Stephen S. Roach, langjähriger Chefökonom und Asienchef von Morgan Stanley, im Interview mit der FuW über die gegenseitige Abhängigkeit zwischen den USA und China.
Stephen S. Roach ist der Grandseigneur unter den amerikanischen Bankökonomen. Während mehr als dreissig Jahren stand er als Chefvolkswirt im Sold der Investmentbank Morgan Stanley (MS 33.39 0.12%), zuletzt fast zehn Jahre im Rang als Chairman Asia in Hongkong. Er hat sich intensiv mit den Beziehungen zwischen den USA und China befasst und seine Gedanken im soeben erschienenen Buch «Unbalanced: The Codependency of America and China» niedergeschrieben.
Die Haushalte haben ihren Konsum in den vergangenen Jahren tatsächlich gedrosselt. Doch sie taten dies aus Zwang; sie nutzen einen grösseren Teil ihres Einkommens, um ihre Bilanz zu sanieren und Schulden abzubauen. Das zeigt sich unter anderem in der Tatsache, dass das Wirtschaftswachstum nach der Rezession von 2008 und 2009 abnormal blutleer war.
Ist dieser Effekt bald abgeschlossen?
Nein. Im langfristigen Vergleich sind die Haushalte in den USA immer noch überdurchschnittlich hoch verschuldet. Das Verhältnis von Schulden zu Einkommen verharrt auf hohem Niveau, die private Sparquote bleibt abnormal niedrig. Der Schuldenabbau sollte noch weitergehen.
Welche Rolle spielt die Niedrigzinspolitik des Fed in diesem Schuldenabbau?
Das Fed steckt in einem Dilemma. Vor der Finanzkrise, vor allem zwischen 2002 und 2007, betrieb die US-Notenbank eine zu lasche Geldpolitik. Das führte zu einer kolossalen Blase, die im Jahr 2008 platzte. Um diesen Schock zu bekämpfen, musste das Fed drastische Massnahmen beschliessen und die geldpolitischen Schleusen aufreissen. Das war während der Krise die richtige Strategie. Bloss hätten die Notenbanker einsehen sollen, dass die Instrumente zur Krisenbekämpfung nicht mehr tauglich sind, um die Erholung der Wirtschaft zu begünstigen.
Wieso nicht?
Das Quantitative Easing des Fed hilft den Haushalten nicht, ihre Schulden zu reduzieren. Stattdessen fliesst die Liquidität in die Finanzmärkte, wo Investoren weltweit verzweifelt nach Rendite suchen. Ich teile die Meinung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, die vor neuen Spekulationsblasen warnt. Statt den Schuldenabbau der Haushalte zu unterstützen, versucht das Fed bloss, die Anlagenpreise wieder aufzupumpen.
Sehen Sie bereits Blasen?
Nein, das noch nicht. Allerdings sehe ich ausserordentliche und nicht nachhaltige Preisniveaus, zum Beispiel im Markt für Junk Bonds oder in Segmenten des US-Häusermarktes.
Was sollte das Fed denn tun?
Am besten nichts mehr. Das Problem der USA ist, dass in Washington jegliches strategische Denken fehlt. Der private Schuldenüberhang ist kein geld-, sondern ein fiskalpolitisches Problem. Die Hyperaktivität des Fed ist schädlich, weil die Politiker im Kongress sich einreden können, dass die Notenbank es schon richten wird.
Welche Entscheidungen wären denn nötig?
Um den Schuldenüberhang im Privatsektor zu beseitigen, müssen faule Kredite abgeschrieben werden. Das heisst, Hauseigentümer mit negativem Eigenkapital sollten ihre Hypothekarverträge neu verhandeln können. Die Banken müssen Kredite abschreiben, das Fed könnte auf seiner Bilanz ebenfalls einen Teil der Verluste absorbieren. Die nationale Sparquote muss steigen; auch hier wäre eine Normalisierung der Fed-Politik hilfreich.
Sprechen wir über China. Wie sieht es mit dem Rebalancing aus, dem Wechsel von einem export- und investitionsgetriebenen Wachstumsmodell hin zu einer Wirtschaft, die auf inländischem Konsum basiert?
Da sehe ich ermutigende Signale. Damit das Rebalancing gelingt, sind drei Dinge nötig: mehr Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor, höhere Realeinkommen und schliesslich ein soziales Sicherheitsnetz in der Gesundheits- und der Altersvorsorge. In den ersten beiden Punkten sind Fortschritte zu sehen. Der Dienstleistungssektor wächst schneller als die restliche Wirtschaft; 2013 war er für 46% des Bruttoinlandprodukts verantwortlich und lag damit zum ersten Mal in der modernen Geschichte Chinas über dem Industrie- und Bausektor, der auf 44% des BIP kam. Dienstleistungsjobs sind wichtig, denn damit einher gehen steigende Realeinkommen für die Haushalte.
Was treibt das Wachstum des Dienstleistungssektors an?
In erster Linie die Urbanisierung. Gegenwärtig leben 54% der Einwohner Chinas in Städten. 1980 waren es 20%, und in zehn Jahren werden es mehr als 65% sein. Mit der Urbanisierung wächst der Bedarf nach Dienstleistungen aller Art.
Und die dritte Voraussetzung, das soziale Sicherheitsnetz?
