am Turnaround.
Soll Novartis an Alcon festhalten?
Ja – sofern das Management den Turnaround schafft.
Was ist der innere Wert von Novartis?
Mit einem Verhältnis von Unternehmenswert zum Gewinn vor Zinsen und Steuern von 12 bis 13 handelt Novartis zu 80 bis 90% des inneren Werts. Wir stocken weder auf, noch verkaufen wir. Uns gefällt Novartis, denn es ist ein Unternehmen, das wächst, eine hohe Kapitalrendite erwirtschaftet und fast 4% Dividendenrendite abwirft. Langfristig dürfte die Aktie eine Gesamtrendite im hohen einstelligen Prozentbereich erzielen – ähnlich wie Roche (ROG 224.5 -0.04%).
Sind Swatch Group (UHR 297.4 -0.47%) und Richemont (CFR 67.15 -1.1%) nach den heftigen Kurseinbrüchen interessant?
Beides sind gut geführte Unternehmen. Es wird aber dauern, bis sich das Umsatzwachstum erholt – die Uhrenexporte sinken immer noch. Der gegenwärtige Abschwung findet im Aktienkurs nicht genügend Beachtung, denn das Kurs-Gewinn-Verhältnis ist immer noch zweistellig.
Allerdings bei gedrückten Verkauf von Uhren, was das KGV zwangsläufig erhöht.
Man kann die Verkaufszahlen von 2012 und 2013 nicht zum Massstab nehmen, weil im Uhrenmarkt damals Euphorie herrschte. Wir warten auf eine Normalisierung des Uhrenabsatzes – China und Hongkong brechen weiter ein.
Ist das nicht der Zeitpunkt zu kaufen?
Wir haben kein Problem, Aktien zu kaufen, wenn die Unsicherheit gross ist – solange wir ein Schnäppchen erhalten. Doch das ist weder bei Swatch noch bei Richemont der Fall.
Was mögen Sie an Zurich Insurance (ZURN 255.3 -0.04%)?
CEO Mario Greco versteht als Versicherungsfachmann das Geschäft und verfolgt vernünftige Ziele, die er auch offenlegt. Zusätzlich zum Versicherungsbereich hat Zurich einen Geschäftsführungsvertrag für den US-Versicherer Farmers, mit dem Zurich bei begrenztem Risiko einen Gewinn von rund 1,5 Mrd. $ erzielt.
Soll Zurich, akquirieren statt Dividenden auszuschütten?
Falls Herr Greco einen Plan hat, wie er mit Investitionen ins Geschäft Wachstum und Kapitalrenditen steigern kann, haben wir nichts gegen Akquisitionen. Nur sind Versicherungen mit wenigen Ausnahmen wie Asien oder einzelnen Versicherungslinien kein Wachstumsgeschäft. Eine hohe Dividendenausschüttung ist deshalb sinnvoll und dank Farmers auch nachhaltig. Die anderen Geschäftseinheiten müssen «nur» rund 1 Mrd. beitragen, damit die Dividendenausschüttung von etwas über 2,5 Mrd. $ finanziert werden kann.
Versicherungen sind also eine Art Versorger mit wenig Wachstum und hohen Ausschüttungen.
Sie sind wie eine Anleihe mit langsam wachsendem Coupon. Eine Rendite von 6,8% mit ein wenig Wachstum, wie sie Zurich bietet, ist im jetzigen Umfeld gut.
Im Dividendenfonds halten Sie auch ABB (ABBN 20.24 -0.59%).
Die Sparte Stromnetze sorgt für Gesprächsstoff. Sie sollte Teil von ABB bleiben, weil das Unternehmen so eine integrierte Lösung anbieten kann. Das Management ist am schwachen Geschäftsgang nicht allein schuld. Potenzielle Kunden wie die Versorgungsunternehmen Eon (EOAN 6.406 -1.07%) und RWE (RWE 13.6 -3.41%) haben wegen der politischen Unsicherheit im Nachgang zur Reaktorkatastrophe von Fukushima jahrelang nicht investiert.
Werden die Versorger mehr investieren?
