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16:25 Uhr - 27.05.2016

Eichengreen: «Negativzinsen sind kontraproduktiv»

Barry Eichengreen, Wirtschaftsprofessor, empfiehlt der Schweizerischen Nationalbank, auf den Kauf von Wertschriften statt auf Negativzinsen zu setzen.

Die Weltwirtschaft sei nicht robust genug für höhere Zinsen, mahnt Barry Eichengreen. Negativzinsen hingegen unterminierten das Bankensystem und bremsten dadurch das Wirtschaftswachstum. Helikoptergeld werde indes nicht eingeführt, prophezeit der an der University of California lehrende Ökonom und Wirtschaftshistoriker. Eichengreen weilte auf Einladung der Analystenvereinigung CFA Society in Rüschlikon.

Zur PersonBarry Eichengreen ist Professor für Wirtschafts- und Politikwissenschaften an der University of California in Berkeley, wo er seit 1986 lehrt. Der zur Elite seiner Zunft zählende Ökonom ist spezialisiert auf Währungssysteme, Finanzkrisen und die Wirtschaftsgeschichte. Gemäss seiner Analyse hat die schnelle Reaktion auf die Krise 2008 schlimmere Auswirkungen verhindert. Die schwache Erholung war aber nicht zwangsläufig, sondern hätte durch bessere Politik vermieden werden können. Eichengreen ist Autor von Leitartikeln für die «Finanz und Wirtschaft».Herr Eichengreen, Zentralbanken und ­Regierungen scheinen sich weiter durch­zuwursteln. Wohin steuert die Welt?
Es wird tatsächlich dahingewurstelt. Viele Leute erwarten dramatische Reaktionen auf das langsame Wachstum der Weltwirtschaft. Ihr aktueller Favorit ist Helikoptergeld, doch das ist aus politischen Grün-den unwahrscheinlich. Wo möglich, wird künftig Fiskalpolitik massvoll eingesetzt.

Die Staatsschulden sind bereits sehr hoch.
In Italien und Spanien wird das staatliche Defizit etwas grösser oder der Überschuss leicht geringer. Die USA steigern womöglich die Infrastrukturausgaben. In Japan wird die Mehrwertsteuer vermutlich erst später erhöht. Aber es gibt keine dramatische Änderung der Wirtschaftspolitik.

Sind zaghafte Massnahmen ausreichend?
Durchwursteln ist machbar. Es ist nicht optimal, aber möglich, falls die Weltwirtschaft weiterhin wächst. Fällt die Wirtschaft hingegen in eine Rezession, dieses Jahr oder auch später, dann ist Durchwursteln nicht mehr gut genug. Ich sage zwar keine Rezession vorher, aber die Gefahr bereitet mir Sorgen. Denn es fehlt der politische Wille, mehr zu tun. Die Zentralbanken haben die Zinsen auf null gesenkt und die Regierungen sind abgeneigt, in der Fiskalpolitik etwas Einschneidendes zu unternehmen. Damit wird eine nächste Rezession äusserst schwerwiegend.

Würden die Notenbanken selbst in einer Rezession kein Helikoptergeld einführen?
Helikoptergeld sind de facto Staatsausgaben auf Kredit, finanziert von der Zentralbank. Das wäre Fiskalpolitik durch die Hintertür. In einer Rezession müssten die Regierungen das anerkennen und sagen: «Wir, eure gewählten Repräsentanten, übernehmen die Verantwortung für ­höhere Staatsausgaben oder geringere Steuern.» Anstelle von: «Wir lehnen jegliche Verantwortung ab und überlassen die Fiskalpolitik den nicht gewählten Technokraten der Zentralbank.» Letzteres wäre politisch nicht tragfähig.

Warum nicht, falls es hilfreich wäre?
Es gäbe starken politischen Widerstand. In Deutschland wird Helikoptergeld mit Hyperinflation gleichgesetzt. In den USA würde Helikoptergeld als endgültiger Beweis dafür betrachtet, dass die Notenbank Fed dazu tendiert, ihre gesetzlichen Schranken zu überschreiten. Allenfalls in Japan mag Helikoptergeld denkbar sein, aber sicher nirgendwo sonst.