Da ist leider noch nicht viel zu sehen. Immerhin hat die Regierung unter Präsident Xi Jinping erste Reformen im Sozialbereich angekündigt. Die Einkindpolitik wird aufgeweicht, ebenso die Niederlassungsfreiheit von Privatpersonen. Es muss aber noch mehr kommen. Es nützt nichts, wenn China bessere und höher bezahlte Jobs hat und die Haushaltseinkommen steigen: Wenn die Leute ihr Einkommen sparen, um für Alter und Krankheitsfälle vorzusorgen, fliesst zu wenig in den Konsum. Die private Sparquote muss sinken.
Wann immer sich Chinas Wirtschaftswachstum abkühlte, hat die Regierung in Peking bislang Infrastrukturinvestitionen forciert und nicht den privaten Konsum. Wird sich das nun ändern?
Es herrscht immer noch grosser Bedarf nach Infrastruktur. Jahr für Jahr wandern 15 bis 20 Mio. Menschen vom Land in die Städte. Das bedeutet, dass in China über die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre mindestens siebzig neue Millionenstädte gebaut werden müssen. Das ist ein Trend, der noch lange nicht verebben wird. Davon abgesehen zeigt die Regierung schon jetzt grosse Zurückhaltung, wenn es darum geht, die Wirtschaft mit neuen Infrastrukturinvestitionen zu stimulieren.
Was halten Sie denn von der oft geäusserten Warnung, dass im Land eine kreditfinanzierte Investitionsblase entstanden ist?
Das ist völlig übertrieben. Es stimmt, das Kreditvolumen ist deutlich gestiegen, von 150% des BIP im Jahr 2008 auf aktuell 235% des BIP. Aber das bedeutet nicht, dass China ein Kartenhaus ist, das bald zusammenstürzt. Die hohe inländische Sparquote sowie die Tatsache, dass Chinas Zentralbank die grössten Devisenreserven aller Zeiten angehäuft hat, wirken als effektiver Sicherheitspuffer.
Das liess sich von den USA im Jahr 1929 oder Japan im Jahr 1989 auch sagen. Trotzdem erlebten die beiden Länder eine Kreditblase, gefolgt von einem Crash.
China ist sicher besser mit Japan als mit den USA vergleichbar. Die Führungsleute in Peking haben genau untersucht, was damals in Japan schiefgelaufen ist. Sie haben auch minutiös die Asienkrise von 1998 studiert. Daher glaube ich nicht, dass China in dieselbe Falle treten wird wie Japan. Peking hat seit Deng Xiaoping stets eine enorme Fähigkeit an strategisch weitsichtigem Denken bewiesen.
Um zum Rebalancing zurückzukehren: Einflussreiche Kreise haben komfortabel vom alten Wachstumsmodell gelebt, etwa die ineffizienten Staatskonzerne. Die haben keine Freude, wenn die Konsumenten mehr Macht erhalten.
Das stimmt und ist die grösste Gefahr für China. Mächtige, korrupte Kreise haben kein Interesse an einem Rebalancing. Xi Jinping weiss das, deshalb hat er eine historisch beispiellose, öffentlich sichtbare Antikorruptionskampagne lanciert. Allein in den vergangenen vier Monaten wurden mehr als fünfzig hochrangige Offizielle verhaftet oder unter Hausarrest gestellt. Das ist ein heftiger Machtkampf.
Sind Xi und sein Premier Li Keqiang mächtig genug, um diesen Kampf zu gewinnen?
Xi Jinping ist der mächtigste Führer in Peking seit Deng Xiaoping. Aber reicht das? Ich weiss es nicht. Ich sehe bloss, dass er die Korruptionsbekämpfung forciert. Es ist ihm klar, dass sich in China eine lebhafte Konsumgesellschaft nur bilden kann, wenn die Menschen an ihre Chancen glauben. Und das ist nur möglich, wenn die Menschen ihre politische Führung nicht als abgrundtief korrupt empfinden. Xi weiss das. Ich gebe ihm eine Wahrscheinlichkeit von 60%, dass er Erfolg haben wird.
Wenn Sie die USA und China heute betrachten: Welche Entwicklungen bereiten Ihnen am meisten Sorgen?
In China ist das grösste Fragezeichen der Erfolg in der Korruptionsbekämpfung. Korruption ist ein riesiges Problem im Land. In den USA ist es die komplette Unfähigkeit der politischen Führung, in Wirtschaftsfragen strategisch zu denken. In Washington glauben wir immer noch, alle Wirtschaftsfragen löse die unsichtbare Hand des Marktes von selbst. Überdies besorgt es mich immer wieder, wie leichtfertig Kongressmitglieder in Washington darüber reden, Handelssanktionen gegen China zu verhängen.
Handelssanktionen gegen China sind seit Jahren ein Thema. Ist das nicht bloss politisches Gerede, ohne ernsthafte Absichten?
Ich wäre mir da nicht so sicher. Die Spannungen zwischen China und den USA steigen, sei es in Handels-, Sicherheits- oder Territorialfragen. Wer weiss, was geschieht, wenn die Demokraten im Herbst ihre Mehrheit im Senat verlieren? Es kann jederzeit geschehen, dass der Kongress eine Art Kriegserklärung gegen China deklariert und Importrestriktionen verhängt. Das wäre ein Desaster. Der Smoot-Hawley Act von 1930 zeigt, wie dumm Politiker agieren können, wenn es um Handel geht.
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