Auch an den Kapitalmärkten im Nachbarland verlief der Jahresstart äusserst turbulent. Dennoch regiert weiterhin die Zuversicht, dass auch 2022 ein gutes Jahr für deutsche Aktien wird.
Was für ein Auftakt: An den ersten Handelstagen startete der Dax, das Leitbarometer an der deutschen Börse, noch gut ins Jahr, notierte am 6. Januar mit 16 271 Punkten nur etwas unter dem Rekordhoch von 16 290 vom vergangenen November. Doch seither geht es bergab. «Die Kurse fliegen einem nur so um die Ohren», sagt ein Börsenmakler. «So schnell kann kein Analyst seine Empfehlungen ändern.»
Und doch sind Experten im Grunde weiter optimistisch für den deutschen Aktienmarkt. Sie äussern sich allerdings vorsichtiger als noch Anfang vergangenen Jahres. «Der Dax sollte zum Jahresende höher stehen, auch wenn wir das Plus mit mehr Volatilität erkaufen», erklärt Dennis Etzel, Manager des Value Opportunity Fund. «Die Unsicherheitsfaktoren nehmen in Menge und Intensität zu.»
Der Mehrheit der Strategen rechnet für das laufende Jahr mit steigenden Kursen. So geht die DZ Bank beim Dax von einem Stand von 18 000 Zählern Ende 2022 aus. «Das mag viel erscheinen», erklärt Christian Kahler, Chefanlagestratege des Genossenschaftsinstituts. «Jedoch werden die Gewinnaussichten der Dax-Titel mit einem erwarteten Wachstum von 7% für dieses Jahr viel zu pessimistisch eingeschätzt.»
Auch M. M. Warburg und UniCredit (CRIN 13.17 +2.59%) sehen den Dax bei 18 000 zum Jahresende, die Deka-Bank rechnet mit 17 500. Einzig Bank of America (BAC 45.43 +1.98%) mimt den Contrarian und geht von einem Absacken auf 15 000 Punkte aus.
«Die Gewinnaussichten der Dax-Titel werden für dieses Jahr viel zu pessimistisch eingeschätzt.»
Christian Kahler
Chefanlagestratege DZ Bank
Auf den ersten Blick war 2021 schon kein schlechtes Jahr für deutsche Aktien. 16% legte der Dax zu, der im vergangenen Herbst um zehn Werte erweitert wurde. Er repräsentiert somit nun die vierzig grössten und liquidesten Unternehmen des deutschen Aktienmarktes. Diese Konzerne stehen für rund vier Fünftel des Börsenwerts aller deutscher Aktiengesellschaften. Der M-Dax, die fünfzig nächstgrossen deutschen Titel, beendete das vergangene Jahr mit einem Plus von 14%.
Doch im Vergleich zu den US-Börsen und auch zu anderen europäischen Märkten lief es in Deutschland nicht überragend. Von den europäischen Leitindizes hat vergangenes Jahr nur der spanische Ibex 35 schlechter abgeschnitten als der Dax. «Die Bewertung von Deutschland gegenüber dem Rest der Eurozone ist auf einem Dreissigjahrestief – und auch technisch sieht der Dax-40 ziemlich überverkauft aus», heisst es in einer nicht öffentlichen Analyse eines Wertschriftenhauses. Das bietet durchaus Chancen für Mutige.
Die neue Bundesregierung aus SPD, FDP und Grünen rechnet für 2022 mit einem Wirtschaftswachstum in Deutschland von 4,1%. Andere sind etwas skeptischer: Das Münchner Ifo-Institut geht von einem Plus in Höhe von 3,7% aus, der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) erwartet 3,5%. Die vierte Coronawelle hat das Land aktuell im Griff. Dazu kommen in weiten Teilen der Industrie die anhaltenden Probleme in der Lieferkette. Sorgen bereite vor diesem Hintergrund die Null-Covid-Strategie von China, erklärt Sven Streibel, Analyst der DZ-Bank. «Das Risiko von Unterbrechungen oder deutlichen Verzögerungen bei den globalen Lieferketten hat sich wieder erhöht.»
