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10:42 Uhr - 11.10.2019

Der Chart des Tages

Justin Leverenz, Portfoliomanager für Schwellenländeraktien bei Invesco OFI, glaubt nicht an höheres Wachstum der Schwellenmärkte – aber an einzelne Unternehmen.

Herr Leverenz, Schwellenländeranlagen werden oft mit dem Argument angepriesen, dass diese Länder zu den Industrieländern aufholen. Stimmen Sie dem zu?
Solche Narrative sind sexy. Und sie hatten vielleicht in den Nullerjahren ihre Berechtigung. Die Schwellenländer wuchsen damals schneller, weil sie aus den Finanzkrisen in Russland, Mexiko und Asien Lehren gezogen und ihre Wirtschaftspolitik geändert hatten. Die Wechselkurse wurden flexibler gehandhabt, die Banken wurden rekapitalisiert, und die Regierungen verfolgten eine neue Haushaltsdisziplin. Es gab eine wirtschaftliche Stabilität, die neues Wachstum mit sich brachte. Darüber hinaus trugen grössere internationale Kapitalströme und höhere Rohstoffpreise vorübergehend zum Wachstum bei. Es gab weniger Armut, aber keine wachsende Mittelschicht – ausser in China.

China ist also eine Ausnahme und kein Modell für andere Entwicklungsländer?
China ist ein so grosser Markt, dass es die Sicht auf den Fortschritt der Entwicklungsländer verzerrt hat. Man meint, dass in der gesamten Dritten Welt die Mittelschicht schnell wächst. Aber es gibt nur wenige Länder, die in das internationale Handelssystem eingebettet waren und deren Wirtschaft in Richtung der entwickelten Welt konvergiert hat. Dazu zählen Japan, Südkorea, Taiwan und später die osteuropäischen Staaten. Für viele Entwicklungsländer einschliesslich Indiens ist es völlig unmöglich, einen Entwicklungspfad wie China einzuschlagen.

Was ist der Grund dafür?
Die meisten Entwicklungsländer leiden unter wirtschaftlicher Ungleichheit und sehr eingeschränkter sozialer Mobilität. Die Volkswirtschaft generiert nicht genügend Ersparnisse, um sich zu entwickeln. Darüber hinaus ist es sehr gefährlich, wenn ein Land gleichzeitig politische und wirtschaftliche Ungleichheit aufweist: Es kommen regelmässig Manipulatoren an die Macht, die den Frust der Massen ausnutzen. So führt der linke Populismus zu Krisen, wie wir sie jetzt in Argentinien und Venezuela sehen. Nach einer Krise kommt manchmal eine Reformregierung an die Macht, aber die kann sich in der Regel  nicht allzu lange halten.

Aber in Indien loben Investoren die derzeitige Regierung.
Indiens Premierminister Narendra Modi hat eine Reihe wichtiger Politikmassnahmen umgesetzt, wie beispielsweise die landesweite Harmonisierung der Umsatzsteuer über die einzelnen Bundesstaaten. Auch die Senkung der Unternehmenssteuer ist ein positiver Schritt. Aber es muss noch viel mehr getan werden, und das ist in dem derzeitigen politischen System nicht möglich – auch wegen der Spannung zwischen der Elite und der einfachen Bevölkerung.

Wenn man der Konvergenzstory nicht traut, warum sollte man dann in die Emerging Markets investieren?
Auf der ganzen Welt gibt es gute Unternehmen, die gegenüber der Konkurrenz langfristig im Vorteil sind. Sie sind nicht darauf angewiesen, dass ihr Heimatland ein überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum aufweist. Wir mögen Unternehmen, die dank neuer Initiativen und Projekte den Charakter einer Realoption haben, die also ähnlich einer Finanzoption ein riesiges Gewinnpotenzial haben. Viele Analysten extrapolieren einfach das bisherige Wachstum eines Unternehmens in die Zukunft und sind damit zu konservativ angesichts neuer Märkte oder Gewinnquellen. Man muss den Mut haben, nichtlineares Wachstum zu modellieren, das sich aus solchen Realoptionen ergeben könnte.

Zwei Ihrer grössten Positionen sind die chinesischen Internetgesellschaften Tencent (Tencent 40.93 0.91%) und Alibaba (BABA 166.07 0.53%). Sind diese Unternehmen nicht deswegen so stark, weil die Regierung in Peking sie vor der Konkurrenz schützt?
Diesen Vorwurf hört man im Silicon Valley oft, aber das stimmt nicht. Der Wettbewerb im chinesischen Online-Geschäft ist extrem hart. Google (GOOGL 1209.47 0.59%), Uber und Amazon (AMZN 1720.26 -0.1%) haben sich entschieden, China zu verlassen, weil sie nicht mit den heimischen Unternehmen mithalten konnten. Tencent betreibt das innovativste soziale Netzwerk der Welt. Die Idee, Zahlungen in einer Chat-Anwendung zu ermöglichen, stammt von WeChat, dem Chat-Dienst von Tencent. Facebook (FB 180.03 0.1%) will das System jetzt kopieren. Das Silicon Valley sucht nun in China nach Innovationen. Es stimmt nicht, dass Tencent und Alibaba von der Regierung eine Monopollizenz erhalten haben – sonst müssten sie nicht so innovativ sein, wie sie sind.

