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14:55 Uhr - 10.06.2022

Economiesuisse-Präsident: «Enorm bedrohlich»

Für Christoph Mäder geht die Energiestrategie des Bundes nicht auf. Und er sagt, wie der grösste Wirtschaftsverband Volksabstimmungen gewinnen will.

Das Umfeld für die Schweizer Unternehmen hat sich eingetrübt. Ausser wirtschaftliche Probleme beschäftigen den Wirtschaftsdachverband Economiesuisse politische Herausforderungen. Am meisten Sorgen bereiten die Stromversorgung und die «blinde Referendumswut» der Linken. Präsident Christoph Mäder bezieht Stellung.

Herr Mäder, die Liste der Bremsfaktoren für die Wirtschaft ist lang: Ukrainekrise, Lieferkettenprobleme, Inflation, Abschwung in China… Noch spiegeln die Zahlen eine gute Konjunktur. Die Ruhe vor dem Sturm?
Das muss nicht sein, aber es kann. Wir sind bemerkenswert rasch aus der Delle der Pandemie herausgekommen, doch nun hat sich eine toxische Mischung aus negativen Einflussfaktoren gebildet.

Wie gut ist die Industrie gewappnet?
Sie hat sich in der Pandemie einmal mehr als resilient erwiesen und auch die jüngste Frankenstärke gut verdaut. Aber weitere Schocks können die Unternehmen nicht mehr ohne weiteres absorbieren.

Corona hat die Lust auf mehr Staat geweckt. Was sagen Sie zur Idee, Unternehmen mit einer Steuer zu bestrafen, die von den Folgen des Ukrainekrieges profitieren, während andere unterstützt werden?
Nichts. Schon aus ordnungspolitischen Gründen unterstützen wir solche Ideen nicht. Nach welchen Kriterien würde man Profiteure und Verlierer bestimmen? Die Abgrenzungsprobleme wären gewaltig.

Der Ukrainekrieg hat auch bestehende Probleme verschärft. Zum Beispiel die Sicherheit der Versorgung mit Strom, vor allem im Winter. Wie kann sie garantiert werden?
Abgesehen von den ausserordentlichen Ereignissen ist Energie das drängendste Problem für die Wirtschaft. Dass wir gemäss neuster Einschätzung der Eidgenössischen Elektrizitätskommission schon im kommenden Winter mit einer Strommangellage konfrontiert sein könnten, ist eine enorm bedrohliche Aussicht für Unternehmen. Viele industrielle Prozesse sind auf eine volle Stromversorgung angewiesen. Wird sie reduziert, läuft nichts mehr.

«Bei der Photovoltaik gibt es zwei grosse Fragezeichen»

Was kehren die Unternehmen vor?
Sie treffen immer mehr Ersatzmassnahmen, etwa die grossflächige Installation von Dieselgeneratoren. Das verursacht Zusatzkosten und belastet die Umwelt. Gas lässt sich teilweise ersetzen, aber nur 30% der Industrieproduktion lassen sich von Gas auf Erdöl umstellen.

Wird die drohende Stromlücke in Bundesbern immer noch unterschätzt?
Die Elektrizitätskommission ist keine Behörde, die leichtfertig dramatisiert. Nun kommen wir aus der bedrohlichen Lage nicht rechtzeitig heraus. Einzig auf Wasserkraft und Photovoltaik zu setzen, ist ungenügend. Bei der Photovoltaik gibt es zwei grosse Fragezeichen. Der bisherige Zubau an Kapazität stimmt nicht optimistisch, dass die nötige Grössenordnung in vernünftigem Zeitrahmen erreicht wird. Zudem bleibt das Problem des Winterstroms ungelöst. Jede Massnahme sollte darauf abzielen, einen Beitrag zur Verringerung des Winterstromdefizits zu leisten.

