David Kostin, Chef-US-Aktienstratege von Goldman Sachs, ist zuversichtlich für die Aktienmärkte. Die grössten Chancen sieht er bei Finanz- und Industrietiteln.
Der US-Aktienmarkt dürfte den Anlegern noch bis mindestens Ende 2020 Freude bereiten. Das zumindest ist die Einschätzung von David Kostin, dem Chef-US-Aktienstrategen von Goldman Sachs (GS 258.987 -0.97%). Für dieses Jahr traut er dem Leitindex S&P 500 ein Plus von etwa 5% zu. Das erfreuliche Wachstum der Weltwirtschaft und der zusätzliche Rückenwind der amerikanischen Steuerreform lassen die Unternehmensgewinne sprudeln, sodass die Kurse trotz hoher Bewertung noch zulegen können.
Herr Kostin, die Börsen haben sich 2017 fantastisch entwickelt. Geht es so weiter?
Wir prognostizieren, dass der US-Aktienmarkt bis 2020 weiter steigen wird – wenn auch mit weniger Schwung als bis anhin. Vom Niveau von Anfang Jahr aus erwarten wir einen jährlichen Zuwachs von rund 5%. Dank des guten Jahresstarts ist das Potenzial für 2018 damit beschränkt. Unser Kursziel für den S&P 500 (SP500 2836.6 0.13%) bis Ende Jahr liegt bei 2850, bis Ende 2019 bei 3000 und im Jahr 2020 bei 3100.
Wird die Luft nicht langsam dünn?
Entscheidend ist, dass der Kursanstieg durch höhere Gewinne und nicht durch eine Bewertungsexpansion zustande kommt. Es ist unwahrscheinlich, dass das Kurs-Gewinn-Verhältnis des S&P 500 von heute rund 18 weiter steigen wird.
Sehen Sie keine Gefahr, dass die Bewertungen fallen – sie sind ja bereits sehr hoch.
Zu einer Korrektur kann es jederzeit kommen. Aber es ist wahrscheinlicher, dass die Bewertung auf dem aktuellen Niveau verharrt. Man muss zwischen taktischem und strategischem Risiko unterscheiden. Aus taktischer Sicht sind fast vierhundert Handelstage seit dem letzten 5%-Rückgang vergangen. Das ist eine der längsten Zeitperioden ohne nennenswerte Korrektur – das ist höchst ungewöhnlich. Taktisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit eines Kursrückgangs also hoch.
Sollten Käufer demnach zuwarten? Zumal das von Ihnen prognostizierte Kurspotenzial nicht mehr besonders hoch ist.
Das ist eine Frage des Timings. Wer weiss, wann es zum Rückschlag kommt? Es könnte sechs Monate dauern, oder noch ein Jahr. Die Märkte könnten aber auch morgen einbrechen. Die Erfahrung der vergangenen Jahre lehrt, dass das Warten auf einen guten Einstiegszeitpunkt sehr schwierig sein kann. Anleger, die auf einen Kursrückgang spekulieren, warten seit über vierhundert Handelstagen – in dieser Zeit haben die Börsen kräftig zugelegt.
Die Gefahr, Performance aufzugeben, ist also ebenfalls beträchtlich?
Genau. Es gibt zwei Vorgehensweisen: Man ist strategisch in Aktien positioniert und fragt sich, wie sich die Märkte in den nächsten Jahren entwickeln werden. Dabei lässt man sich weniger von taktischen Überlegungen – wie etwa einer möglichen Korrektur – leiten. Strategisch gesehen ist es sinnvoll, heute investiert zu sein.
Und die zweite Strategie?
Wer das taktische Risiko stärker gewichtet, sollte seine Aktienpositionen mittels Optionen absichern. Das ist momentan günstig umzusetzen, da die Volatilität ungewöhnlich niedrig ist. Das wäre der effektivere Ansatz, als sich ganz vom Markt zurückzuziehen, im Glauben, den optimalen Wiedereinstieg zu erwischen.
Das Bärenmarktrisiko schätzen Sie als gering ein. Wie wahrscheinlich ist eine Beschleunigung der Aktienkurse nach oben?
