Rolf Strauch, Chefökonom des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, erklärt, dass ohne seine Institution der Euroraum heute nicht mehr bestehen würde.
Sorgen über den Gesundheitszustand der Eurozone sind in den Hintergrund getreten. Dennoch ist der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM, der als Antwort auf die Eurokrise geschaffen wurde, eine bleibende Institution geworden. Der ESM ist aus den Finanzierungsprogrammen EFSF und EFSM hervorgegangen und soll ins Straucheln geratene Euromitgliedländer mit günstigen Krediten versorgen. Rolf Strauch, der Chefökonom des ESM, äussert sich im Gespräch mit der «Finanz und Wirtschaft» über globale Sicherheitsmechanismen, die Konvergenz innerhalb der Eurozone und ein zukünftiges gemeinsames europäisches Finanzministerium.
Herr Strauch, ist die Krise der Eurozone vollständig überwunden?
Um diese Frage zu beantworten, muss man weiter ausholen. Wir schauen auf einige Jahre konjunktureller Erholung zurück, die inzwischen breit abgestützt ist. Das Wachstum wird heute nicht nur vom Binnenkonsum, sondern auch von steigenden Sachinvestitionen und den an Fahrt gewinnenden Exporten angetrieben. Schwere interne und externe Ungleichgewichte, die zur Krise geführt hatten, sind überwunden worden. Das trifft insbesondere auf die Zahlungsbilanzdefizite zu.
Wäre damit nicht der Moment gekommen, die als Antwort auf die Krise etablierten Institutionen wie den ESM abzuschaffen?
Der ESM, der gerade seinen fünften Geburtstag gefeiert hat, ist eine permanente Institution. Eine Lehre, die aus der Eurokrise gezogen werden kann, ist, dass es ohne den ESM heute keine gemeinsame europäische Währungszone mehr gäbe. Geldpolitische Massnahmen allein waren zur Aufrechterhaltung der Stabilität der Eurozone ungenügend. Die Geldpolitik ist von grenzüberschreitenden Mechanismen wie etwa einer verbesserten wirtschaftspolitischen Koordinierung, der Bankenunion und eben dem ESM ergänzt worden. Ohne die Strukturreformen und die Finanzprogramme für Krisenländer wäre die Krise nicht gemeistert worden.
Aber sendet der ESM damit nicht das Signal an den Finanzmarkt aus, dass es scheinbar risikofreie Anlagen gibt?
Nein, eine solche Sicht der Dinge würde den Zweck des ESM verkennen. Der ESM kombiniert einerseits den Ansatz des Internationalen Währungsfonds IWF und andererseits die spezifischen Bedürfnisse der Eurozone. Durch den IWF-Ansatz können in Not geratene Mitglieder mit Überbrückungskrediten gestützt werden. Zusätzlich können wir auch flexibel auf die spezifischen Bedürfnisse reagieren, wie das etwa in Bezug auf den spanischen Bankensektor der Fall war. Parallel dazu vergeben wir langfristige Kredite zu günstigen Konditionen, was den Ländern fiskalischen Freiraum gibt. Selbstverständlich muss all das immer auch von Strukturreformen begleitet sein.
Ist der ESM damit nicht im Geheimen so etwas wie ein europäisches Finanzministerium geworden?
Nein, absolut nicht. Der ESM ist in erster Line ein Rettungsmechanismus, also etwas ganz anderes als ein auch in Zeiten der Ruhe normal arbeitendes Finanzministerium. Aktuell gibt es eine Diskussion, ob mit dem Ziel einer Vertiefung der Eurozone nicht auch der Posten eines gemeinsamen Finanzministers geschaffen wird. Aber das ist ein längerfristiges Projekt, und die Mitgliedstaaten müssten erst der Idee an sich zustimmen, bevor die mögliche Rolle des ESM in diesem Zusammenhang diskutiert wird.
Zynische Stimmen meinen, dass der ESM nicht in erster Linie zur Rettung Griechenlands, sondern deutscher und französischer Banken geschaffen wurde.
Man kann immer zynisch sein. Ich kann nur sagen, dass wir mit der Stabilität der Eurozone ein klares Mandat haben. Alle Staaten haben dem zugestimmt. Das zeigt klar, dass der ESM das allgemeine Interesse des Euroraums verfolgt.
