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13:02 Uhr - 22.05.2015

«Seien Sie paranoid und risikofreudig zugleich»

Nassim Nicholas Taleb, Risikospezialist und Philosoph, rät im Interview mit der FuW zu einer dualen Anlagestrategie, um nicht fragil zu sein. Er kritisiert, die Finanzindustrie habe nichts aus der Krise gelernt.

Er scheut keine Konfrontation. Nassim Nicholas Taleb, der Statistiker, Philosoph, Universitätsprofessor und altgediente Derivathändler, bezeichnet Wirtschaftsnobelpreisträger als Scharlatane und geht mit Gentechnikbefürwortern hart ins Gericht. Auch an Bankern und Journalisten lässt er meist kein gutes Haar.

Zu Besuch in der Schweiz, als Referent am FuW Fund Experts Forum, zeigte sich der Autor der Bestseller «Black Swan» und «Antifragile» von der versöhnlichen Seite. Was die Finanzindustrie betrifft, befinde sich die Schweiz mit der Rückbesinnung auf die altbewährten Werte auf dem richtigen Weg.

Herr Taleb, seit der Finanzkrise hat sich zumindest die US-Wirtschaft erholt, und die Börsen brechen Rekorde. Wie stabil ist das Wirtschafts- und Finanzsystem heute?
Das System ist fragiler denn je. Der Grund sind die hohe Staatsverschuldung und die rekordniedrigen Zinsen. Dieses Mal gibt es kaum mehr fiskal- und geldpolitischen Spielraum, wenn etwas passiert.Zur PersonNassim Nicholas Taleb, geboren 1960 im Libanon, ist ein New Yorker philosophischer Essayist und Forscher auf dem Gebiet der Statistik. Er ist gegenwärtig Professor für Risikoanalyse am Polytechnischen Institut der New York University und Gastprofessor an der London Business School. Vor seiner Wissenschaftskarriere war Taleb als Derivathändler für verschieden Grossbanken wie auch auf eigene Rechnung tätig, wodurch er seine finanzielle Unabhängigkeit erlangte. Er ist Autor der Bestseller «Narren des Zufalls», «Der Schwarze Schwan» und des 2012 erschienen Werks «Antifragilität».

Weiterer Beitrag zum Interview:
» Schwarze Schwäne und
konvexe Wetten

Wie beurteilen Sie den sich abzeichnenden Beginn einer strafferen US-Geldpolitik?
Steigende US-Leitzinsen sind für andere Märkte gefährlicher als für die USA. Ich erinnere mich gut an das Jahr 1994, als der damalige Fed-Chef Alan Greenspan die Leitzinsen nur wenig erhöhte und Italien noch die Lira hatte. Wir dachten, dass die Marktzinsen von US-Staatsanleihen steil steigen und damit die Anleihenkurse fallen würden. Doch es war der Markt für höher verzinsliche italienische Bonds, der am stärksten unter die Räder kam, weil Kapital zurück in die USA floss.

Welche Lehren ziehen Sie daraus für heutige Anlageentscheide?
Das Äquivalent zu Italien damals sind heute die Schwellenländer. Interessant erscheint mir auch, Ramschanleihen – Junk Bonds – leer zu verkaufen, weil die Zinsdifferenzen zu eng sind. Sie werden sich ausweiten, wenn das Fed die Leitzinsen erhöht. Auf den Kreditmärkten ist es zu Übertreibungen gekommen. Zahlreiche Unternehmen werden pleitegehen. Die federführende Generation von Analysten hat zwar  viel über Risiko geschrieben und Vorlesungen dazu besucht, aber sie versteht nicht, was Risiko bedeutet.

Hat die Finanzindustrie nicht aus den Fehlern gelernt? Ihr Buch «Black Swan» wurde ja auch in Bankkreisen gelesen.
Nein. Die Idee hinter «Black Swan» ist folgende: Es ist illusorisch zu denken, man könne seltene Ereignisse voraussagen. Es ist ein totaler Unsinn, zu prognostizieren, wo die Börsen in einem Jahr notieren oder welches seltene Ereignis eintreffen wird. Ich repetiere das seit 1990 und kriege immer die gleiche Antwort: Dies sei bekannt, aber es gebe nun bessere Methoden. Und wenig später sind diese Leute pleite.

