Richard Thaler, Verhaltensökonom und Nobelpreisträger, erklärt, weshalb Investoren oft irrational handeln und warum er an der Börse zu erhöhter Vorsicht rät.
Gier, Übermut und Angst zählen zu den kräftigsten Treibern an den Finanzmärkten. Kaum einer weiss das besser als Richard Thaler. Seine Studien zu menschlichem Verhalten haben die ökonomische Forschung revolutioniert, wofür er letztes Jahr mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden ist. «Er hat die Wirtschaftswissenschaft menschlicher gemacht», heisst es in der Begründung. Der bodenständige Professor an der renommierten Booth School of Business der Universität Chicago sagt, weshalb er den mathematischen Modellen der konventionellen Wirtschaftslehre misstraut, auf welche psychologischen Fallgruben Investoren achten sollten und warum der Bitcoin-Hype für ihn ein Mysterium ist.
Professor Thaler, Sie erforschen unser Verhalten seit Jahrzehnten. Gibt es überhaupt noch etwas, was Sie erstaunt?
Das Leben ist voller Überraschungen, denn Menschen sind kompliziert. Es wird deshalb immer etwas Neues geben, das uns verblüfft. Nach vierzig Jahren Forschung sind die einfachsten Fragen zur Verhaltensökonomie inzwischen aber beantwortet. Neue Erkenntnisse beziehen sich daher oft auf Variationen bekannter Muster wie Trägheit, Unaufmerksamkeit oder mangelnde Selbstkontrolle, wozu es unzählige Beispiele gibt.
Dennoch basieren ökonomische Modelle meist nach wie vor auf dem Idealbild des Homo oeconomicus, einem vollständig rational handelnden Menschen. Wie realistisch ist dieser Ansatz?
Ich nenne solche Wesen auch Econs. Sie sind wie der Charakter Spock aus der Science-Fiction-Reihe «Star Trek»: Sie verhalten sich stets vollkommen logisch, können komplizierte Berechnungen spielend leicht im Kopf lösen, haben weder Emotionen noch Probleme mit Selbstkontrolle und treffen wirtschaftliche Entscheide wie eine Mischung aus Buchhalter und Finanzberater. In meinem Leben habe ich noch nie jemanden getroffen, der sich nur annähernd so verhält, wie es diese Modelle voraussetzen.
Was heisst das auf die Börse übertragen? Wie rational verhalten sich Investoren?
Ein kurioses Beispiel dazu illustriert der US-Anlagefonds Herzfeld Caribbean Basin. Er trägt zwar das Börsenkürzel CUBA, die englische Bezeichnung für Kuba. Mit Anlagen in Kuba hat er aber nichts zu tun. Das, weil es keine kubanischen Aktien gibt und Investments für US-Anleger in Kuba bis vor kurzem illegal waren. Die Titel in diesem Fonds stammen daher von Unternehmen aus den USA und Mexiko, die in der Karibik tätig sind. Historisch notierte dieser Fonds stets zu einem Abschlag von 10 bis 15% auf den Nettowert seiner Anlagen. Doch an dem Tag, als die US-Regierung ankündigte, die Beziehungen mit Kuba zu lockern, handelte er plötzlich zu einer Prämie von 70% zum inneren Wert.
Was steckte hinter diesem Kurssprung?
Es gibt keine rationale Erklärung. Man könnte zwar argumentieren, dass ein besseres Verhältnis zwischen den USA und Kuba der gesamten karibischen Region hilft. Dann hätten aber auch die einzelnen Aktien im Fonds steigen müssen. Das war nicht der Fall. Titel von Kreuzfahrtgesellschaften beispielsweise bewegten sich kaum. Das Einzige, was stieg, war der Preis dieses Fonds mit dem Kürzel CUBA. Und bis sich diese Bewertungsprämie auflöste, dauerte es fast ein Jahr.
Sie bezeichnen solche Anomalien auch als «Fruchtfliegen» der Finanzmärkte. Warum?