Es gibt etwas mehr Sicherheit. Die Stromproduzenten haben mit der deutschen Regierung die nuklearen Verbindlichkeiten geregelt, und der Investitionsbedarf ist da – in Deutschland wegen der enormen Menge an Strom aus alternativen Energiequellen, der effizient verteilt werden muss. Die Frage ist also nicht ob, sondern wann die Versorger wieder investieren.
Credit Suisse (CSGN 12.37 -1.98%) und Deutsche Bank (DBK 12.695 -1.32%) wurden diesen Sommer massiv abgestraft. Haben Sie sich diese Titel angeschaut?
Der deutsche Markt wird durch die Raiffeisenbanken und Sparkassen dominiert. Deutsche Bank und Commerzbank (CBK 6.186 -1.76%) konnten im Inland nie eine starke Stellung bei den Sparern etablieren, was für die Kreditvergabe einer Bank wichtig ist, weil so die Abhängigkeit vom Interbankenmarkt reduziert werden kann. Deutsche Bank ist seit der Akquisition von Bankers Trust eine globale Investmentbank und keine deutsche Bank, und das Investment Banking ist wegen regulatorischer Vorschriften und Bussen unter Druck.
Und Credit Suisse?
Credit Suisse ist ein Vermögensverwalter, der in einem Turnaround steckt. Wir haben uns allerdings gefragt, ob wir angesichts weltweit hoher Bewertungen der meisten Vermögenswerte in einen Asset Manager investieren wollen. Die Antwort fiel negativ aus.
Sind Credit Suisse also nicht günstig?
Doch – wenn man annimmt, dass das Umfeld so bleibt wie heute. Wir sind nicht bereit, dieses Risiko zu tragen, und kaufen lieber Titel wie den französischen Triebwerkhersteller Safran (SAF 61.28 -0.21%).
Was spricht für Safran?
Safran verfolgt das Rasierklingenmodell. Sie verkauft Triebwerke – zum Teil sogar mit Verlust. Diese müssen nach einer bestimmten Anzahl Flugstunden respektive Starts und Landungen gewartet werden. Das ist nach rund sieben bis acht Jahren der Fall und kostet zwischen 2 und 4 Mio. $. Da Sie wissen, wie viele Triebwerke vor sieben oder acht Jahren verkauft wurden, können Sie den künftigen Gewinn abschätzen. Bei normaler Konjunktur ist das die wohl am besten prognostizierbare Gewinnentwicklung überhaupt.
Gibt es auch Risiken?
Bei einer Wachstumsabkühlung schiebt sich der Zeitpunkt der Wartung nach hinten, weil Airlines weniger fliegen. Ein weiteres Risiko ist die Einführung von neuen Triebwerkmodellen, weil man nicht weiss, wie sie sich behaupten werden.
Vor längerer Zeit haben Sie Standard Chartered (STAN 640.9 -1.02%) gekauft. Die Bank kam arg unter die Räder. Halten Sie an der Position fest?
Mit Bill Winters hat Standard Chartered einen neuen CEO, der hart an einem Kulturwandel arbeitet. Bis vor zwei Jahren war die Bank dank des Asiengeschäfts eine Wachstumsgeschichte. Wer schnell wächst, tendiert allerdings dazu, bei der Kreditvergabe zu lasch zu sein. Das ist in Indien und im Rohstoffgeschäft passiert. Seit Winters an Bord ist, werden neue Kredite hoffentlich nur noch nach Risikogesichtspunkten vergeben.
Und was ist mit den Altlasten?
In Indien wird am Kulturwandel gearbeitet, Korea liegt näher an der Gewinnschwelle, und in Indonesien wird versucht, die beiden Einheiten zu fusionieren oder eine davon zu verkaufen. Das Rohstoffportfolio wurde reduziert, der Ölpreis ist gestiegen. Die Risiken sind also kleiner.
Wie präsentiert sich die Bewertung?
Bei einer künftigen Eigenkapitalrendite von 10% würde Standard Chartered 1 £ pro Aktie verdienen – das entspricht einem KGV von 7. Dividendenzahlungen sind möglich, wenn sich das Umfeld aufhellt. Die Tier-1-Kapitalquote liegt bei 13%, Ende Jahr könnten es schon 14% sein. Zudem wird Asien weiter schneller wachsen als der Rest der Welt, auch wenn sich China verlangsamt.
Sie halten auch Wells Fargo. Hat die Bank mit dem Skandal um fingierte Kundenkonten ihren Heiligenschein verloren?