Haben Sie konkrete Beispiele für solche sich wiederholenden Muster?
J. P. Morgan kollabierte auf gleiche Art und Weise wie 1994 die Metallgesellschaft oder 1998 der Hedge Fund LTCM. Alle sagten: «Nun ja, die Eintrittswahrscheinlichkeit dieses Risikos war sehr klein.» Ein weiteres Beispiel ist der US-Hypothekenfinanzierer Fannie Mae. Als ich das exponentielle Verlustpotenzial sah und die Verantwortlichen warnte, gaben sie zur Antwort, sie hätten dank fünfzig Spezialisten mit Doktortitel alles unter Kontrolle.

Was soll daran falsch sein, die gescheitesten Leute einzustellen?
Mit fünfzig promovierten Wissenschaftlern können Sie auf den Mond fliegen, aber nicht vorhersagen, wohin die Börsen laufen. Das ist mathematisch unmöglich. Es ist viel einfacher, robust zu sein, als zu versuchen, irgendwelche seltenen Ereignisse zu prognostizieren. Es ist auch deshalb viel einfacher, weil wir Robustheit und Fragilität messen können. Black-Swan-Ereignisse vorhersagen zu wollen, ist eine nette Übung, aber es bringt nichts.

Das heisst also, dass die Banken heute nicht sicherer sind als 2007?
Sie sind fragiler als je zuvor. Nehmen Sie den Skandal bekannt unter dem Namen «der Wal von London». J. P. Morgan verlor durch einen Händler 6 Mrd. $. Danach sagten sie, dass so etwas nur alle 10 Mrd. Jahre passieren könne. Sie würden ihre Risikokennzahl Value at Risk anpassen.  Aber glauben Sie mir, es wird früher oder später jemand anderem passieren. Das Einzige, was man vorhersagen kann, ist: Es werden genau diejenigen pleitegehen, die glauben, seltene Ereignisse vorhersagen zu können. Ihre Portfolios sind zu fragil, und sie verlassen sich auf unbrauchbare Konzepte und Modelle. Nobelpreisgekrönte Konzepte wie Value at Risk oder das Garch-Modell halten nicht, was sie versprechen. Sie zeigen nicht die Fehlerquote, deshalb darf man sich nicht auf sie verlassen.

Warum halten dann so viele an den Modellen der modernen Finanztheorie fest?
Die meisten wollen lieber stete Renditen mit dem Risiko, bei einem Unfall alles zu verlieren, als stete kleine Verluste mit der Aussicht auf einen grossen Gewinn, wenn es knallt. Wenn sie verlieren, schreiben sie einfach einen Entschuldigungsbrief an die Investoren. So läuft das jedes Mal.

Deshalb also steht die nächste Bankenkrise vor der Tür. Wie müsste der Bankensektor denn reguliert werden?
Ich mache mir nicht so grosse Sorgen um die Banken. Ihre Bedeutung ist heute nicht mehr so gross wie früher, als sie noch die einzigen Kreditgeber waren.

Und wie kann die Finanzindustrie im weiteren Sinn stabiler werden?
Es braucht ein neues Paradigma für das Finanzwesen. Wir müssen wegkommen von den akademischen Modellen und dem Top-down-Ansatz. Ich plädiere für das Versuch-und-Irrtum-Verfahren und für mehr Leute mit grauen Haaren, die praktische Erfahrungen gesammelt haben. Banking hat man früher auf der Bank gelernt, es war geprägt von älteren Mitarbeitern, die gegenüber mathematischen Modellen skeptisch und voll und ganz auf Robustheit ausgerichtet waren. Die Einzigen, die Risiko verstehen, sind diese altmodischen grauhaarigen Banker und Wertschriftenhändler, die unterdessen aber alle entlassen oder pensioniert wurden. Am ehesten findet man diesen Typ Bankier noch in Genf oder Zürich.

Sie sind also für die Schweizer Finanzbranche weniger pessimistisch?
Für die Schweiz hege ich noch etwas Hoffnung. Ich arbeitete ja früher für Schweizer Banken in den USA. Als ich da anfing, waren alle extrem risikoscheu, und die mathematischen Modelle stiessen auf Skepsis. Doch auf einmal kippte es ins Gegenteil, und es wurde sogar Geld in den Markt für Subprime-Hypotheken investiert. Nun jedoch scheinen die Schweizer wieder dahin zu gehen, woher sie kommen.

Warum fokussieren Sie sich so stark auf Extremrisiken? Das ist ja mit Kosten verbunden, weil Ihnen so Gewinne entgehen.
Der Ruin ist keine erneuerbare Ressource. Seine Kosten sind faktisch unendlich, deshalb ist eine Kosten-Nutzen-Abwägung irrelevant. Es spielt keine Rolle, ob Sie vor einer heranfahrenden Walze Frankenmünzen oder Tausendernoten aufzulesen versuchen.