«Es wäre töricht, auf diese Option zu verzichten»

Hier taucht die Frage neuer Kernkraftwerke auf. Soll das Verbot aufgehoben werden?
Wir müssen alles unternehmen, um die Lebensdauer der bestehenden Kraftwerke mit Nachrüstungsinvestitionen so lange sicherzustellen, wie es technisch zu verantworten ist. Niemand ist dafür, ein AKW der gegenwärtigen Generation ans Netz zu bringen. Aber heute wird an der übernächsten Generation geforscht. Sie setzen in Bezug auf Sicherheit und Abfall neue Massstäbe. Er wäre töricht, mangels Alternativen auf diese Option zu verzichten.

Aber sind AKW wirtschaftlich?
Die Frage ist berechtigt. In ein neues Gösgen will keiner investieren. Doch Wirtschaftlichkeit hängt eng mit Regulierung zusammen und den vielen Widerständen, die zu überwinden sind. Künftige Generationen von AKW dürften weniger Auflagen bedingen. Dann sieht es mit der Wirtschaftlichkeit plötzlich anders aus.

Das Volk hat sich für die Energiestrategie 2050 ausgesprochen. Das Verbot neuer AKW war 2017 aber nur ein Teil der Vorlage. Hätte heute mit Blick auf die Versorgungs­sicherheit eine spezifische Befragung zu AKW nicht eine Chance?
Der Entscheid damals wurde auf Basis von Projektionen zum Stromverbrauch gefällt, die sich als obsolet erwiesen haben. Die Ausgangslage hat sich völlig verändert, der Stromkonsum steigt massiv. Einen Plan, der belegt, dass sich die Ziele mit realistischer Erfolgschance auch ohne Kernkraft erreichen lassen, gibt es nicht. Wir müssen die Diskussion nochmals anstossen.

Der Bund will einen riesigen Rettungsschirm über grosse Stromversorger spannen. Zudem geistert die Idee einer grünen Investitionsbank herum. Ist die Energieversorgung auf dem Weg zur Verstaatlichung?
Das ist ein Trend, der uns Sorgen bereitet. Es sollten möglichst viele Marktkräfte zur Entfaltung kommen, weil sie letztlich die grösste Wirkung zeigen.
2017 beteiligte sich der Verband nicht am Referendum gegen die Energiestrategie und war im Abstimmungskampf kaum präsent. Jetzt ist vieles aufgegleist und nicht mehr zu ändern.

«Das Phänomen, aus Prinzip Widerstand zu leisten, hat sich akzentuiert.»

Muss sich Economiesuisse nicht auch an der eigenen Nase nehmen?
Der Entscheid gründete auf dem Mix von Massnahmen. Economiesuisse hat nie ein Technologieverbot unterstützt, sondern nur gewisse Elemente der Energiestrategie wie bessere Effizienz und geeignete Förderung erneuerbarer Energien. Zudem gingen die Meinungen im Verband auseinander. So ergab sich die Stimmenthaltung. Ich persönlich hatte stets eine skeptische Haltung gegenüber der Vorlage.

Aber das neue CO2-Gesetz vor einem Jahr hat Economiesuisse mitgetragen, obschon es auch Elemente enthielt, die gar nicht marktwirtschaftlich waren.
Das ist so. In der Gesamtbeurteilung vertraten wir aber die Meinung, dass die ­Vorteile die negativen Elemente wie den Klimafonds und die Auslandkompensation deutlich überwogen.

Für den Wirtschaftsstandort Schweiz sind attraktive Steuern wichtig. Im Februar ist die Abschaffung der Stempelsteuer ­gescheitert. Wie will Economiesuisse im Herbst die Abstimmung über die Abschaffung der Verrechnungssteuer gewinnen?
Die Ausgangslage ist anders. Bei der Stempelsteuer ging es um die Abschaffung einer Steuer. Der Zweck der Revision der Verrechnungssteuer ist hingegen, Steuersubstrat und Arbeitsplätze in die Schweiz zurückzuholen, die ans Ausland verloren gegangen sind. Rational betrachtet sollte das ein überzeugendes Argument sein.