«Omikron legt die Wirtschaft in Industrieländern nicht lahm wie in den vorherigen Lockdowns.»
Joachim Schallmayer
Leiter Kapitalmärkte Deka-Bank
Andere sehen das Glas halb voll. «Spätestens ab Sommer wird die Börse Corona hinter sich lassen», sagt Alexander Dominicus, Fondsmanager des Mainfirst Top European Ideas und des Mainfirst Germany. Joachim Schallmayer, Leiter Kapitalmärkte und Strategie bei der Deka-Bank, zeigt sich noch optimistischer. An den Märkten dürfte die Lebensfreude viel früher als Sommer zurückkehren, «denn es ist zunehmend ersichtlich, dass Omikron die Wirtschaften der Industrieländern nicht wie in den vorangegangenen Lockdowns lahmlegt». Gleichwohl räumt er auch er ein Restrisiko «China» ein. So treten zwei Jahre nach Beginn der Pandemie wieder «normale» Sorgen in den Fokus: die um steigende Inflationsraten und um Zinserhöhungen.
Nur wenige rechnen aber mit ersten Zinsschritten der Europäischen Zentralbank (EZB) bereits in diesem Jahr – allein schon, weil sie die Stimmung vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ab Frühjahr im europäischen Mitgliedland Frankreich nicht verderben will.
Auf solche politischen Befindlichkeiten nimmt die Inflation keine Rücksicht. Um 3,1% haben sich die Preise im Schnitt vergangenes Jahr für die deutschen Verbraucher erhöht, so viel wie seit 1993 nicht. Treiber waren in erster Linie Energiepreise, leichtes Heizöl zum Beispiel hat sich 41% verteuert. «Die hohen Energiepreise könnten zum ernsthaften Problem für die verarbeitende Industrie werden – besonders, wenn die Flieger wieder abheben», sagt Fondsmanager Etzel.
Der deutsche Inflationsgipfel allerdings dürfte überschritten sein. «Wir rechnen mit rückläufigen Inflationsdaten», sagt Robert Greil, Chefstratege von Merck (MRK 79.46 +0.80%) (MRK 188.25 -0.92%) Finck. Das liege daran, dass die Preise im ersten Halbjahr 2020 aufgrund der deutschen Mehrwertsteuersenkung generell niedriger gewesen seien. Auch der Ölpreis lag im Pandemiejahr historisch tief. Für Anleger, die sich gegen die Gefahren der Inflation wappnen wollen, spricht ohnehin weiter nichts gegen die Börse. «Aktien sind eine gute Absicherung gegen Inflation, weil es sich um reale Werte handelt», sagt Fondsmanager Dominicus.
«Die hohen Energiepreise könnten zum ernsthaften Problem für die verarbeitende Industrie werden.»
Dennis Etzel
Manager Value Opportunity Fund
Zuletzt hätten deutsche Titel die Teuerung gut abgewettert, erklärt DZ-Bank-Stratege Kahler. Mit Blick auf die vergangenen vierzig Jahre seien deutsche Dividendenpapiere im Schnitt 6,1% pro Jahr gestiegen. «Die Unternehmen kommen mehrheitlich klar mit steigenden Preisen», sagt er. In Zukunft würden sie die Entwicklung noch besser verkraften, «weil die Welt digitaler und damit produktiver wird».
Für Dividendenpapiere werden nach zwei mageren Jahren neue Rekorderträge erwartet. «Die Dividendenausschüttungen kehren nicht nur auf das Vorkrisenniveau zurück, sondern werden es sogar sehr deutlich übertreffen», sagt Aktienmarktexperte Schallmayer. Sein Institut rechnet mit einem Sprung der Ausschüttungen um 12 Mrd. auf 43,6 Mrd. €.