Wie genau definieren Sie fragil? Woran lässt sich Fragilität erkennen?
Fragil ist alles, was keine Schocks erträgt. Fragil ist, was bei einem Black-Swan-Ereignis überproportional mehr Schaden nimmt als bei häufig vorkommenden Ereignissen – wie eine Porzellantasse, wenn sie herunterfällt. Charakteristisch für Fragilität sind auch exponentielle Verluste. Wenn der Markt 1% fällt, verlieren Sie 1 Mio., wenn er 2% fällt, verlieren Sie 10 Mio.

Und was ist das Gegenteil davon, also das, was Sie antifragil nennen?
Wenn fragil das ist, was von Chaos und Zufall Schaden nimmt, ist antifragil alles, was von Chaos und zufälligen Schocks profitiert. Stellen Sie sich ein Paket vor, auf dem draufsteht «bitte misshandeln». Weil es kein Wort für diese Eigenschaft gibt, nenne ich es antifragil.

Wie kann man Fragilität verhindern?
Was kein Chaos und keinen Zufall erträgt, mag auch keine langen Zeiträume. Die Lebenserwartung eines Jungen ist höher als die eines alten Mannes. Doch bei Ideen, Technologien und auch Unternehmen ist es genau umgekehrt. Was schon lange da war, wird auch lange weiterexistieren. Mit dieser einfachen Regel können Sie Fragilität reduzieren. Damit lassen sich auch Unternehmen analysieren: Eine Firma, die sich nach einem tiefen Fall hochgekämpft hat, hat gute Chancen, noch viel länger zu überleben. Wenn etwas ein Erdbeben überstanden hat, sagt Ihnen das einiges über die Robustheit aus.

Sie sagen, dass Grösse fragiler macht. Nützen Skalenerträge nichts?
Wenn es sie gäbe, dann würden die grössten Unternehmen der Achtzigerjahre heute die Welt beherrschen. Doch sie sind nicht einmal im breiten Index. Durch Fusionen und Übernahmen werden die Unternehmen nicht zwingend besser. Das Problem ist, dass mit zunehmender Grösse auch die Kosten zunehmen, wenn etwas schiefgeht. Und sie nehmen nicht linear zu. Als Société Générale 50 Mrd. liquidieren musste, kostete es sie 5 Mrd. Der Verkauf eines 5-Mrd.-Pakets hätte sie nicht ein Zehntel davon gekostet, sondern fast gar nichts. Wer gross ist, leidet noch mehr, wenn ein Extremereignis eintritt.

Wie können Investoren die Antifragilitäts-Idee umsetzen?
Mit Strategien, die eine Optionalität aufweisen. Eine Option hat eine besondere Eigenschaft: Sie gewinnen mehr, wenn Sie recht haben, als Sie verlieren, wenn Sie falschliegen. Das Auszahlungsdiagramm hat eine konvexe Form. Fragilität lässt sich verhindern, wenn man von grossen Kursausschlägen profitiert, indem man eine Art Versicherung kauft. Wir Optionenhändler nennen das «Long Volatilität». Solche Strategien haben sich 1987, 1998 und natürlich 2008 ausgezahlt.

Diese Strategien erfordern aber ein hohes Mass an Disziplin.
Man braucht jemanden, der einen dabei unterstützt. Auch ich habe diese Strategie gehasst. Es war kaum auszuhalten, auf Extremrisiken zu setzen, während alle andern stetige Renditen erzielten. Deshalb beauftragte ich Kollegen, weiterhin Optionen zu kaufen.

Welche Portfoliostrategie entspricht der Idee der Antifragilität?
Eine duale Strategie: Seien Sie paranoid auf der einen und risikofreudig auf der anderen Seite. Das heisst, Sie legen 80% in das sicherste und liquideste Asset wie Cash oder Staatsanleihen an. Mit den anderen 20% können Sie dann riskante Wetten eingehen, die nicht voneinander abhängig sind. Maximal verlieren Sie 20%, aber das Gewinnpotenzial ist immens. Der hohe Anteil Cash hat noch einen anderen Vorteil. So haben Sie Pulver im Trockenen, um investieren zu können, wenn alle verkaufen müssen. Die letzte solche Gelegenheit war 2009. So betrachtet besitzt Bargeld auch die Eigenschaft einer Option.

