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11:19 Uhr - 20.11.2017

Deutschlands Regierungskrise – wie geht es jetzt weiter?

In der Nacht auf Montag sind die Koalitionsverhandlungen in Berlin gescheitert. Die wichtigsten Antworten zu den weiteren Optionen.

Es ist eine einzigartige Situation für die deutsche Politik. Die Vorverhandlungen zur Bildung einer Koalition (Sondierungsgespräche) für eine neue Bundesregierung sind gescheitert. Zuvor hatten fünf Wochen lang die Parteien CDU, ihre bayrische Schwester CSU, die liberale FDP und die Grünen verhandelt, um sich auf ein gemeinsames Programm zu einigen (lesen Sie die Nachrichten hier sowie den FuW-Kommentar hier).

Gestern sollte das gemeinsame «Sondierungspapier» beschlossen werden. Darin wären die Grundzüge des Regierungsprogramms und Kompromisse zu den wichtigsten Streitpunkten beschrieben worden. Doch kurz vor Mitternacht verkündete FDP-Chef Christian Lindner, dass man den «Geist des Sondierungspapiers» nicht mittragen könne.

FuW hat die wichtigsten Antworten zur Regierungskrise in Deutschland zusammengestellt.

Wie haben die Märkte reagiert?

Nach Bekanntgabe des Scheiterns der Verhandlungen reagierte der Euro auf den asiatischen Handelsplätzen zwar mit Verlusten. Doch Verwerfungen an den Finanzmärkten sind nicht zu beobachten.

Der Euro hat sich erholt und notiert auf 1.18 $/€. Er liegt damit ungefähr auf dem Niveau von Freitag.

Deutsche Bundesanleihen mit einer Laufzeit von zehn Jahren rentieren 0,36% und damit ebenfalls auf dem Niveau von vergangener Woche. Es gibt also augenscheinlich keine Sorge von Gläubigern, dass ein Deutschland ohne neue Regierung ein weniger vertrauenswürdiger Schuldner wäre.

Der deutsche Leitindex Dax (DAX 12993.28 -0%) notiert mit rund 12’970 Punkten nur 0,2% tiefer als am Freitag. Obwohl sich Vertreter von Wirtschaftsverbänden enttäuscht über das Scheitern der Koalitionsverhandlungen geäussert haben, scheinen Anleger keine grosse Furcht vor einem Schaden auf Unternehmensebene zu haben.

Woran sind die Verhandlungen gescheitert?

Zum Scheitern führten wohl nicht konkrete Sachfragen. Zuvor wurde das grösste Streitpotenzial in der Steuerpolitik – die FDP wollte eine schnelle Streichung des sogenannten Solidaritätszuschlags auf die Einkommensteuer – und bei der Immigration – die Grünen lehnten einen absoluten Deckel der Einwanderung ab – gesehen. Auch die Klimapolitik war einer der im Voraus identifizierten Knackpunkte.

Doch Vertreter der CDU, der CSU und der Grünen sahen die Verhandlungen auf einem guten Weg. Alle Parteien hätten sich kompromissbereit gezeigt. Grünen-Politiker Jürgen Trittin warf der FDP daher vor, das Scheitern der Verhandlungen schon langfristig geplant zu haben. Die Liberalen hätten sich für eine Rolle in der Opposition entschieden.

Christian Lindner machte nicht Sachfragen für das Scheitern verantwortlich. Er erklärte, man habe keine Vertrauensbasis oder «gemeinsame Idee für die Modernisierung des Landes» finden können. Damit ist es für die anderen Parteien schwierig, die FDP mit neuen Angeboten zurückzugewinnen.

Was geschieht nun?

Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre bisherigen Minister aus CDU/CSU und SPD bleiben kommissarisch im Amt. Merkel will heute den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD) treffen, um sich mit ihm über das weitere Vorgehen zu beraten.

Der Bundespräsident hat nun gemäss der deutschen Verfassung – dem Grundgesetz – eine entscheidende Rolle inne.

Wegen der Erfahrung mit oft wechselnden Regierungen in der Weimarer Republik wurden im Grundgesetz hohe Hürden für Neuwahlen aufgestellt. Weder Regierung noch Bundestag können direkt eine neue Wahl anberaumen.

Dazu hat nur der Bundespräsident das Recht. Zuvor muss der Bundestag aber versuchen, einen neuen Kanzler auf Vorschlag des Bundespräsidenten zu wählen. Im dritten Wahlgang der Kanzlerwahl würde eine relative statt einer absoluten Mehrheit ausreichen. Angela Merkel könnte also allein durch die Stimmen von CDU/CSU gewählt werden. Trotzdem könnte Bundespräsident Steinmeier nach dem dritten Wahlgang entscheiden, Neuwahlen innerhalb von neunzig Tagen zu veranlassen.

Welche politischen Optionen gibt es nun?

Es gibt grundsätzlich drei Möglichkeiten:
1. Es findet sich doch noch eine Regierungsmehrheit.
2. Es bildet sich eine Minderheitsregierung.
3. Es kommt zu Neuwahlen.

Die FDP scheint für eine Koalition mit CDU/CSU und Grünen nicht mehr zur Verfügung stehen. Eine Koalition mit der rechtspopulistischen AfD (Alternative für Deutschland) wie auch mit der Linken hat die Partei von Angela Merkel ausgeschlossen.

Daher bleibt der Bundeskanzlerin für eine Mehrheit im Bundestag nur noch die SPD. Doch zuletzt hat SPD-Chef Martin Schulz wieder betont, für eine Koalition nicht zur Verfügung zu stehen.

Neuwahlen wären für die etablierten Parteien eine unbeliebte Option. So ist nicht zu erwarten, dass sich die Mehrheitsverhältnisse signifikant verändern würden. Ausserdem besteht die Gefahr, dass die AfD weitere Stimmengewinne verzeichnen könnte – und so die Regierungsbildung noch weiter erschweren würde.

Daher erscheint eine Minderheitsregierung unter der Führung von CDU/CSU immer wahrscheinlicher.

Wie würde eine Minderheitsregierung funktionieren?

CDU/CSU könnten allein alle Minister in der Bundesregierung stellen. Oder dafür den traditionellen Koalitionspartner FDP heranziehen. Oder es zum ersten Mal auf Bundesebene mit den Grünen versuchen.

Das politische System in Deutschland ist allerdings nicht auf eine Minderheitsregierung ausgerichtet. Bisher werden die meisten Gesetze im Vorhinein zwischen den Koalitionsparteien ausgehandelt.

Die Idee dahinter wären wechselnde Mehrheiten – je nach Gesetzes- oder Beschlussvorlage müsste die Regierung versuchen, genügend Abgeordnete im Bundestag dafür zu gewinnen. Auch wenn die SPD nicht in der Regierung vertreten wäre, könnte sie so Einfluss auf die Gesetzesbildung ausüben.

Doch durch die unsicheren Mehrheitsverhältnisse würden Verhandlungen erschwert und wären grosse Reformprogramme wohl nur schwer möglich.

 

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