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17:04 Uhr - 29.06.2015

«Tragische Fehleinschätzung»

Barry Eichengreen, Wirtschaftshistoriker in Berkeley, sagt im Interview mit «Finanz und Wirtschaft», dass eine Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen Athen und den Gläubigern vor Sonntag kaum möglich ist.

Herr Eichengreen, wie könnte es in der Griechenlandkrise weitergehen nach diesem enttäuschenden Wochenende?
Am Sonntag wird in Griechenland über den Vorschlag der Gläubiger abgestimmt. Wenn das griechische Volk, wie von seiner Regierung empfohlen, dagegen stimmt, werden weitere Verhandlungen sehr schwer möglich sein. Im Fall eines Ja wird die Regierung umgebildet werden müssen; oder es müssen Neuwahlen ausgerufen und eine neue Regierung gebildet werden, zum Beispiel eine aus Technokraten. Danach wird es wieder Raum geben für eine Einigung mit den Gläubigern. Aber die Antwort liegt in den Händen der griechischen Bevölkerung.

Zur PersonBarry Eichengreen ist Professor für Wirtschafts- und Politikwissenschaften an der University of California in Berkeley, wo er seit 1986 lehrt. Zuvor war er Assistent in Harvard und für das National Bureau of Economic Research (NBER) aktiv. Der zur Elite seiner Zunft zählende Ökonom hatte in Yale Geschichte und Wirtschaft studiert. Er forscht hauptsächlich auf den Gebieten der Makroökonomie und der Geschichte des Finanzsystems. Sein Buch «Golden Fetters» über die Grosse Depression ist ein Standardwerk. 1997/98, während der Asienkrise, war er als Berater für den Internationalen Währungsfonds tätig. Er warnte schon in den Neunzigerjahren, dass eine Einheitswährung in der EU mehr Umverteilung von starken zu schwachen Volkswirtschaften auslösen würde. Barry Eichengreen ist langjähriger Leitartikelautor von «Finanz und Wirtschaft».Wie beurteilen Sie die Entscheidung der EZB, die Notliquiditätsmassnahme ELA zugunsten der Banken weiterzuführen, aber nicht mehr aufzustocken, obwohl der Kapitalabfluss weitergeht und die Regierung eine Limite für tägliche Abhebungen einführen musste?
Ich hätte lieber gehabt, dass Griechenland weiter verhandelt und die EZB das Limit der ELA für die Banken weiter angehoben hätte, bis man zu einem konstruktiven Abschluss der Verhandlungen kommt. Aber als diese abbrachen, wurde es für die EZB fast unmöglich, eine weitere Erhöhung zu bewilligen.

Sollte die EZB nicht prinzipiell entscheiden, ob die griechischen Banken noch solvent sind und in diesem Fall die nötige Liquidität zur Verfügung stellen, im Sinn eines Lender of Last Resort? Falls die Banken aber insolvent sind, müsste die EZB die ELA ganz stoppen.
Die EZB hat ihre Bereitschaft erklärt, das griechische Finanzsystem und den Verhandlungsprozess weiter zu stützen. Aber das kann sie nicht, bevor die Verhandlungspartner wieder an einen Tisch sitzen. Ich glaube, die EZB hat einen gescheiten Kompromiss gefunden zwischen dem einen Extrem, die Liquidität ganz abzustellen und die gesprochenen ELA zurückzufordern und dem anderen, sie noch zu erhöhen, obwohl keine Verhandlungen mehr laufen. Alles in allem hat sie das beste aus einer unmöglichen Situation gemacht.

Die Banken wurden für 7 Tage geschlossen. Gibt das etwas Zeit, um nachzudenken und die Verhandlungen wieder aufzunehmen oder wird das zweite Rettungspaket am Dienstag einfach auslaufen und Griechenland gegenüber dem IWF ausfallen?
Ich glaube, dass Griechenland seine Schulden gegenüber dem IWF am Dienstag nicht wird zahlen können. Aber es ist niemandem geholfen mit Sturheit in der eigenen Position, Ideologie oder nachtragendem Verhalten wegen vergangenen Vorfällen.

Werden sich die Parteien vor nächsten Sonntag an den Verhandlungstisch setzen?
Das ist unwahrscheinlich. Aber wenn nicht davor, dann hoffentlich danach.

Wo sind die Fehler passiert in den Verhandlungen?
Die Eurogruppe hat einen grossen Fehler gemacht, die Frage eines Schuldenerlasses nicht zu diskutieren. Und der IWF damit, die von der griechischen Regierung vorgeschlagenen Kürzungen bei den Militärausgaben im Gegenzug zu einem Aufschub von Rentenkürzungen nicht zu akzeptieren. Ausserdem versteifen sich die Gläubigerinstitutionen weiterhin darauf, zu grosse Primärüberschüsse zu verlangen, die das Land in eine weitere Rezession und Depression stürzen würden. Wir brauchen mehr Flexibilität auf allen Seiten.

Die Eurogruppe schien schockiert, als Premier Tsipras seine Delegation abzog und das Referendum ankündigte. Hatte sie unterschätzt, dass Griechenland so weit gehen würde? Es sieht so aus, als hätten sie es vorgezogen, nicht über einen Schuldenschnitt zu sprechen und lieber riskiert, dass Griechenland ihnen nun vielleicht noch weniger zurückzahlen wird.
Beide Seiten haben sich verrechnet, auf tragische Weise. Und beide Seiten stünden jetzt besser da, wenn sie einen Kompromiss gefunden hätten. Die Art, wie sich IWF, Eurogruppe und EZB verrechnet haben, ist schwerwiegend. Das Verhandlungsergebnis ist eine tragische Fehleinschätzung.

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