Ihr Realoptionsansatz scheint Wachstum und nicht Bewertungen in den Vordergrund zu stellen.
Ich bin kein Value-Investor, aber ich schaue genau auf die Bewertungen. Ich habe Tencent vor vierzehn Jahren gekauft. Wenn ich im Laufe der Zeit keine Anteile verkauft hätte, hätte dieser Titel inzwischen ein Gewicht von 10 bis 20% im Portfolio, statt 4% wie derzeit. Was Alibaba anbelangt, bin ich der Meinung, dass das Unternehmen bei einer aktuellen Marktkapitalisierung von rund 400 Mrd. $ stark unterbewertet ist. Dieser Börsenwert unterschätzt selbst das Potenzial des Kerngeschäfts, das auf absehbare Zeit jährlich mehr als 20% wachsen wird. Dazu kommen neue Initiativen des Unternehmens in den Bereichen Einzelhandel, Fintech und Cloud Computing.

Mit Ihrem Fokus auf einzelne Unternehmen scheinen Sie den Einfluss der Politik zu ignorieren.
Ich muss natürlich intensiv über die politischen Entwicklungen nachdenken. Meine Meinung zum Handelskrieg zwischen den USA und China ist, dass es nicht nur um den Handel geht. Der Streit ist Ausdruck eines grösseren Konflikts, der sich um den Aufstieg Chinas dreht, den die USA nicht akzeptieren wollen. Es prallen zwei sehr unterschiedliche Lebensphilosophien aufeinander. Der Konflikt wird sich auch in den Verhandlungen über geistiges Eigentum, den Finanzbereich und die Geopolitik auswirken. Er wird in den nächsten Jahrzehnten ein fester Bestandteil der internationalen Politik bleiben. Die Konfrontation zwischen den USA und China ist keine Marotte der Trump-Regierung, sondern wird von einem breiten Konsens im politischen Establishment in Washington getragen.

Wie passt Ihre Realoptionsstrategie zu Ihrem Engagement in Taiwan Semiconductor Manufacturing TSMC (TSM 44.4 -0.45%) und dem russischen Gasunternehmen Novatek? Das sind doch klassische Konjunkturwetten.
Ich bin kein Dogmatiker, kann also auch in diesen Unternehmen in zyklischen Branchen investieren. Sie unterscheiden sich aber deutlich von anderen Wettbewerbern. Das Management von Novatek hat seine langjährige Erfahrung unter Beweis gestellt. Dank proprietärer Technologien ist Novatek in der Lage, Gasverflüssigungsaktivitäten für andere Förderunternehmen zu betreiben. TSMC ist führend in der Fertigung von Halbleitern und hat in ihrem Bereich eine fast monopolistische Position. TSMC produziert jetzt auch AMD-Chips und partizipiert am Aufbau neuer Rechenzentren aufgrund von Cloud Computing. Diese Zentren basieren immer weniger auf der Intel-Architektur, was AMD neue Chancen eröffnet. TSMC wird vom langfristigen Wachstum im Cloud Computing profitieren, auch wenn der Absatz der Halbleiterindustrie insgesamt voraussichtlich nicht schneller als die Gesamtwirtschaft wachsen wird.

Ausserhalb der Entwicklungsländer sind Sie in dem in Paris ansässigen Luxuskonzern Kering investiert. Sind Luxustitel nicht zu teuer, um künftig noch Potenzial zu haben?
Wir sind in Kering investiert, da etwa die Hälfte des Geschäfts auf Kunden aus Schwellenländern entfällt. In Bezug auf Gewinn- und Cashflow-Bewertungskennzahlen sind die Titel sehr günstig. Es besteht Skepsis, ob sich das Wachstum der Marke Gucci fortsetzen kann. Noch nie zuvor hat sich eine Luxusmarke so gewandelt wie durch den Chefdesigner Alessandro Michele, der diese Position vor vier Jahren übernommen hat. Aber diese Transformation wird nachhaltig sein: Das Unternehmen hat sich entschieden, nicht nur den Designprozess zu verändern, sondern auch die Logistik, die Vertriebskanäle, die Entwicklung der Kollektion und die Ladenkonzepte. Kering konzentriert sich auf ihre Hauptmarken, zuvor war sie ein chaotischer Mischkonzern.

Haben Sie bei Kering auch Realoptionen identifiziert?
Dank des Cashflows verfügt Kering nun über eine Nettobarposition und kann sie für Akquisitionen nutzen. Es gäbe noch mehr Liquidität, wenn sie ihre Beteiligung an Puma (PUM 70 -0.85%) verkaufen würde. Die Luxusbranche hat in letzter Zeit enorme Veränderungen durchgemacht. Viele andere Marken kämpfen mit dem völlig veränderten Umfeld, in dem nicht mehr grosse Modemagazine, sondern die fragmentierten Stimmen von Social-Media-Influencern die Konsumentenentscheidungen bestimmen. Kering hat den Vorteil, die Fähigkeiten beim Management von Marken und bei der Kommunikation hebeln zu können und so Marken zu übernehmen und zu wandeln, wie es mit Gucci geklappt hat.

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