Nun wächst die Wirtschaft, und die Finanzkrise ist bereits acht Jahre her. Ist die ­Konjunktur wirklich zu schwach, um ­höhere Zinsen zu verkraften?
Absolut. Viel Aufmerksamkeit richtet sich darauf, ob die US-Notenbank den Leitzins einen Viertelprozentpunkt hinaufsetzt. Das allein macht keinen grossen Unterschied. Aber die, die die Zinsen normalisieren wollen, denken an eine Serie von Zinserhöhungen, die letztlich auf ein normales Niveau um 4% führt. Dafür ist die Weltwirtschaft zu fragil. Das globale Wachstum ist dieses Jahr auf dem tiefsten Stand seit der Krise.

Herrscht immer noch Deflationsgefahr?
Die Bedrohung ist noch nicht gänzlich überstanden. Das Fed sollte zuwarten, auch wenn die US-Wirtschaft eine geringe Zinserhöhung wohl verkraftet. Aber es wäre ein Fehler, in den USA eine Serie von Zinserhöhungen zu starten und ein noch grösserer Fehler für die Europäische Zentralbank und die Bank of Japan.

Deflation ist nicht immer schlecht.
Historisch gab es Zeiten mit Deflation und robustem Wirtschaftswachstum und solche mit Deflation, Rezession und Krisen. Manche Leute bauschen die Vorherrschaft schlechter Deflation auf. Wird sie von einem positiven Angebotsschock verursacht, etwa von steigender Produktivität, besteht kein Problem. Doch es wird wohl niemand argumentieren, seit der Finanzkrise habe es solch einen positiven Schock gegeben. Es gab einen negativen Nachfrageschock, und die Geschichte zeigt, dass das äusserst schädlich sein kann.

Die Inflation ist weit weg vom Ziel der Notenbanken von 2%, doch sie beharren ­darauf, vor allem die Europäische Zentralbank. Ist das glaubwürdig?
Wer ein Ziel ausruft und dann nur halbherzige Massnahmen trifft, verliert an Glaubwürdigkeit. Man sollte entweder kein Ziel verkünden oder aber wirklich alles Notwendige tun, um es zu erreichen –Whatever it takes, wie EZB-Präsident Mario Draghi sagt. In den USA unternahm das Fed drei Runden von Anleihenkäufen, Quantitative Easing. Erst mit QE3 stieg die Inflation Richtung 2%, weil es eine unbefristete Verpflichtung war. Das Fed sagte, es mache so lange weiter, bis der erwünschte Effekt eintritt. Jetzt, endlich, ist auch die EZB eine unbefristete Verpflichtung eingegangen, Wertpapiere auch nach September zu kaufen, falls die Inflation nicht zunimmt. Wenn also Zentralbanken nicht reüssieren, müssen sie mehr tun – und wir müssen Geduld haben.

Negative Leitzinsen sollen helfen, das­ ­Inflationsziel zu erreichen.
Wir versuchen immer noch herauszufinden, wie Negativzinsen wirken. Die bisherige Evidenz ist nicht positiv. Besonders dramatisch ist der Fall Japan, dort war die Einführung von Negativzinsen verbunden mit einer Abnahme der Inflation und des Wirtschaftswachstums sowie einer Erstarkung des Yens – geradezu verkehrt.

Weshalb reagierten die Märkte in Japan ­andersrum als erwartet?
Negativzinsen sind schlecht für die Zinsmarge und die Profitabilität der Banken und damit für die Kreditvergabe. Das ist ein ernsthaftes Problem. Wird das Bankensystem beschädigt, wächst die Wirtschaft nicht. Soll Deflation wirklich bekämpft werden durch eine Stimulierung der Nachfrage und der Wirtschaft, indem die Unterstützung durch das Bankensystem zerstört wird? Meiner Meinung nach sind Negativzinsen widersinnig und kontraproduktiv. Volkswirtschaften können ohne funktionierendes Bankensystem nicht wachsen, und dazu stehen Negativzinsen im Widerspruch. In Japan ist der starke Yen ein Symptom der Deflation.

Weder Negativzinsen noch Helikoptergeld – was können die Notenbanken tun?
Sie können börsengehandelte Fonds, ETF, kaufen, ebenso Hypotheken und weitere Wertschriften. Das hat nicht die gleichen negativen Auswirkungen auf die Banken.