Vor gut einem Monat haben Sie sich über die «blinde Referendumswut» der Linken beklagt. Lassen sich mit sachlichen, rationalen Argumenten wirtschaftsfreundliche Abstimmungen noch gewinnen?
In einer direkten Demokratie spielen immer ideologische, emotionale und schlagwortartige Argumente hinein. Aber unser System baut darauf, dass wir am Schluss in einer konstruktiven Art zu Lösungen im besten Interesse des Landes gelangen. Das Phänomen, aus Prinzip Widerstand zu leisten, hat sich akzentuiert. Früher wurde ein parlamentarischer Entscheid weniger radikal sofort in Frage gestellt.

«In der AHV geben wird im Moment Geld aus, das nie verdient wurde»

Die Einführung der OECD-Mindeststeuer von 15% muss die Schweiz wohl oder übel akzeptieren. Verliert die Schweiz schleichend Standortvorteile?
Wir sind ein Hochkostenland. Diesen Nachteil müssen wir wettmachen durch andere Elemente wie attraktive Steuern. Im Grossen und Ganzen war die Schweiz bisher hoch kompetitiv. Es gilt nun zu überlegen, wie die OECD-Steuer kom­pensiert werden kann: zum Beispiel mit Standort-Förderungsmassnahmen im weitesten Sinn. Eines müssen wir ver­meiden: sklavisch einen Mindeststeuersatz tel quel umzusetzen, ohne die vielen Abzugsmöglichkeiten auszuschöpfen, wie das alle anderen Länder auch tun.

Die angesprochene «blinde Referendumswut» der Linken grassiert auch im Bereich Altersvorsorge. Mit welchen Argumenten ist im September die Abstimmung über die Reformvorlage AHV 21 zu gewinnen?
Demografie lässt sich nicht überlisten. Immer mehr Rentenbezüger stehen immer weniger Erwerbstätigen pro Rentenbezüger gegenüber. Die aktive Generation bezahlt überdurchschnittlich viel an die Rentner, während die Aussicht für die Jungen, dereinst selbst eine vernünftige Rente zu erhalten, kompromittiert wird. Wir geben im Moment Geld aus, das nie verdient wurde. Die AHV 21 ist ein erster Schritt hin zum Ziel, die Balance wiederherzustellen.

Plädieren Sie für ein höheres Rentenalter?
In vielen Ländern Europas wird das Rentenalter erhöht. Man kann auf Besitzstandsbewahrung pochen. Doch in einer Gesamtsicht ist es verantwortungslos, die Entwicklung weiterlaufen zu lassen. Die Rechnung bezahlt die junge Generation.

«Viele sind sich nicht bewusst, warum in Schweiz so erfolgreich ist»

Aber es gebe eine einfache Lösung, sagen Politiker links und rechts: den Gewinn der Nationalbank anzuzapfen.
Das ist keine Lösung. Die Unabhängigkeit der Zentralbank ist ein ausserordentlich hohes Gut. Wenn wir anfangen, die Nationalbank in den Dienst der Politik zu ­stellen, schränken wir ihren Handlungsspielraum ein. Wir dürfen uns nicht von ein paar Jahren mit ausserordentlich hohem Gewinn blenden lassen. Es kommen wieder andere Zeiten.

Angenommen, die Reform AHV 21 kommt durch. Haben weitere Erhöhungen des ­Rentenalters eine Chance?
Sie dürften kein Tabu sein. Ehrlich und vernünftig wäre es, die Diskussion von der politischen Entscheidungsfindung zu entkoppeln und das gesetzliche Rentenalter an die Lebenserwartung zu binden, wie es etwa die Niederlande beschlossen haben.

Der Glaube an die Vorteile einer freien Marktwirtschaft scheint hierzulande ­langsam, aber sicher zu schmelzen. Ist das Erfolgsmodell Schweiz in Gefahr?
Das Vertrauen in die Privatwirtschaft ist nach wie vor solide. Was sich verändert hat, ist das Wissen über den Mechanismus des Erfolgsmodells Schweiz. Viele geben sich zu wenig Rechenschaft darüber ab, warum die Schweiz in der Vergangenheit so erfolgreich war: die freie Marktwirtschaft, ein moderates Steuerumfeld, ein ­liberaler Arbeitsmarkt und so weiter. Das muss die Wirtschaft den Leuten wieder vermehrt klarmachen.

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