Zurück zur Übersicht
16:19 Uhr - 01.12.2016

«Kaum eine Extrawurst für die Schweiz»

Herfried Münkler, Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin, im Interview mit FuW zum Zustand der EU und zu ihrem Verhältnis zur Schweiz.

Am diesjährigen Symposium der Ernst Schmidheiny Stiftung – sie organisiert Wirtschaftswochen an Gymnasien – referierte neben anderen auch der deutsche Politologe Herfried Münkler. «Finanz und Wirtschaft» unterhielt sich mit ihm über die möglichen Folgen der Probleme der EU für die Schweiz.

Zur PersonHerfried Münkler gehört zu den führenden Politologen Deutschlands. Der 65-Jährige studierte in Frankfurt Germanistik, Politikwissenschaften und Philosophie. Er promovierte 1981 mit einer Dissertation über Niccolò Machiavelli. Im Februar 1987 folgte die Habilitation über Staatsraison. Seine berufliche Karriere startete er 1982 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt.

Von 1987 bis 1992 vertrat er daselbst eine Professur für Politikwissenschaft. Er folgte 1992 einem Ruf auf den Lehrstuhl für Theorie der Politik am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Im selben Jahr lehnte er einen Ruf auf den Lehrstuhl für politische Philosophie an der Universität Zürich ab. Seit 1992 ist er zudem Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Münkler nahm verschiedene Gastprofessuren wahr und wurde mehrfach ausgezeichnet. Noch bis 2017 wirkt er als Carl Friedrich von Siemens Fellow an der Siemens-Stiftung in München. Münkler ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.
Herr Münkler, angesichts der Ereignisse in Grossbritannien und den USA haben Sie festgehalten, die guten Zeiten gingen zu Ende. Sind Sie Pessimist?
Nein, ich bin nicht Pessimist, sondern Realist. Ich habe auch Zuversicht, dass es uns möglich ist, nach dem Ende der guten Zeiten schwierigere Situationen bewältigen zu können. Aber es braucht Kraft und mehr Mut, und es wird riskanter.

Sind nur der Brexit sowie die Wahl von Donald Trump schuld?
Nein, dazu kommt der Aufstieg des Populismus, sowohl des linken in Südeuropa als auch des rechten in allen anderen Ländern Europas. Eine relevante, politisch nicht mehr zu übergehende Minderheit der Bevölkerung rebelliert gegen Prozesse, von denen wir in den vergangenen zwanzig oder dreissig Jahren gedacht haben, sie seien Selbstläufer und irreversibel. Gemeint ist die Bildung immer grösserer politischer Räume wie die EU und die Entstehung immer tieferer wirtschaftlicher Verflechtungen. Dagegen wendet sich jetzt eine Art Nationalprotektionismus.

Sie haben einmal geschrieben, die EU sei «überdehnt».
In den Erweiterungsrunden der EU hat man auf externe Herausforderungen reagiert. Mit der Süderweiterung wollte man verhindern, dass Länder, die aus Diktaturen oder autoritären Regimes gekommen sind, wie Portugal oder Spanien, wieder zurückfallen. Mit der Osterweiterung wollte man die komplizierten Verhältnisse dieser Länder vereinfachen. In der Folge sind die Zentrifugalkräfte in der EU stärker geworden. Es war zudem ein Fehler, zu glauben, die Währungsunion und eine gemeinsame Fiskalpolitik seien einfach zu handhaben. Gleichzeitig hatte man gedacht, eine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik sei schwierig und hat sich davon ferngehalten. Heute zeigt sich, dass wir mehr gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik brauchen würden. Dafür haben wir eine Währungsunion, die in der EU enorme Sprengkräfte freigesetzt hat.

Die EU hat sich falsch entwickelt.
Ja, das würde ich so sagen. Man sah die Währung als Türöffner für den politischen Prozess. Verschiedene Interessen überlagerten sich dabei. Die Franzosen wollten unbedingt die mit der D-Mark und der Bundesbank verbundene Macht der Deutschen in Europa zurückbinden. Das war die Bedingung für die Zustimmung zur Wiedervereinigung.

Wie kann die EU diese Probleme lösen?
Ein wichtiges Zeichen wird von den Brexit-Verhandlungen ausgehen. Wenn es ein harter Schnitt wird, könnte er zur inneren Stabilisierung der EU beitragen. Er wäre ein Exempel für andere Länder, die damit liebäugeln, mehr nationale Spielräume zu erhalten. Die auf einen harten Schnitt folgenden Veränderungen in Grossbritannien dürften jedoch dramatisch ausfallen. Der Finanzplatz dürfte zum Teil abwandern, und der Prozess der Deindustrialisierung des Landes liesse sich nicht mehr aufhalten. Auch andere EU-Länder hätten einen hohen Preis zu bezahlen.

