Es fragt sich, wo der lange vorausgesagte Zinsumschwung bleibt. Effektiv hat es ihn gegeben, aber in die falsche Richtung.
Etwas ketzerisch liesse sich anmerken, dass es die Zinswende tatsächlich gegeben hat, nur ganz anders, als viele das erwartet hatten. Denn die Zinsen sind nicht deutlich gestiegen, wie viele Sparer es sich sehnlichst wünschen, sondern weiter gefallen. Eine Wende, ja gewiss, nur in die falsche Richtung – aber warum?
Zunächst hatte die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) signalisiert, dass sie die 2019 geplanten Zinserhöhungen streichen werde. Ausserdem wollen die Notenbanker im Herbst den Abbau der gewaltigen Notenbankbilanz stoppen. Es dauerte nicht lange, und die Europäische Zentralbank zog nach. EZB-Chef Mario Draghi verschob die noch für dieses Jahr erhoffte Zinserhöhung – es wäre die erste seit der Finanzkrise gewesen – auf 2020.
Denksportaufgabe Zinskurve
Frühestens. Draghi wird dann nicht mehr im Amt sein; er geht noch dieses Jahr, im Oktober. Sein Nachfolger wird dann darüber befinden müssen, ob die Null- und Negativzinsen in der Eurozone weiter Bestand haben sollen oder nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ersteres zutreffen wird, dürfte gross sein.
Die Auswirkungen der letzten Notenbanksitzungen haben sich an den Märkten schnell gezeigt: Die Rendite von US-Staatsanleihen mit einer Laufzeit von zehn Jahren fiel seit dem Hoch im vergangenen Oktober um 0,9 Prozentpunkte auf nur noch 2,33%. Auch andernorts rutschen die Renditen der zehnjährigen Staatsanleihen: In der Schweiz bis auf –0,47% und auch in Deutschland wieder unter die Nulllinie, auf –0,13%.
Die Kommentatoren, auch viele von denjenigen, die vor kurzem noch lauthals die Zinswende ausgerufen hatten, waren sich schnell einig: Die Zinsen werden wohl noch lange niedrig bleiben. Von einem Anstieg keine Rede mehr.
Warum? Das globale Wachstum schwächelt. In den USA zeigt sich obendrein beim Blick auf die Zinsstrukturkurve ein interessantes Phänomen: Zeitweise rentierten US-Staatsanleihen mit langen Laufzeiten unter dem Niveau von kurzfristigen Staatstiteln. In diesem Fall spricht man von einer inversen Zinsstrukturkurve – ein klares Indiz dafür, dass Anleiheinvestoren die Wachstumsaussichten pessimistischer einschätzen. Doch damit nicht genug: Eine inverse Zinsstrukturkurve war in der Vergangenheit häufig Hinweis auf eine bevorstehende Rezession.
Ob die Zinsstrukturkurve als verlässlicher Rezessionsindikator taugt, werden die kommenden zwölf Monate zeigen. In vielen Berichten wird genau das fälschlicherweise behauptet. Zwar ging in den vergangenen vierzig Jahren jeder US-Rezession eine inverse Zinskurve voraus; jedoch folgte nicht jeder inversen Zinskurve auch eine Rezession.
Rezession ohne Börsenbaisse
Volkswirte definieren eine Rezession als Zeitraum von mindestens zwei aufeinander folgenden Quartalen mit negativen Wachstumsraten. Rein technisch betrachtet reicht also schon ein winziger Rückgang der realen Wirtschaftsleistung von jeweils 0,1% aus. Eine solche Rezession spüren die Menschen nicht, sondern lesen von ihr in der Zeitung, wenn sie schon wieder vorbei ist.
«Echte» Rezessionen sind von anderem Kaliber. Sie führen zu steigender Arbeitslosigkeit und fallenden Unternehmensgewinnen. Die Zahl der Insolvenzen legt kräftig zu. Investitionen und Konsum brechen ein. Gute Beispiele dafür sind die Rezessionen 2008 und 2001. Viele jüngere Marktteilnehmer kennen nur noch diese beiden und verbinden deshalb eine Rezession automatisch mit einem Einbruch an den Aktienmärkten. Das muss aber nicht der Fall sein, wie die US-Rezession Anfang der Neunzigerjahre gezeigt hat. Damals war der US-Aktienmarkt kaum betroffen – vielmehr konnte er während der Rezessionsphase deutlich zulegen.
So bleibt immerhin der Euro
Auch die niedrige Inflation in den westlichen Industrieländern, die immer noch kein Heisslaufen der Wirtschaft vermuten lässt, spricht gegen einen klassischen Boom-Bust-Zyklus. Die tiefen Zinsen haben zwar die Preise von Vermögenswerten – Immobilien oder Aktien – in die Höhe getrieben, aber eben keine nennenswerten Preissteigerungen oder massive Überkapazitäten in der Realwirtschaft bewirkt.
An unserem Weltbild hat sich deshalb nichts verändert: Die Wirtschaft wächst auf Sicht, aber eben nur noch moderat. Gewaltige Schuldenberge, die Alterung in den Industriegesellschaften und Strukturprobleme in bedeutenden Schwellenländern dämpfen die globale Konjunktur. Wir sollten uns deshalb von den zum Teil kräftigen Wachstumsraten der Vergangenheit verabschieden.
Die Folge sind dauerhaft niedrige Zinsen. Insbesondere in Europa müssen sie niedrig sein, damit die hoch verschuldeten Staaten ihre Kredite bedienen können. Nur dann hat der Euro Bestand, zumindest für eine Weile.
Sachwerte haben Vorrang
Wer auch immer im Oktober das Amt von EZB-Chef Draghi übernehmen wird, trägt deshalb eine schwere Bürde. Nach einer langen, aber flachen Expansionsphase droht der Wirtschaftsaufschwung zu erlahmen. Da das Zinsniveau auf absoluten Tiefstwerten liegt, ist die Manövriermasse der EZB gering. Sollte sich die Schuldenkrise in der Eurozone verschärfen, könnte die EZB ihr Anleihenkaufprogramm wieder aufnehmen, um kriselnde Euroländer zu stützen.
Ob sich dieses Spielchen immer weiter fortführen lässt, ist mehr als fraglich. Die hochverschuldeten Euroländer haben die Zeit, die ihnen die EZB mit ihrer Tiefzinspolitik gewährt hat, weitgehend ungenutzt verstreichen lassen. Daran wird sich angesichts der politischen Entwicklung in vielen Ländern auch künftig nur wenig ändern. Die herbeigesehnte Zinswende in Europa kommt nicht, weil sie nicht kommen darf. Sie bleibt auch nach Jahren des Aufschwungs eine Fata Morgana.
Anleger, die die Kaufkraft ihres Vermögens erhalten wollen, sollten deshalb vor allem in erstklassige, liquide Sachwerte investieren. Aktien von sehr guten Unternehmen, aber auch Gold (Gold 1283.59 -0.38%) als Versicherung gegen die immanenten Risiken des Finanzsystems sind erste Wahl, ergänzt durch einen gewissen Anteil opportunistisch bewirtschafteter Obligationen.
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