Unter den Dax-Werten haben vergangenes Jahr der Pharma- und Laborzulieferer Sartorius (SRT3 435.60 -1.00%) mit einem Plus von 62%, der Industriekonzern Linde mit 57% sowie der Chemie- und Pharmakonzern Merck mit 53% am besten abgeschnitten. Die FuW-Favoriten konnten da nicht mithalten (vgl. Tabelle).
Für dieses Jahr sollten – da zeigen sich die Experten recht einig – deutsche Unternehmen mit Preissetzungsmacht gefragt sein, die nicht darauf angewiesen sind, neues Personal in Massen anzulocken, und die Lohnkosten relativ stabil halten können. «Branchenseitig bevorzugen wir Aktien aus den Bereichen Energie, Grundstoffe, Industrie, Pharma und zyklischer Konsum», so Deka-Bank-Stratege Schallmayer. FuW schickt für 2022 zehn neue Favoriten ins Rennen (vgl. Tabelle oben). Darunter finden sich für dieses Jahr überdurchschnittlich viele zyklische Unternehmen, die von einer Erholung der deutschen Wirtschaft und einer Rückkehr zu mehr Normalität profitieren sollten.
Bei diesen zehn deutschen Aktien sieht die FuW ein mögliches Potenzial:
Talanx: Solide versichert in zweiter Reihe
Nach Allianz (ALV 220.05 +1.59%) und Münchener Rück (MUV2 265.60 +1.90%) ist Talanx gemessen am Volumen der Bruttoprämien die drittgrösste deutsche Versicherung. Der grösste Nachteil: Nur 21% der Aktien befinden sich im Streubesitz, 79% liegen in den Händen des HDI (Haftpflichtverband der Deutschen Industrie). Positiv dagegen: Am Rückversicherer Hannover Rück hält Talanx 50,2%. Für 2022 plant die Gruppe einen Prämienzuwachs im mittleren einstelligen Prozentbereich. Die Titel weisen eine Dividendenrendite von mehr als 4% auf.
Thyssenkrupp: Industrieperle wird aufpoliert
ThyssenKrupp (TKA 8.9360 +1.71%), einst Perle des Industriestandorts Deutschland, hat an Glanz verloren und befindet sich seit Jahren im Umbau. Der ist noch immer nicht abgeschlossen, in diesem Jahr könnten aber wichtige Entscheidungen fallen. So soll das Wasserstoffgeschäft an die Börse gebracht werden. Die Abspaltung der Stahlaktivitäten steht weiter zur Diskussion. Auch das Marinegeschäft steht auf dem Prüfstand. Gelingen die Pläne wenigstens teils, könnte das den Aktien Auftrieb verleihen
Ströer: Mehr Werbung in normaler Zeit
Die Ströer-Aktie ist die etwas andere Wette auf die Renaissance der deutschen Wirtschaft nach der Pandemie. Das Kölner Unternehmen ist stark in der Vermarktung von Aussen- und Online-Werbung. Es betreibt unter anderem die deutsche Version des Internetportals Watson. Schon bei Zahlen zum dritten Quartal war eine deutliche Erholung zu sehen. Derzeit prüft das Management den Verkauf seiner Beteiligung am Online-Kosmetikhändler Asambeauty. Das sollte für weitere Fantasie sorgen.
Fraport: Eine Wette auf Reisefreude
Die Pandemie, verbunden mit weltweiten Lockdowns, hat Fraport (FRA 61.24 +1.93%) als Betreiber des wichtigsten deutschen Luftdrehkreuzes so hart getroffen wie die Fluggesellschaften. Der Staat musste zeitweise sein Überleben sichern. Im vergangenen Jahr ging es bergauf, 25 Mio. Passagiere flogen über Frankfurt, ein Drittel mehr als 2020 – aber zwei Drittel weniger als vor der Pandemie. Wenn die Reisefreude zurückkehrt, dürften die Aktien zu den Gewinnern gehören.