Als Antwort auf die Asienkrise ist die Chiang-Mai-Initiative zustande gekommen, in der die zehn Asean-Staaten sowie Japan, China und Südkorea sich gegenseitig mit Finanzreserven zur Seite stehen. Sehen Sie hier Gemeinsamkeiten mit dem ESM?
Die beiden Krisen und die darauf folgenden Antworten können nicht wirklich miteinander verglichen werden. Regionale Finanzierungsvereinbarungen gibt es nicht nur in Europa und Asien, sondern auch in anderen Regionen der Welt. Sie sind alle auf die Bedürfnisse und die Krisenerfahrungen der jeweiligen Region zugeschnitten und sind Teil eines globalen Sicherheitsnetzes.
Ein asiatischer Währungsfonds ist vor zwei Jahrzehnten am Widerstand der USA gescheitert. Untergraben regionale Devisenpools nicht den immer noch von den USA dominierten IWF?
Nein, denn das globale Sicherheitsnetz ist nicht nur vielschichtig, sondern vor allem gegenseitig komplementär. Der IWF steht im Zentrum des globalen Sicherheitsnetzes, kann die Aufgabe aber nicht allein bewältigen. Das zeigt sich etwa daran, dass der ESM im Zuge der Eurokrise mehr als zweieinhalb so viel Kredit erteilt hat wie der IMF im selben Zeitraum auf globaler Ebene. Gleichzeitig gibt es eine enge Zusammenarbeit der regionalen Finanzierungsmechanismen und des IWF.
Wie äussert sich das?
Der IWF hat in einem jüngst veröffentlichten Papier die Institutionalisierung der Zusammenarbeit konzipiert, und wir vom ESM befürworten dies klar. Die aktuelle Diskussion über einen Europäischen Währungsfonds bedeutet auch nicht, dass der IWF in Europa nicht mehr willkommen ist. Wir stellen einfach fest, dass der IWF sein Engagement in Europa zurückgefahren hat. Darum können wir mit Blick auf eine mögliche zukünftige Krise einfach nicht im gleichen Masse auf ihn zählen, wie es in der Vergangenheit der Fall war.
Griechenland bleibt hoch verschuldet. Sind damit zukünftige Probleme nicht programmiert?
Ich stimme dem nicht zu, und das gerade auch im internationalen Vergleich. Gemäss einem OECD-Indikator haben Programmländer, einschliesslich Griechenlands, die bedeutendsten Reformen unter allen Industrieländern durchgeführt. Deshalb wachsen heute gerade diese Volkswirtschaften am schnellsten innerhalb der Eurozone. So hat etwa Griechenland das Staatsdefizit von 15% des Bruttoinlandprodukts auf eine schwarze Null gedrückt. Was die Schulden betrifft, so geht es dabei nicht in erster Linie um ihre Höhe, sondern um die Fähigkeit des Schuldners, diese Verbindlichkeiten auch zu bedienen. Dabei sind die Finanzierungskosten gerade auch dank der vom ESM erteilten Darlehen über die nächsten Jahre durchaus tragfähig.
Gilt das wirklich auch für Griechenland?
Der Einfluss der wirtschaftlichen Erholung Griechenlands zeigt sich ja daran, dass es wieder eigenständig Zugang zum Kapitalmarkt bekommen hat. Hierin spiegelt sich zumindest das wiedererwachte Vertrauen der Investoren in die Lage Griechenlands.
Ihr Szenario geht davon aus, dass die Zinsen sehr tief bleiben. Doch was würde passieren, wenn die Kapitalkosten doch wieder auf ein historisch normales Niveau von, sagen wir, 5% steigen würden?
Wir basieren unsere Szenarien zur Tragfähigkeit von Schulden selbstverständlich auch auf Annahmen über eine Normalisierung der Geldpolitik.
Doch in den vergangen fünf Jahrzehnten stiegen die Zinsen auch auf ein Niveau von 10% und mehr. Wie würde sich ein solches Zinsniveau auf die Eurozone auswirken?
Auf eine solche Frage einzugehen, wäre rein spekulativ. Dieses Zinsniveau mag es in der Vergangenheit vor dem Hintergrund einer wesentlich höheren Inflation gegeben haben. Meiner Meinung nach ist es nicht zu erwarten, dass wir in der Eurozone solch extrem hohe Leitzinsen sehen werden.
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