Sollte die Schweizerische Nationalbank die Negativzinsen aufheben?
Ich würde der SNB (SNBN 1101 -0.63%) empfehlen, mehr auf den Kauf von Wertschriften sowie auf Forward Guidance – die verbale Beeinflussung der Erwartungen – und weniger auf Negativzinsen zu setzen. Wertschriftenkäufe sind die bessere Option.

Die SNB gab den Euromindestkurs auf, um sich zu befreien, interveniert aber weiterhin, um den Franken zu schwächen. Kann sie eigenständig agieren?
Flexible Wechselkurse isolieren nicht vom Rest der Welt. Einst argumentierten Ökonomen, mit freien Wechselkursen könne ein Land seine Geldpolitik bestimmen. Das stimmt nicht. Viel Kapital kann zufliessen, und das kann Blasen in Vermögenswerten verursachen und den Exportbranchen heftig schaden. Für ein Land wie die Schweiz gibt es keine perfekte Lösung, und für eine Zentralbank wie die SNB gibt es keine perfekte Geldpolitik. Das ist die Realität im 21. Jahrhundert für eine recht kleine und offene Volkswirtschaft.

Falls die EZB noch mehr tut, wie Sie empfehlen, müsste dann die SNB nachziehen?
Ich denke schon. Sorgen um die Bilanz einer Zentralbank sollten nicht bestimmen, was sie tut. Die Währungshüter sind verantwortlich, um als erste Priorität das Inflationsziel zu erreichen. Das Wirtschaftswachstum folgt an zweiter Stelle, die Bilanz kommt erst danach. Sie ist nicht irrelevant, darf aber nicht Priorität haben.

Im Unterschied zu EZB und Fed hat die SNB einen hohen Fremdwährungsbestand und trägt ein grosses Wechselkursrisiko. Gibt es eine Limite für die Grösse ihrer Bilanz?
Nein, es gibt keine relevante Limite. Die Befürchtung ist, dass eine Zentralbank auf ihren Devisen oder Hypotheken Verluste erleidet und das Eigenkapital negativ wird. Auch dann kann sie aber eine Zeit lang weiter agieren – zahlreiche Zentralbanken haben das getan. Drei Beispiele sind Chile und Israel mit einer guten und Tschechien mit einer einigermassen guten Geldpolitik.

Könnte die SNB negatives Eigenkapital auch längerfristig aushalten?
Das ist wie ein Schwimmer, der taucht und die Luft anhält. Man kann das eine Weile tun, dann muss man Luft holen. Um die Glaubwürdigkeit zu erhalten, ist wieder positives Eigenkapital nötig. Aufbauen lässt sich das dank der Seignorage, dem Zinsgewinn – Zentralbanken schaffen kostenlos neues Geld und investieren in zinstragende Aktiven. Im schlimmsten Fall kann der Staat die Zentralbank rekapitalisieren. In der Schweiz soll das Geld eigentlich in die andere Richtung fliessen, von der SNB zu den Kantonen. Im Worst Case könnten diese Transfers umgedreht werden.

Die SNB hat nur noch10% Eigenkapital.
Deshalb kann eine geringe Änderung der Wechselkurse zu negativem Eigenkapital führen. Ist das eine Katastrophe? Die Antwort ist Nein. Gibt es eine Lösung? Ja, zuerst mit Seignorage und dann mit Kapital der öffentlichen Hand.

Das sind keine erfreulichen Aussichten.
Was ist die Alternative? Den Franken aufwerten lassen ist keine Lösung. Die Schweiz erholt sich von der globalen Finanzkrise und ihre Zentralbank hat eine enorme Bilanz, was sie lieber nicht hätte. Die USA erholen sich ebenfalls, das Fed hat zwar keine Devisen, aber gewisse langlaufende Wertschriften, die Verluste einbringen könnten. Das ist schlicht ein weiterer Beweis dafür, dass Finanzkrisen teuer sind – jemand muss die Rechnung bezahlen. Weil wir stark auf die Geldpolitik gebaut haben, um der Krise zu begegnen, landet die Rechnung bei den Zentralbanken. Und falls das ein Problem ist, sollten wir als Steuerzahler dafür bezahlen.

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