Commerzbank: Ein mögliches Übernahmeziel
Die deutschen Banken, so hat es den Anschein, sind ein andauernder Sanierungsfall. Die Commerzbank (CBK 7.4230 +4.27%), das drittgrösste Institut, bildet keine Ausnahme. Erst diese Woche wurde bekannt, dass das Ergebnis wegen des Umgangs mit Frankenkrediten seitens der polnischen Tochter belastet wird. Für das abgelaufene Jahr sollen trotzdem schwarze Zahlen anfallen. Vom Zinsumfeld dürfte die Bank ebenso profitieren. Beobachter halten zudem eine Übernahme des Instituts für möglich.
Deutsche Börse: Starker Spieler mit Ambitionen
Die Deutsche Börse (DB1 155.70 -2.78%) entwickelt Handelsplattformen, ist Betreiberin der Frankfurter Wertpapierbörse und steht hinter der Dax-Familie, in deren Leitindex sie mit ihren Aktien vertreten ist. Das Unternehmen agiert in einem Oligopol mit wenigen Rivalen. Von der höheren Volatilität an den Kapitalmärkten sollte die Deutsche Börse in Teilen profitieren. Das langjährige Management strebt ein Umsatzwachstum von mindestens 5% an. Es will zudem weitere Marktanteile gewinnen.
BASF: Früh auf eine Erholung setzen
Als Chemiekonzern gehört BASF (BAS 65.33 +1.67%) zu den frühzyklischen Unternehmen und profitiert somit als eine der ersten von einer Konjunkturerholung. Allein, die Erholung fiel 2021 schwächer aus als von vielen erhofft. Eine Menge Kunden von BASF litten vergangenes Jahr unter dem Mangel an Chipkomponenten. Von einer Normalisierung jedweder Art sollte das Ludwigshafener Unternehmen 2022 überproportional profitieren. Zudem rentieren die BASF-Papiere dank hoher Dividende mit beinahe 5%.
Dürr: Neuer CEO führt in neue Sphären
Die Wurzeln des schwäbischen Maschinen- und Anlagenherstellers Dürr (DUE 37.24 -0.11%) reichen ins 19. Jahrhundert. Das Unternehmen ist mit der Zeit gegangen. Mehr als die Hälfte des Umsatzes kommt aus dem Automobilsektor, ein Drittel über Möbelproduzenten, der Rest aus übrigen Industrien. Seit Anfang Jahr leitet Jochen Weyrauch das Unternehmen als CEO. Er kennt Dürr, gehört er doch seit 2017 dem Vorstand an. Weyrauch dürfte Dürr strategisch weiterentwickeln und neue Felder erschliessen, etwa in der Medizin.
Infineon: Hightech für Zukunftsthemen
Die Sektorrotation hat auch Infineon (IFX 34.70 +1.21%) voll erwischt. Seit Anfang Jahr liegen die Papiere des Chipherstellers mehr als 10% im Minus. Das ist klar übertrieben. Zum einen profitiert der Konzern aus der Nähe von München weiter von der Chipknappheit. Das stärkt seine Preissetzungsmacht. Zum anderen beschäftigen sich die Ingenieure von Infineon mit Zukunftstechnologien, von erneuerbaren Energien bis zu selbstfahrenden Autos. Der Umsatz sollte in den kommenden Jahren mehr als 10% jährlich steigen.
Krones: Vom weltweiten Durst profitieren
Der Verpackungsspezialist Krones (KRN 86.55 +1.94%) gilt unter anderem als weltweit grösster Hersteller von Getränkeabfüllanlagen. Der Mittelständler ist stark exportorientiert. 90% des Umsatzes erwirtschaftet er ausserhalb des deutschen Heimatmarktes. Während der Pandemie wurde zwar mehr getrunken, die Kunden von Krones schoben Investitionen in neue Anlagen jedoch auf. Dieser Investitionsstau sollte sich lösen. Das Auftragsbuch von Krones ist schon so prall gefüllt wie vor der Wirtschaftskrise.
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