Fruchtfliegen sind im Grossen und Ganzen nicht sehr wichtig. Ohne sie wäre unser Leben wohl kaum viel anders. Weil sie sich rasch vermehren, sind sie aber für Biologen ein wertvolles Studienobjekt. Ähnlich ist es mit Kuriositäten wie dem CUBA-Fonds. Für sich selbst genommen sind sie kaum von Bedeutung. Sie geben uns aber wichtige Einblicke in das Verhalten der Finanzmärkte.
Ein zentrales Konzept der konventionellen Wirtschaftslehre sind ebenso Sunk Costs: Kosten, die nicht rückgängig gemacht werden können und Entscheide deshalb nicht beeinflussen sollten. Weshalb handeln wir oft entgegen dieser Logik?
Dazu gibt es eine gute Story, die das perfekt illustriert: Ein amerikanisches Ehepaar macht Ferien in Zürich und kauft teure Billette für ein Sinfoniekonzert. Als die Aufführung beginnt, realisieren die beiden jedoch entsetzt, dass die Tickets für eine Theaterkomödie sind. Doch obschon sie kein Wort verstehen, bleiben sie für die nächsten zwei Stunden bis zum Ende der Vorstellung sitzen.
Gibt es ähnliche Verhaltensmuster auch an der Börse?
Investoren sind oft gehemmt, Aktien zu verkaufen, die schlecht laufen. Psychologisch ist der Grund dafür wohl ähnlich wie beim Ehepaar aus den USA: Würde es das Theater verlassen, müsste es sich eingestehen, dass es das Geld für die Tickets verschwendet hat. Es bleibt deshalb lieber sitzen und lacht über Witze, die es nicht einmal im Ansatz versteht. Ebenso ist es mit einer Aktie im Portfolio, die deutlich an Wert verloren hat. Behält man sie, gibt es immer noch Hoffnung. Verkauft man sie aber, muss man zugeben, dass man einen Fehler gemacht hat.
Zum Glück für viele Anleger geht es mit den Kursen derzeit aber zügig aufwärts. Was denken Sie generell zur Stimmung an den Aktienmärkten?
Ich habe dazu keine feste Meinung. Gemessen an langfristigen Bewertungsinstrumenten wie dem Kurs-Gewinn-Verhältnis von Robert Shiller sind Aktien jedoch teuer. Als Investor wäre ich deshalb vorsichtig. Ich würde zwar nicht aufhören, zu investieren. Ich würde aber sicherstellen, dass ich auf eine Korrektur vorbereitet bin, denn dazu wird es zwangsläufig kommen.
Noch sind die Börsen aber in Champagnerlaune. In den USA ist der Dow Jones (Dow Jones 25166.49 0.36%) mit Schwung ins neue Jahr gestartet und hat 2017 über siebzig Mal auf einer Bestmarke geschlossen. Das gab es noch nie.
Dass nur schon über so etwas geredet wird, ist lächerlich.
Weshalb?
Auf einen Kursrekord folgt zwangsläufig der nächste, wenn der Markt immer weiter steigt. Das ist überhaupt nichts Aussergewöhnliches. Ausserdem sind die Börsen im ersten Amtsjahr von Präsident Obama viel schneller gestiegen als 2017. Damals gab es aber keine Rekorde, weil der Markt während der Finanzkrise zuvor um fast die Hälfte eingebrochen war.
Was aber spielt sich psychologisch ab? Verhalten sich Anleger anders, wenn ständig über neue Bestmarken berichtet wird?
Wir neigen dazu, aus der Vergangenheit einen Trend für die Zukunft abzuleiten. Tatsache ist aber, dass Kurse nicht nur steigen, sondern auch fallen. Je höher sie klettern, desto weniger sollten wir darauf vertrauen, dass es in diesem Stil weitergeht. Dennoch ist an der Börse oft das Gegenteil der Fall. Im Basketball spricht man in diesem Zusammenhang auch vom Hot-Hand-Phänomen: Wirft ein Spieler eine Reihe von Körben, glauben die Leute, dass die Chance für das Anhalten seiner Glückssträhne mit jedem weiteren Treffer steigt.
Apropos Glückssträhne: Oft wird auch von einer Kasinomentalität an der Börse gesprochen. Was hat es damit auf sich?