Welche Anlagen kommen für den riskanten Teil in Frage?
Das sind Anlagen mit guten Risiken. Ich bevorzuge die Umsetzung mit Optionen. Auch Technologieaktien sind grundsätzlich eine Anlage, die vom Zufall profitiert. Eine typische Investition mit Optionalität sind Aktien von Unternehmen, bei denen Fehler oder Nebenprodukte zum Erfolg werden können, wie das bei Viagra der Fall war. Im Pharmageschäft basiert vieles auf der Trial-and-Error-Methode. Man probiert ständig aus, mit geringen Kosten, aber wenn etwas funktioniert, sind die Gewinne enorm.

Wie steht es mit Erdöl?
Erdöl hat keinen Optionscharakter. Es verliert als Energieträger an Bedeutung. Eine bessere Idee wären wohl Investitionen in Entwickler von Batterien, die Solarstrom speichern.

In Ihrem Buch «Antifragilität» nennen Sie die Schweiz als das beste Beispiel für ein Land, das diese Eigenschaften aufweist. Wie meinen Sie das?
Die Schweiz ist das stabilste Land der Welt. Sie ist nicht nur stabil oder robust, sondern sogar antifragil, weil sie von Chaos und zufälligen Schocks profitiert. Ihr geht es noch besser, wenn in einer Krise alle einen sicheren Hafen suchen.

Was steht hinter diesem Erfolg?
Fragen Sie Passanten, wer die Bundespräsidentin ist. Die meisten wissen es nicht. Das hat nichts mit Bildung zu tun, sondern mit der Tatsache, dass die Bundesregierung und ihr Vorsitz nur beschränkte Macht haben. Die Schweiz ist das Gegenteil des Top-down-Modells. Sie funktioniert nach dem Bottom-up-Prinzip, der Methode Trial and Error, ohne zentrale Planung. Es ist kein wirklicher Nationalstaat, sondern vielmehr eine Ansammlung von kleinen Gebietskörperschaften, die mehr oder weniger sich selbst überlassen sind. Immer wieder wird das System durch kleine Schocks auf die Probe gestellt, aber das macht es robuster. Die Fehler der Gemeinden sind zu klein, um das ganze Land zu ruinieren.

Auch Deutschland besitzt ausgeprägt föderale Strukturen. Ist das auch dort das Geheimnis des wirtschaftlichen Erfolgs?
Ja, genau. Und die Dezentralisierung war das Resultat der Politik der Alliierten nach dem Krieg. Sie teilten Berlin auf und zwangen Deutschland zur Dezentralisierung. Was dafür bestimmt war, Deutschland politisch zu schwächen, hat es ökonomisch stärker gemacht. Das ist der Grund des deutschen Erfolgs, nicht irgendwelche kulturellen Werte.

Der starke Franken und die steigenden Immobilienpreise sorgen hierzulande für Unbehagen. Ist die Schweiz dermassen  antifragil, dass sie fragil wird?
Die Schweiz ist eines der erfolgreichsten Länder. Aber ich fürchte, die besten Zeiten sind vorbei. Der starke Franken und ein damit verbundener Verlust an Wettbewerbsfähigkeit machen mir wenig Sorgen. Die Schweizer haben es immer irgendwie geschafft, ihre Produkte auf dem Weltmarkt zu verkaufen. Schweizer Uhren werden auch dann gekauft, wenn die Preise etwas höher sind. Die Zufluchtssuche reicher Ausländer gefährdet hingegen das Erfolgsmodell Schweiz eher. Auch die USA sind ein Einwanderungsland, aber zu uns kommen die Armen und die Klugen, die etwas auf die Beine stellen. In die Schweiz kommen – wie nach London – vorrangig die Reichen und Gesättigten.

Dank ihnen sind die Steuern so tief, und wir können uns trotzdem eine  erstklassige Infrastruktur leisten.
Diese Einnahmequelle ist nicht nachhaltig. Ihr Reichtum löst Neid aus und vergiftet das Klima. Unerschwingliche Immobilien und steigende Mieten tragen dazu bei. Nur ein paar wenige Verkäufer profitieren von den steigenden Immobilienpreisen. Das viele ausländische Geld begünstigt Korruption. London zum Beispiel ist viel korrupter geworden, Monte Carlo ist noch schlimmer.

