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17:20 Uhr - 12.10.2015

Angus Deaton: Jeder Verbraucher zählt

Das schwedische Nobelpreiskomitee ehrt dieses Jahr einen Ökonomen, der zeigt, wie wichtig es ist, das Konsumverhalten jedes Einzelnen zu analysieren, um gesamtwirtschaftliche Aussagen treffen zu können.

Der 69-jährige Schotte Angus Deaton erhält den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine bahnbrechende Forschung über das Konsumverhalten und die Messung von Konsumausgaben. Deaton ist durch seine empirischen Arbeiten bekannt geworden. Er lehrt seit Anfang der Achtzigerjahre in den USA an der Universität Princeton. Sein zweites berufliches Zuhause stellt seit ebenso langer Zeit die Weltbank in Washington dar. Er trug dort wesentlich zur Lancierung und Verbesserung der Messung des Lebensstandards in den Entwicklungsländern bei, der sogenannten World Bank Living Standard Measurement Survey.

Durch den Aufbau von Datenreihen über die Ausgaben von Privathaushalten für einzelne Güter schuf er den Grundstein, um mehr über das Ausmass und die Merkmale von Armut zu erfahren. Ausgaben lassen sich leichter statistisch erfassen und sind verlässlicher als direkt ermittelte Einkommensstatistiken. Sie lassen aber Schlussfolgerungen über die Einkommensentwicklung und letztlich das Sparverhalten zu.

Der Teufel liegt hierbei im Detail. Wie lässt sich Armut länderübergreifend messen, wenn in den einzelnen Ländern verschiedene Güter konsumiert werden, deren Preise oder Qualität nicht vergleichbar sind? Deaton entwickelte Methoden, um Stückpreise zu ermitteln, wenn lokale Preisdaten nicht verfügbar sind. Er half dabei, statistische Fehler in der Messung der Armutsgrenze auszumerzen, ebenso fand er den richtigen Ansatz, um besser die Ursachen erforschen zu können, warum Länder in die Armutsfalle geraten und warum sich die Geschlechterdiskriminierung in vielen Ländern ausbreitet. Deatons methodischer Ansatz erwies sich als überragend: Er blickt auf das individuelle Verhalten, sucht nach Erklärungen und aggregiert sie dann zu Durchschnitten, die empirischen Tests standhalten.

«Ein beinahe ideales Nachfragesystem»

Das Nobelpreiskomitee würdigt auch zwei weitere Beiträge zur wirtschaftswissenschaftlichen Forschung: das von ihm zusammen mit John Muellbauer 1980 entwickelte System, um die Nachfrage nach unterschiedlichen Gütern zu schätzen, und die rund zehn Jahre später verfassten Studien über die Verbindung zwischen Konsum und Einkommen.

Nachfragesysteme sind ökonomische Gleichungen, die zu erklären versuchen, wie die Nachfrage nach einem bestimmten Gut entsteht. Sie hängt vom Einkommen, vom Preis oder von soziodemografischen Faktoren ab. Vor Deaton/Muellbauer gelang es nicht, mit den vorhandenen Werkzeugen Änderungen der Nachfrage korrekt vorherzusagen, wenn der Preis oder das Einkommen sich änderten. Plante eine Regierung, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, tappte sie, was die wirtschaftlichen Folgen dieser Massnahme betraf, im Dunkeln.

Dank Deaton/Muellbauer hat sich das geändert. «Die Herausforderung bestand darin, ein ausreichend allgemeingültiges System zu errichten, das ein verlässliches Bild der Nachfragefaktoren einer Gesellschaft lieferte, aber ebenso einfach statistisch geschätzt und eingesetzt werden konnte», schreibt das Nobelpreiskomitee. Deatons/Muellbauers Nachfragesystem löste fast alle Probleme. Es ging als «An Almost Ideal Demand System» in die Wissenschaftsgeschichte ein. Der 1980 in der «American Economic Review» veröffentlichte gleichnamige Artikel zählt zu den zwanzig einflussreichsten Beiträgen, die in den ersten hundert Jahren der Zeitschrift erschienen sind. Das Nachfragesystem ist heute, nach 35 Jahren und zahlreichen Verfeinerungen und Verbesserungen, immer noch Standardwerkzeug in der wirtschaftspolitischen Forschung.

Das Deaton-Paradox

Deaton räumte auch mit dem Konzept des repräsentativen Verbrauchers auf. Es handelt sich um eine von vielen Vereinfachungen, die sich die ökonomische Theorie zu eigen macht. Milton Friedmans Hypothese des permanenten Einkommens beispielsweise lag diese Annahme zugrunde. Deaton wies nach, dass ein unerwarteter Anstieg des gesamtwirtschaftlichen Einkommens häufig von weiteren Einkommenssteigerungen in den folgenden Jahren begleitet wird. Ein rationaler repräsentativer Verbraucher müsste angesichts dieser Erwartung schon jetzt mehr konsumieren, sodass die Konsumnachfrage im ersten Jahr stärker steigt als das Einkommen. Deaton belegte den Zusammenhang empirisch. Aber die Ergebnisse widersprachen der damals vorherrschenden Theorie, wonach die Verbrauchsausgaben weniger schwanken als die Einkommen. Die Wissenschaft sprach vom Deaton-Paradox.

Die Lösung bestand darin, die individuellen Einkommens- und Ausgabenniveaus zu untersuchen, bevor sie zu einem Durchschnitt aggregiert werden. Deatons Einsichten prägten die moderne wirtschaftswissenschaftliche Forschung, schreibt das Preiskomitee. «Vor ihm konzentrierten sich Ökonomen wie Keynes auf die aggregierte Nachfrage. Heute beginnen Wissenschaftler beim individuellen Verhalten, selbst wenn sie beabsichtigen, Beziehungen auf makroökonomischer Ebene zu untersuchen.»

Deaton wurde am Montag bereits bei der Verkündung der hohen Auszeichnung vom Nobelpreiskomitee telefonisch zugeschaltet. Er zeigte sich hoch erfreut und wies auf die vielen offenen Fragen hin, die in seinem Forschungsgebiet noch gelöst werden müssten. Er selbst trägt weiter dazu bei. Allein in diesem Jahr hat er vier Beiträge in wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert. Seine Aufgabe verstehe er nach wie vor darin, hat sich der Ökonom kürzlich in einem Referat geäussert, Rätsel und Paradoxe zu lösen.

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