Es gibt Marktteilnehmer, die auf dieses Melt-up-Szenario spekulieren. Damit ist gemeint, dass sich die Bewertungen noch kräftiger ausweiten – vom heutigen vorwärtsgerichteten Kurs-Gewinn-Verhältnis von 18 auf 19, 20 oder sogar noch höher. Die Kombination von steigenden Gewinnen und höheren Bewertungen führt zum Melt-up. Wir erwarten jedoch keine Bewertungsexpansion.
Aber die Möglichkeit einer Beschleunigung der Kursgewinne besteht?
Ein Melt-up ist möglich. Dazu aber müsste eine zusätzliche Nachfrage nach Aktien ausgelöst werden, etwa bei den Unternehmen, die dank der fallenden Steuern vermehrt eigene Titel zurückkaufen. Oder Privatanleger schichten einen grösseren Teil ihres Vermögens in Aktien um. Einer höheren Bewertung dürften indes die von uns erwarteten steigenden Zinsen im Weg stehen. Deshalb dürfte sich das KGV in diesem Jahr nicht gross verändern.
Wie stark werden denn die Zinsen steigen?
Unser Chefökonom Jan Hatzius erwartet vier Zinsschritte der US-Notenbank Fed in diesem und weitere vier im nächsten Jahr. An den Terminmärkten sind jedoch nur zwei Schritte für 2018 und einer für 2019 eingepreist. Unsere Prognose weicht also klar vom Marktkonsens ab.
Und die langfristigen Zinsen?
Dort erwarten wir einen Anstieg von 50 Basispunkten für dieses Jahr. Die Rendite auf 10-jährige US-Staatsanleihen wird also von heute rund 2,5% auf 3% steigen. Ende 2019 dürften die Zinsen dann die Marke von 3,5% erreicht haben. Die Zinskurve wird sich also weiter verflachen.
Was sind die Konsequenzen für die Börse?
Erstens sollten Anleger Wachstums- gegenüber Substanzwerten bevorzugen. Wenn die Zinskurve flacher wird, schneiden Unternehmen, die kräftig wachsen, typischerweise besser ab als Value-Titel. Erst wenn sie steiler wird, schlägt die Stunde der Value-Aktien. Zweitens belasten höhere Zinsen die Risikoprämien leicht, was konsistent ist mit unserer S&P-500-Prognose von 2850.
Sie sagten, die Märkte profitieren von steigenden Gewinnen. Woher kommt das Profitwachstum?
Die meisten Unternehmen steigern ihren Umsatz ungefähr im Gleichschritt mit der nominalen Wirtschaftsleistung. Das US-Realwachstum für 2018 schätzen wir auf rund 2,7%. Hinzu kommt die Inflation von 1,5 bis 2%, was einen nominalen Zuwachs von etwa 4,5% ergibt. Für die meisten Gesellschaften dürfte der Umsatz in diesem Rahmen zulegen. Etwa 30% des Umsatzes kommt von ausserhalb der USA. Dort ist das Wachstum – und die Inflation – leicht höher. Aber klar ist: Die Unternehmen verkaufen mehr, weil die Wirtschaft zulegt.
Ebenfalls wichtig sind die Gewinnmargen – und die sind bereits hoch.
Die Margen sind zwar sehr hoch, aber dank der Steuerreform ist eine weitere Ausweitung durchaus möglich. Hinzu kommt der anhaltende Rückenwind von Aktienrückkäufen durch die Firmen, die zu höheren Gewinnen pro Aktie führen.
Wie stark wachsen die Gewinne konkret?
Diese drei Komponenten – Konjunktur, Margen und Aktienrückkäufe – sollten eine Gewinnsteigerung von 14% erlauben. 9% sind organisches Wachstum, die übrigen 5% resultieren von den niedrigeren Steuern. Deshalb können die Börsen zulegen, ohne dass die Bewertungen noch höher werden. 2019 dürfte sich das Gewinnwachstum auf 5% abschwächen.
Die US-Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit ist mittlerweile bei tiefen 4%. Werden nicht höhere Löhne die Margen schmälern?