Sind Sie für eine striktere Einwanderungspolitik?
Das wäre eine riskante Strategie. Sie wollen ja immer noch die Intelligenzija, Leute wie früher Lenin und sein Gegenspieler Nabokow, die hierher kommen, weil sie mehr Freiheiten haben und bessere Bedingungen vorfinden. Die einfachere Lösung wäre wohl ein Verbot für Ausländer, Immobilien zu kaufen.

Sie zeichnen im Buch ein idealisiertes Bild des Römische Reiches. Sollte es ein Vorbild für die Europäische Union sein?
Das Römische Reich war der Archetyp eines dezentralisieren politischen Systems. Ein Imperium ist kein Nationalstaat. Rom verlangte von den Provinzen nur Steuern und kümmerte sich um die Sicherheit. Rom funktionierte nach dem Subsidiaritätsprinzip, das ist das Wichtigste: Nichts soll auf die höhere Organisationsstufe delegiert werden, was nicht auch auf der unteren Stufe erfüllt werden kann. Auch die EU kennt das Prinzip, doch leider wird es zu wenig angewandt. Brüssel schreibt sogar die Frequenz der Scheibenwischer vor.

In einem gemeinsamen Wirtschaftsraum braucht es gewisse Standards.
Das können Sie dem Privatsektor überlassen, er wird schon Wege finden. Viel wichtiger ist ein ähnliches Rechtssystem, etwa eines basierend auf dem Gewohnheitsrecht amerikanischer Prägung wie in Hongkong oder Singapur.

In einem Arbeitspapier verlangen Sie, dass im Umgang mit genetisch veränderten Organismen das Vorsorgeprinzip angewandt werden soll. Was hat Sie dazu motiviert?
Das Risiko der Genmanipulation ist systemisch. Solche künstlichen Eingriffe ins Ökosystem sind anders als der natürliche evolutionäre Prozess, in dem die Biosphäre zufällig experimentiert und damit nur lokale Auswirkungen hat. Die Top-down-Modifikation umgeht den evolutionären Prozess und manipuliert viele interdependente Faktoren gleichzeitig, mit dem dramatischen Risiko unbeabsichtigter Konsequenzen. Die Beweislast für die möglichen Schäden liegt bei denjenigen, die die Genmodifikation vorantreiben, und nicht bei denen, die sich dagegen wehren.

Wie beurteilen Sie unter diesem Gesichtspunkt die Atomenergie?
Anders als bei genetisch veränderten Organismen ist der potenzielle Schaden bei der Kernenergie räumlich begrenzt. Die Risiken sind einfacher zu verstehen und nicht systemisch.

Schwarze Schwäne und konvexe Wetten«Der Schwarze Schwan»: So lautet der Titel des 2007 erschienenen Buches von Nassim Nicholas Taleb – im englischen Original «Black Swan». Der Begriff ist eine Metapher für ein Ereignis, das höchst unwahrscheinlich ist, völlig überraschend eintritt und sich im Nachhinein einfach erklären lässt. Die Redensart geht auf die Entdeckung schwarzer Schwäne in Australien im 17. Jahrhundert zurück, als in Europa nur weisse Schwäne bekannt waren. Die Finanzkrise 2008 war ein typisches Black-Swan-Ereignis. Taleb hatte im Buch «Black Swan» vor der Instabilität des Finanzsystems gewarnt.

Value at Risk (VaR): Dieses Standardrisikomass gibt an, welche Verlusthöhe mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht überschritten wird. Das Value-at-Risk-Konzept basiert auf der Annahme, dass sich Ereignisse in der Zukunft verhalten werden wie in der Vergangenheit. Dieser Mangel lässt sich mit ergänzenden Stresstests entschärfen. Taleb plädiert für eine mehrfache Wiederholung von Stresstests.

Konvexe Strategien: Das Auszahlungsdiagramm einer solchen Strategie hat die Form einer konvexen Funktion (vom lateinischen convexus = gewölbt). Vereinfacht gesagt riskiert man einen Franken, um eine Millionen zu gewinnen. Das Verlustpotenzial ist begrenzt und von Anfang an bekannt, während der mögliche Gewinn unbegrenzt und unbekannt ist. Der Kauf einer Option ist eine typische konvexe Wette. Man gewinnt überproportional bei Turbulenzen, hat also eine Kaufposition (Long) in Volatilität. Konvex ist auch der Kauf einer Versicherung – oder einer Kreditversicherung (CDS, Credit Default Swap). Das Gegenstück sind konkave Strategien: Optionsverkäufer und Versicherer kassieren Prämien, bezahlen aber bei Schocks – wie einst der US-Versicherungskonzern AIG.

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