Und wenn der Brexit schwach ausfällt?
Wenn Grossbritannien eher in eine Rolle wie die Schweiz kommt, könnte man sich vorstellen, dass es zu einem Umbau der EU kommt. Es könnte einen Kernbestand von Staaten geben, die sehr eng zusammen arbeiten. Viele jetzige EU-Mitglieder könnten etwas auf Distanz gehen, mit weniger Rechten und auch Pflichten. Es könnte ein starkes Zentrum mit sich abflachenden Rändern geben. Die Zentrifugalkräfte könnten damit vermindert werden, die EU würde etwas gelenkiger.

Ein föderalerer Aufbau also.
Ja. Aber innerhalb dieser Struktur gäbe es Mitglieder zweiter oder dritter Ordnung. Das würde vieles einfacher machen. Das wäre ein eher imperiales Modell.

Gibt es ein weitere Perspektive?
Der Zerfall oder das Auseinanderbrechen. Man kann sich eine Spaltungslinie Nord-Süd vorstellen oder auch Ost-West. Ich würde sogar nicht ausschliessen, dass es eine Nord-, eine Ost- und eine Süd-EU geben wird. Schliesslich ist auch eine Agonie der EU möglich. Wenn die populistischen Bewegungen so stark werden, dass die Kompromissfähigkeit dieser Staaten in Brüssel gegen null geht.

Was bedeutet das alles für die Schweiz?
Die Schweiz konnte es sich leisten, nicht der EU beizutreten, aber Beiträge zu deren Finanzierung zu zahlen, da sie auch Vorteile hat. Das ist riskant, weil man von Entscheiden abhängt, die man selbst nicht beeinflussen kann. Das ging bisher gut, weil die Interessen der Schweiz und Deutschlands nicht fundamental divergieren. Wenn die Karten in der EU neu gemischt werden, muss sich die Schweiz überlegen, ob sie sich das weiter leisten kann oder ob sie ihre Interessen aktiver einbringen will. Sollte sich die EU in Richtung des imperialen Modells entwickeln, stellt sich für die Schweiz die Frage, ob es neue Möglichkeiten geben könnte.

Mit der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative wird die Personenfreizügigkeit gefährdet. Geht das vis-à-vis der EU?
Was in dieser Frage geschieht, wird letzten Endes nicht mit der Schweiz, sondern mit Grossbritannien verhandelt. Sollte sich die EU mit den Briten auf Verhandlungen einlassen, die Personenfreizügigkeit ausser Kraft zu setzen, aber trotzdem den Marktzugang zu gewähren, wäre dies eine Steilvorlage für die Schweiz. Die EU könnte der Schweiz nicht gut Dinge vorenthalten, die sie den Briten gewährt. Das ist derzeit eher unwahrscheinlich. Gibt es einen harten Brexit, ist eine Extrawurst für die Schweiz unvorstellbar.

Wird die Personenfreizügigkeit mittel- und längerfristig überleben?
Entscheidend ist, ob es der EU gelingt, ihre Aussengrenzen in den Griff zu bekommen. Wenn dies der Fall ist, wird die Personenfreizügigkeit in der EU ein zentrales Element bleiben. Sollte dies nicht gelingen, dürfte die EU kleinräumiger werden, mit schärferen und unangenehmeren Kontrollen, die mit enormen Kosten für die Einzelstaaten verbunden wären.

Die Personenfreizügigkeit in der EU wäre infrage gestellt. Ist das wahrscheinlich?
Das ist schwer zu sagen. Ein wichtiger Test ist die Frage, ob der Deal der EU mit der Türkei hält. In diesem Fall sind die Aussengrenzen wohl gesichert. Wichtig ist, dass die Peripheriestaaten stabil sind.

Könnte die Schweiz die bilateralen Verträge verlieren?
Dieses Risiko ist nach der Entscheidung der Briten grösser geworden. Die Schweiz ist sicher gut beraten, wenn sie in diesen Verhandlungen der EU Konzessionen macht und auf sie zugeht. Das versucht der Bundesrat offenbar auch, er sucht den Kompromiss. Ich gehe davon aus, dass auch in Brüssel eine gewisse Kompromissbereitschaft da ist. Die EU kann im Moment nicht daran interessiert sein, sich ein weiteres grosses Problem aufzuladen.

Soll die Schweiz der EU beitreten?
Das würde der EU guttun. Es wäre ein Zeichen, dass nicht nur Kandidaten in die EU wollen, die Nettoempfänger sind. Es wird sich zeigen müssen, ob die Bereitschaft der Schweiz, zu zahlen, ohne entscheiden zu können, erhalten bleibt. Ein Beitritt ist derzeit aber wohl kein Thema.

Hat Ihnen der Artikel gefallen? Lösen Sie für 4 Wochen ein FuW-Testabo und lesen Sie auf www.fuw.ch Artikel, die nur unseren Abonnenten zugänglich sind.

Seite empfehlen



Kopieren Sie den Link [ctrl + c] und fügen Sie ihn in ein E-Mail ein [ctrl + v]. Aus Sicherheitsgründen ist kein Versand von E-Mails direkt vom VZ Finanzportal möglich.