Das ist der Grund, warum eine Margenerhöhung möglich ist. Die Unternehmen können die dank der Steuerreform anfallenden Zusatzgewinne unterschiedlich verteilen. Ein Teil der Einsparungen könnte direkt in die Bottom Line fliessen. Das Management kann aber auch mehr investieren oder die Löhne erhöhen.
Wie bei Wal-Mart (WMT 105.5579 0.1%) geschehen?
Genau, oder bei AT&T (T 37.3964 -1.25%) oder Comcast (CMCSK 58 -2.83%). Diverse Gesellschaften haben angekündigt, ihren Angestellten wegen der Steuerreform höhere Löhne zu bezahlen. Die Gewinne steigen also nur dann um die von uns geschätzten zusätzlichen 5%, wenn das Management den gesamten Betrag an die Aktionäre weitergibt. Bezahlt es höhere Löhne, steigen die Gewinne etwas weniger stark.
Nicht alle Unternehmen dürften gleichermassen von der Steuerreform profitieren. Welches sind die Gewinner?
Am stärksten profitieren werden Unternehmen, die ihren Umsatz primär im amerikanischen Heimmarkt erzielen. Dazu gehören etwa Vertreter des Telecomsektors, der 96% in den USA umsetzt.
Wer verliert?
Die IT-Konzerne, die rund 60% im Ausland umsetzen, werden nicht so stark profitieren, die Reform könnte gar einen negativen Effekt haben. Denn es gibt einen Mindeststeuersatz, der auf den im Ausland erzielten Einnahmen angewendet wird. Allerdings ist es sehr schwierig, die Konsequenzen für jedes einzelne Unternehmen abzuschätzen. Generell gilt aber: Je stärker auf den Binnenmarkt orientiert ein Unternehmen ist, desto vorteilhafter ist die Steuerreform.
Büsst der IT-Sektor somit seine Führungsposition ein?
Das scheint eine vernünftige Annahme – wir haben den Sektor jüngst auf neutral herabgestuft. Allerdings sind wir vorsichtiger bei den Sektoren, die wegen ihrer hohen Dividendenrenditen von Anlegern als Anleihenersatz angesehen werden, wie etwa Versorger oder Immobilien. Aber auch die Konsumsektoren könnten dank steigender Zinsen unter Druck geraten.
Welche Sektoren sind am attraktivsten?
Wenn wir das gesamte Umfeld berücksichtigen – und nicht nur den Steueraspekt – sollten Anleger Finanz- und Industriewerte bevorzugen. Zusammen machen sie rund 25% der gesamten US-Marktkapitalisierung aus.
Was spricht für diese Branchen?
Steigende Zinsen und Deregulierung sprechen für Finanzwerte. Das Fed hat die Pläne der Banken, überschüssiges Kapital mittels Dividenden und Aktienrückkäufen an die Aktionäre auszuschütten, abgesegnet. Mit dieser Massnahme werden die Eigenkapitalrenditen der Banken steigen.
Was heisst das für die Ausschüttungen?
Für dieses Jahr gab das Fed grünes Licht für eine Zunahme der Aktienrückkäufe um 57% und der Dividenden um 20%. Insgesamt werden die Banken ihre Ausschüttungen von 92 Mrd. auf 132 Mrd. $ ausweiten – ein Plus von 40 Mrd. $! Das sind sehr gute Aussichten für die Aktionäre.
Weshalb sind Industrietitel interessant?
In den vergangenen Jahren wurden Unternehmen belohnt, die Kapital an ihre Aktionäre zurückführten. Ihre Aktienkurse entwickelten sich überdurchschnittlich, während Gesellschaften, die in künftiges Wachstum investierten, zurückblieben.
Und das hat sich nun geändert?
Das hat sich dramatisch geändert. Endlich werden Unternehmen, die ihre Kapazitäten ausbauen, mit einer besseren Kursentwicklung belohnt. Dieser Trend dürfte anhalten, denn wie erwähnt kommt das künftige Gewinnwachstum von steigendem Umsatz. Und welche Unternehmen werden ihren Umsatz in den nächsten Jahren steigern? Diejenigen, die heute investieren. Davon – und natürlich von der insgesamt robusten Weltwirtschaft – profitiert der Industriesektor.
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