Als ich vor 35 Jahren ins Investment Business einstieg, sprach man von Saint Merck (MRK 59.81 -0.4%) – der heiligen Merck. Dasselbe galt für Wells Fargo. Der Skandal scheint aber keine absichtliche, bankweite Politik gewesen zu sein, denn Kontoeröffnungen sind aus Bankensicht nicht sinnvoll, da sie nur Kosten verursachen. Der Skandal wurde von der «LA Times» schon 2014 aufgedeckt. Der Fehler lag darin, die Kompensationsstruktur nicht zu ändern. Die Mitarbeiter nach Anzahl neu eröffneter Konten zu bezahlen, gibt einen falschen Anreiz. Logisch wäre, die Leute nach der Profitabilität der Neukunden zu bezahlen.
Haben Sie in der Schwäche zugekauft?
Ja. Wells Fargo erzielt eine Eigenkapitalrendite von 12 bis 13% und handelt zu einem KGV von 11 für ein Geschäft, das wachsen kann. Die Bank ist gut geführt – sie kam problemlos durch die Finanzkrise.
Hätte CEO John Stumpf bleiben sollen?
Der Verwaltungsrat hat richtig entschieden. Das Managementteam hat einen Fehler gemacht, weil es das Problem der falschen Anreize nicht angepackt hat.
Mit Öltiteln tun sich Value-Investoren oft schwer. Sie halten aber einige Positionen.
Lange hielten wir keine Öltitel, weil wir den Ölpreis als wichtigsten Treiber nicht prognostizieren können. Bei 28 $ lag der Fasspreis aber zu tief. Bei einer globalen Nachfrage von täglich 94 bis 95 Mio. Fass beträgt das Überangebot 1 bis 2 Mio. Fass. Der Unterschied zwischen Angebot und Nachfrage ist also nicht so gross. Zudem geht gerne vergessen, dass der jährliche Reserveabbau 4 Mio. Fass pro Tag beträgt, die ersetzt werden müssen.
Was bei den gegenwärtigen Ölpreisen kaum geschehen dürfte.
Über die letzten zwei Jahre haben alle bedeutenden Förderer die Ausgaben für Tiefseebohrungen drastisch gekürzt. Es dauert mehrere Jahre und kostet enorm viel, bis ein solches Feld in Produktion geht. Sobald dies der Fall ist, hört man wegen der riesigen Vorabinvestitionen auch bei niedrigem Ölpreis nicht auf zu produzieren. In einigen Jahren wird diese Quelle aber versiegen, weil es keine Tiefseebohrungen mehr gibt. Ich weiss nicht, wann es passiert, aber die Wahrscheinlichkeit eines Engpasses ist hoch.
Warum Royal Dutch und Total (FP 42.92 0.08%)?
Wichtig ist, dass die Produktion aus existierenden Reserven gesteigert werden kann. Inklusive British Gas hat Royal Dutch eines der besten Produktionsprofile. Total wächst jetzt schon und wird auch künftig wachsen. Negativ bei Royal Dutch sind die Aktivitäten im Bereich Flüssiggas, weil die USA zu einem wichtigen Gasproduzenten geworden sind.
Warum halten Sie keine Minenaktien?
BHP Billiton (BLT 1247.5 2.3%) und Rio Tinto (RIO 2838.5 0.66%) sind hoch verschuldet. Wenn wir etwas nicht wollen, dann ist es ein zyklisches Geschäft mit hohen Schulden.
Vor einiger Zeit haben Sie den chilenischen Kupferförderer Antofagasta (ANTO 572 1.55%) gekauft.
Es ist schwierig, einfach zu fördernde Vorkommen zu finden. Bei normalem Wirtschaftswachstum ist Kupfer attraktiv – anders als Eisenerz oder Kohle (Kohle 99.35 2.21%), die es überall auf der Welt gibt. Mit 1.25 $ Produktionskosten pro Pfund Kupfer gehört Antofagasta zu den kostengünstigsten Produzenten. Das Unternehmen handelt antizyklisch und ist aktionärsfreundlich: Wenn der Kupferpreis hoch ist, schüttet es Spezialdividenden aus, statt sich zu verschulden und teure Akquisitionen zu finanzieren.
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