Im Kasino gibt es den Ausdruck, «auf Kosten des Hauses» zu spielen. Gewinnt man gleich am Anfang 500 Fr., fühlt es sich an, als ob man nicht mit dem eigenen Geld spielt, sondern mit dem des Kasinos. Rational betrachtet ist das ein Trugschluss. Wie man zu diesen 500 Fr. gekommen ist, sollte keinen Einfluss darauf haben, was man damit macht. Ich bin mir aber sicher, dass derzeit unter vielen Bitcoin-Investoren eine solche Mentalität vorherrscht.
Wir erleben Sie den Krypto-Boom denn als Verhaltensökonom?
Bitcoin ist für mich ein völliges Mysterium. Ich sehe darin keinen anderen Nutzen als ein Mittel zur Steuerhinterziehung. Bitcoin ist kein geeigneter Ersatz für Geld, weil der Kurs so stark schwankt. Ich gebe aber zu, dass ich keine Ahnung von den technischen Details habe. Nur schon deshalb würde ich nicht in Bitcoin investieren. Auch erscheint mir die Idee absurd, meine Rechnungen mit Bitcoin statt mit Dollar, Euro oder Franken zu zahlen. Ich würde das wohl nur machen, wenn ich ein Drogenhändler wäre.
Basierend auf Ihren Forschungen beraten Sie auch Regierungen. Wie geht das?
Wir wollen helfen, eine Welt zu kreieren, in der man sich einfacher zurechtfindet. Es geht darum, dass sich die Leute durch einen sanften Anstoss so verhalten, wie wenn sie vollständig informiert wären – und das, ohne dass sie dafür viel tun müssen. Es ist wie mit einem GPS-Gerät. Es macht mir einen Vorschlag, auf dem schnellsten Weg ans Ziel zu kommen. Ich kann aber jederzeit eine andere Route wählen. Einen solchen Dienst hätte ich gerne für alle Aspekte meines Lebens.
Was wäre ein solcher Anstoss?
Wenn man beispielsweise im Stadtzentrum von London zu Fuss unterwegs ist und eine Strasse überqueren will, dann kommen die Autos aus der anderen Richtung, als man es sich gewohnt ist. Deshalb weisen Signaltafeln Fussgänger an, zuerst nach rechts statt nach links zu schauen. Mir hat das schon mehrmals das Leben gerettet.
Gibt es solche Orientierungshilfen auch für die Finanzmärkte?
Ja, gerade wenn es um die Altersvorsorge geht. Die meisten Leute haben keine Ahnung, wie sie ihr Geld auf lange Sicht anlegen sollen. Offerieren ihnen Pensionskassen deshalb zum Beispiel einen gut konstruierten Indexfonds mit geringen Kosten als Grundoption, werden sie damit besser fahren, als wenn sie versuchen, ihr Geld selbst anzulegen.
Haben Sie sonst noch einen Tipp, wie man an der Börse erfolgreich investiert?
Der wohl grösste Trugschluss, dem Investoren erliegen, hat mit übermässigem Selbstvertrauen zu tun. Wir überschätzen oft, wie gut wir wirklich Bescheid wissen. Der Schriftsteller Mark Twain hat das einmal treffend auf den Punkt gebracht, als er bemerkte: «Was uns in Schwierigkeiten bringt, ist nicht das, was wir nicht wissen. Es ist das, was wir mit Sicherheit wissen, was aber in Wahrheit falsch ist.»
Was heisst das konkret?
Zu den besten Lektionen im Leben zählt, über seine Prognosen Buch zu führen. Derzeit denken viele Leute, dass sie sehr gut im Investieren sind, speziell die, die in den letzten Jahren mit Engagements in Aktien begonnen haben. Seit dem Frühjahr 2009 geht es an der Börse praktisch nur aufwärts, womit ein Portfolio aus zufällig gewählten Titeln entsprechend gut abschneidet. Die meisten von uns haben deshalb keine Ahnung, wie gut sie als Anleger wirklich sind. Hinzu kommt, dass wir uns lieber an gute Investments erinnern und schlechte gerne vergessen. Ich rate deshalb, dass man seine Prognosen schriftlich festhält und so regelmässig prüft, wie klug man tatsächlich ist. In der Regel fällt das Resultat nämlich weit weniger schmeichelhaft aus, als man glaubt.
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